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11.
In der Gewalt des Kalifa

Die Nachricht vom Tode des Mahdi, des Propheten oder Erlösers, wie ihn seine Anhänger nannten, des Mutamahdi oder falschen Propheten, wie er bei seinen Gegnern hieß, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Omderman und erregte die größte Bestürzung.

Bald drang sie auch in die entlegene Hütte Siegers, wo sie ganz anders aufgenommen wurde.

»Wer hätte das gedacht!« rief Helling aus: »Jetzt, wo er auf dem Gipfel seiner Macht stand und sich Ägypten zu unterwerfen gedachte, stirbt der Mann nach einer Krankheit von wenigen Tagen! Nun wird auch sein Werk bald zerfallen, seine Anhänger werden sich zerstreuen und dann schlägt auch für uns die Stunde der Befreiung.«

»Ob der Tod ihres Oberhauptes die Derwische von ihrem Wahne heilen wird, bezweifle ich sehr,« wandte Sieger ein: »Immerhin dürfte wohl zunächst eine solche Verwirrung unter ihnen entstehen, daß wir nicht mehr so streng überwacht werden und ein unbemerktes Entkommen möglich sein kann, falls wir die günstigste Gelegenheit ungesäumt benutzen. Seien wir also auf der Wacht und bereiten wir alles zur Flucht vor.«

Nur zu bald jedoch sollten unsere Freunde erkennen, daß sie nur vom Regen in die Traufe gekommen waren und ihr Schicksal sich fortan gefährlicher als zuvor gestalten sollte. Die Aussicht auf ein Entweichen wurde seit Mohamed Achmeds Tode geringer denn je.

Der Mahdi wurde gleich an seinem Todestage in seinem Hause zu Omderman begraben. Diese Stätte wurde nun das Wallfahrtsziel der Mohamedaner des Sudans und trat für sie an Stelle der Wallfahrten nach Mekka zum Grabe des Propheten Mohamed. Schon bei seinen Lebzeiten war ja Mohamed Achmed für seine Anhänger der Prophet Allahs, der ihnen mehr galt als Mohamed selber.

Abdallah Walad Mohamed oder Abdullahi, der Kalifa, verlor jedoch keine Zeit. Kaum war sein Vetter gestorben, als er die vornehmsten Häuptlinge berief und sie folgendermaßen anredete:

»Es hat Allah in seiner Weisheit gefallen, unser verehrtes Haupt, den großen, unbesiegbaren Mahdi el Monteser, in sein Paradies abzuberufen. Sollen wir nun den Mut verlieren und jeder seine eigenen Wege gehen, so daß sein Reich zerfällt und sein gewaltiges Werk dem Untergange geweiht wird? Das wäre Gottes Wille nicht! Erinnert euch, als der Prophet Mohamed starb, sollte das seinem Werk keinen Schaden bringen, vielmehr traten seine Nachfolger, die Kalifen, an seine Statt, denn Gott gab ihnen den Auftrag und die Macht, sein Werk fortzusetzen. Sie wurden seine Erben und haben die Lehre des Propheten ausgebreitet, die Ungläubigen bekämpft und mächtige Reiche erobert. So soll es auch jetzt sein nach Allahs Willen. Wir sollen das Werk und die Eroberungen des Mahdi fortsetzen, bis alle Völker der Welt sich beugen unter dem allein wahren Glauben.

»Ihr wisset, daß Mohamed Achmed mich zu seinem Kalifa ernannt hat. Ich bin sein von ihm selbst erwählter Stellvertreter und Nachfolger nach Allahs Willen. Darum säumet nicht, mich als solchen anzuerkennen, wenn ihr nicht den Zorn des Allerhöchsten herausfordern wollt. Huldiget mir als eurem Herrn und leistet mir das Gelübde des Gehorsams und der Treue. Bedenket euch nicht lange, denn jedes Zögern bringt die Gefahr verderblicher Spaltungen, die euch allen nur Schaden bringen könnten.«

Hierauf bestieg der Kalifa den Stuhl, von dem herab der Mahdi seine Ansprachen gehalten und seine Gesichte und Weissagungen verkündigt hatte, und alle Emire und vornehmsten Häuptlinge, so wie sie um ihn versammelt waren, leisteten ohne Widerspruch den verlangten Eid:

»Wir glauben an Gott, an seinen Propheten Mohamed und an den Mahdi. Wir schwören bei der Einheit Gottes, dir zu gehorchen und treu zu bleiben, nicht zu stehlen, nicht Ehebruch zu treiben, nicht zu lügen oder zu verleumden. Wir geloben, der Welt zu entsagen, unser Dasein Gott zu weihen, den heiligen Krieg nicht zu fliehen, – alles aus Liebe zu Gott, um das Paradies zu verdienen!«

Die Nachricht von der Anerkennung des Kalifa Abdullahi als rechtmäßigen Nachfolger des Mahdi wurde schnell im ganzen Sudan bekannt gemacht, und ein Stamm um den anderen erklärte seine Zustimmung.

Das rasche, besonnene Zugreifen des Kalifa hinderte so von Anfang an den Ausbruch irgendwelcher Unruhen und Spaltungen, die des Mahdi Tod hätten befürchten lassen können. Aber eben dadurch wurden auch die Hoffnungen unserer Freunde vereitelt. Ihre Bewachung wurde noch schärfer, als sie bisher gewesen war, und an eine heimliche Flucht war vorerst nicht zu denken.

Für gewöhnlich entfernten sie sich nicht weit von ihrer Hütte, in der sie ein beschauliches Leben führten und nur den Mangel an Tätigkeit schmerzlich empfanden. Umso eifriger widmete sich Sieger der Erziehung seiner Kinder, denen er auch die Mutter zu ersetzen hatte, und Helling, dem die lieblichen Kleinen ans Herz gewachsen waren, unterstützte ihn nach Kräften.

Besonders lag es dem Ingenieur am Herzen, die Seinen im christlichen Glauben fest zu gründen, damit sie nicht in Gefahr kämen, ihn zu verleugnen, wenn die Versuchung an sie herantreten sollte. Wer konnte wissen, wie lange diese Gefangenschaft im Sudan dauern würde, und ob die Kinder nicht frühzeitig ihres Vaters und ihres väterlichen Freundes beraubt würden? Dann sollten sie so gefestigt dastehen, daß sie selbständig ihren Glauben bezeugen, bewahren und, wenn es sein sollte, für ihn sterben konnten.

Von seiner Bibel hatte sich Sieger nie getrennt: sie war das einzige Buch, das er aus seinem geplünderten Hause in Khartum noch hatte retten können. Da wurde täglich daraus vorgelesen, und der Hausvater erklärte das Gelesene in einer für die Kinder leicht verständlichen Weise. Sie fragten auch viel mit lebhaftem Interesse und wurden dann über alles belehrt, was sie noch wissen wollten oder nicht recht begriffen hatten.

Helling nahm eifrig Teil an diesen unterhaltenden und fördernden Unterrichtsstunden und äußerte frei die Gedanken, die ihm dabei kamen und die stets einen wertvollen Beitrag zur Erkenntnis des Gegenstandes lieferten.

»Nichts vermisse ich so sehr, zumal bei meiner erzwungenen Untätigkeit,« sagte Sieger zu seinem Freund, »als den Mangel an Büchern. Welcher Genuß und welcher Gewinn, wenn wir jetzt Shakespeare, Schiller, Goethe, Homer und andere Klassiker zur Verfügung hätten, vor allem auch geschichtliche Werke, Reisebeschreibungen und allerlei wissenschaftliche Bücher. Allein, da mir nur ein einziges Buch vergönnt ist, so bin ich voll dankbarer Freude, daß dieses eine die Heilige Schrift ist. Wenn man jahrelang auf die gleichen Lesestoffe angewiesen ist, so müssen einem selbst die großartigsten Erzeugnisse menschlichen Geistes langweilig und zuletzt zuwider werden. Hat man sie ein dutzendmal gelesen, so bieten sie einem kaum etwas Neues mehr und man muß ihrer überdrüssig werden. Ebenso ist es mit den wissenschaftlichen Werken; so wertvolle und interessante Kenntnisse sie einem vermitteln, es kommt schließlich die Zeit, wo man sie ganz inne hat, geradezu auswendig kann, und dann hat es keinen Zweck mehr, sie wieder und wieder zu lesen, geschweige denn, daß man noch Vergnügen daran finden und Genuß davon haben könnte.

»Die Bibel ist das einzige Buch der Weltliteratur, das demjenigen, der es mit offenem Gemüt und lernbegieriger Seele genießt, niemals langweilig werden kann, weil es unergründlich und unerschöpflich ist. Immer entdeckt man wieder neue Schätze darin, und neue Erkenntnisse gehen einem auf. Das ist für mich der untrüglichste Beweis, daß wir hier nicht bloßes Menschenwerk, sondern Gottes Geist, göttliche Offenbarung finden. Halten wir etwa den Koran, die Lehren Buddhas oder andere angebliche Offenbarungen dagegen, so tiefsinnig und auch sittlich erhaben sie oft sein mögen, so kommt uns ein Vergleich geradezu lächerlich vor.«

»Ich stimme dir hierin vollkommen bei,« sagte Helling, denn die Freunde hatten das trauliche Du statt des steifen Sie eingeführt: »Ich nehme dabei an, daß du nicht jedes einzelne Buch der Heiligen Schrift im Auge hast; denn da kommen zum Beispiel in den Büchern Mose manche Gesetzesvorschriften oder Angaben über die Geräte und Ausmessungen der Stiftshütte, sowie endlose Geschlechtsregister, die uns nicht mehr viel zu sagen haben. Auch rein geschichtliche Berichte, so unterhaltend und lehrreich sie sind und so hoch sie zum Teil alle anderen Geschichtsurkunden überragen, könnten auf die Dauer den Geist nicht befriedigen, wenigstens soweit es sich um das Alte Testament handelt. Was jedoch die Psalmen, die Propheten und das Neue Testament betrifft, so unterschreibe ich, was du gesagt hast, aus vollster Überzeugung: kein Dichter erreichte je diese Poesie und kein Genie diesen Geist. Wie arm und armselig sind die Toren, die hier den Buchstaben unter die Lupe nehmen und dabei nichts spüren von dem gewaltigen Wehen des ewigen Geistes.«

Josef lernte mit größtem Eifer zugleich mit den Kindern. Oft aber erzählte er ihnen auch von seiner Jugendzeit und der herrlichen Schwäbischen Alb, von seinen Fahrten und Abenteuern, oder wußte er ihnen allerlei Märchen und Geschichten mitzuteilen. Ihm lauschten sie besonders gern, und auch Sieger und Helling liehen ihm willig das Ohr. In seiner Einfalt verstand er es, ohne Absicht und Mühe, alles so frisch und lebendig darzustellen, daß auch oft Wiederholtes immer neue Reize offenbarte.

Wenn er sich jedoch zu wissenschaftlichen Belehrungen verstieg, und das tat er nicht ungern, dann wirkte sein Vortrag öfters erheiternd auf die älteren Zuhörer.

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So erklärte er zum Beispiel den Kindern die leuchtenden Sternbilder, wenn sie abends vor der Hütte saßen. Er selber hatte sich dieselben wißbegierig in den Wildnissen Amerikas von seinem Herrn nennen lassen. Aber so mancher fremdartige Name hatte in seinem Gedächtnis eine näherliegende Form angenommen. Da war es köstlich, seiner Weisheit zu lauschen!

»Sehet,« sagte er wichtig: »Die zwei hellen Sterne dort sind die Zwillinge Kaspar und Pollack. Rechts davon, die Sterne, die einen spitzen Winkel bilden, Regenschirm (er meinte die Regengestirne) im Stier. Sie sehen ja gerade so aus wie ein halb aufgespannter Regenschirm, aber ohne Stiel. Ich habe freilich sonst noch nie einen Stier mit einem Regenschirm gesehen, doch bei den Sternen kommen solch seltsame Dinge vor, gerade wie in den Märchen, wie zum Beispiel der Spickaal (Spica) in der Jungfrau, die aber jetzt nicht zu sehen ist. Aber im Regenschirm seht ihr einen hellen roten Stern, das ist der Alte Baron (Aldebaran) und darüber der glänzende weiße ist die Kapelle (Capella) im Fuhrmann. Deswegen heißt es auch in dem schönen Lied: ›Droben stehet die Kapelle‹.

»Aber jetzt müßt ihr auf die andere Seite sehen. Den großen Bären kennt ihr ja schon. Weiter links unten ist wieder ein großer roter Stern, das ist der Arthur (Arctur) im Boote (Bootes). Wahrscheinlich fährt er mit dem Boot über den Neckar, denn da ist gleich auch ein Stern, der Neckar heißt. Und neben dem Boot ist ein Halbkreis, wie ein königliches Diadem. Es sind kleinere Sterne, aber sie schimmern wie Edelsteine: das ist die Krone, und der hellste in der Mitte unten ist die Emma (Gemma) in der Krone. Ich denke, die Krone ist sozusagen das Wirtshausschild, und die Emma ist die Wirtstochter, denn bei mir zu Haus war auch gerade eine Emma in der Krone, und sie war die Tochter vom Kronenwirt, und auch ganz schön. Und so kann es auch schon in alten Zeiten eine Emma in der Krone gegeben haben, die berühmt war, und die man dann zur Ehre unter die Sterne versetzte, denn das tat man damals gern, wovon viele Sterne ihre Namen haben.«

So zeigte sich der biedere Josef als echter Mann der Wissenschaft, denn die Wissenschaft sucht immer nach einer natürlichen Erklärung, und genau so suchte er auch nach einer natürlichen Erklärung für die ihm so merkwürdig erscheinenden Namen der Sternbilder und der Sterne, und daß sein heller Kopf und scharfer Geist eine solche auch spielend fand, beweist die Probe aus seinem Vortrag, die wir soeben vernahmen.

Josef kam öfter in die Stadt, denn er besorgte die Einkäufe auf dem Markt. Er verstand schon einiges Arabisch und konnte sich zur Genüge verständlich machen.

So erblickte ihn eines Tages der Kalifa und erinnerte sich gleich der Deutschen, die geholfen hatten, das Haus des Petrus Polus so wirksam zu verteidigen.

Abdullahi machte sich gern die Dienste eines jeden zunutze, der ihm irgendwelche Vorteile bringen konnte. So hatte er Petrus Polus als Schreiber und Rechner bei sich angestellt, sobald er erfahren hatte, daß er Schreiber beim Finanzamt gewesen war. Er war für ihn eine wertvolle Kraft, denn die Araber pflegen im Rechnen schwach zu sein, wenngleich ihre Ahnen die Algebra erfunden haben.

Nun wußte der Kalifa, daß die Europäer, vor allem die Deutschen, in manchen Dingen erfahren sind, von denen ein Beduine oder Sudanese nichts versteht. Konnte er da nicht eine nützliche Hilfskraft finden, die es töricht gewesen wäre, brach liegen zu lassen?

Er ließ daher Josef sofort vor sein Antlitz befehlen.

Mit gemischten Gefühlen folgte der Schwabe diesem ehrenvollen aber bedenklichen Befehl, denn er traute dem Tyrannen nichts Gutes zu.

»Wie geht es deinem Herrn, Jussuf?« fragte ihn der Kalifa mit aller Leutseligkeit, die er bei seinem finstern Wesen aufzubringen vermochte.

»Gut, Herr! So lange ihm die Sonne deiner Gnade scheint,« erwiderte der Diener, der sich in jeder Lage zurechtzufinden wußte und sich sagte, daß ein Tyrann am besten mit höflichen und schmeichelhaften Reden zu behandeln sei.

»Was versteht Abd el Ziger? Was für ein Amt hat er bei den Ungläubigen versehen?«

Der Herrscher übersetzte jeden ausländischen Namen grundsätzlich, oder weil er ihn nicht anders aussprechen konnte, ins Arabische: so nannte er Josef »Jussuf« und Albert Sieger »Abd el Ziger«.

Die Antwort, die er erhielt, war ihm jedoch unverständlich, denn sie lautete: »Er war Ingenieur.«

Er fragte daher weiter: »Was bedeutet das?«

»O Herr, das ist einer, der alles kann: mein Herr weiß sowohl Brot zu backen, als Salz zu gewinnen oder Maschinen und Kanonen zu bauen.«

Josef bedachte in der Freude, die Fähigkeiten seines Herrn in hellstem Lichte leuchten zu lassen, nicht, in welche Verlegenheiten er den guten Sieger bringen konnte.

»Gut,« sagte der Kalifa, »hast du wahr gesprochen, so soll dein Herr es gut haben: er soll über Sklaven gebieten, die nach seinen Befehlen alle Arbeiten ausführen werden, die ich ihm auftrage.«

Gleich darauf mußte Sieger vor dem Kalifa erscheinen.

»Kannst du Kanonen bauen?« frug Abdullahi streng.

»Herr!« erwiderte der Ingenieur, »solche künstliche Arbeiten lassen sich nicht ausführen wie ein Hausbau. Ich weiß wohl, wie Kanonen gemacht werden, aber zur Ausführung bedarf es großer Fabrikbauten und zahlreicher Hilfsmaterialien, so daß die Vorarbeiten allein Jahre in Anspruch nähmen.«

»Malesch! (tut nichts!) Ich will Kanonen! Wir haben zwar den Engländern viele abgenommen; aber alle großen Städte meines Reiches, besonders an den Grenzen, sollen mit Kanonen versehen werden, daß ich die Geschütze nicht von einem Ort fortnehmen muß, wenn ich an einem anderen Krieg führe. Und warum sollten wir nicht das ebensogut herstellen können, was die Ungläubigen verstehen, die wir besiegt haben? Beginne also gleich mit dem Bau deiner Werkstätten.«

»O Herr, das geht nicht hier in Omderman,« erwiderte Sieger, in welchem die Hoffnung aufblitzte, er könne auf diese Weise sich aus der Nähe des Kalifa entfernen und leichter Gelegenheit zur Flucht finden. »Da brauche ich zunächst Wasserkraft.«

»Allah ist groß! Was nennst du die Kraft des Wassers?«

»Das ist ein Wasser, das von steilen Bergen hoch herabstürzt.«

»So suche den Platz: du wirst ihn im Westen, in den Margayabergen finden.«

Als Sieger, in seine Wohnung zurückgekehrt, Leutnant Helling berichtete, was der Kalifa von ihm verlangte, fuhr dieser auf: »Du wirst doch den Schurken nicht mit Geschützen versehen?«

»Nur ruhig!« lachte der Ingenieur, »eine Weigerung würde mich das Leben kosten, und Not bricht Eisen: haben doch sogar Missionare dem grausamen Negus von Abessinien, Theodorus II., Mörser gebaut, um ihr Leben zu retten. Aber bedenke: bis ich einen Hochofen und die ganze Fabrikanlage zustande gebracht habe, vergehen Jahre; sodann wird mir die Kanonenfabrikation nicht sobald gelingen, damit habe ich mich noch nie befaßt; endlich, brächte ich je ein brauchbares Geschütz zustande, so werde ich schon dafür sorgen, daß es nach einigen Probeschüssen völlig unbrauchbar wird. Auf der anderen Seite werden meine Bemühungen und zeitweisen Erfolge mich im Vertrauen des Kalifen befestigen; ich werde mehr Freiheit genießen, und so werden wir im Laufe der Jahre Gelegenheit zur Flucht finden, wenn nicht die ganze Mahdia vorher zugrunde geht und eine neue Revolution oder eine europäische Armee uns befreit.«

»So lasse ich mir's gefallen, Abd el Ziger,« sagte Helling beruhigt.

Unter Begleitung einiger Leute des Kalifa zog der Ingenieur anderen Tags aus, um einen geeigneten Platz zur Fabrikanlage ausfindig zu machen.

Am Chor (Gebirgsbach) entlang gehend, der bei Omderman sich in den Nil ergießt, erreicht man in etwa zweistündigem, zuerst westlichem, dann nördlichem Marsche das tiefeingeschnittene Quelltal des Baches im Margayagebirge. Im Hintergrunde der Schlucht stürzt sich das Wasser von einer etwa fünfzig Meter hohen, überhängenden Felswand frei herab.

Mit großem Interesse besichtigte Sieger das wilde Felstal, das in einem Kessel endete. Rings umher war es von himmelhohen, stark zerklüfteten Felswänden eingeschlossen. Felsblöcke, Geröll und steinige Abhänge gestatteten an einzelnen Stellen ein Emporklimmen bis etwa zu halber Höhe, dann aber erhoben sich die drohenden Wände so schroff und teilweise überhängend, daß ein weiterer Aufstieg dem verwegensten und geübtesten Bergsteiger unmöglich gewesen wäre.

Wer in dieser Kluft durch Versperrung des einzigen schmalen Zugangs eingeschlossen worden wäre, hätte keine Aussicht gehabt, über die Höhen entkommen zu können. Insofern bot der Platz dem Ingenieur anscheinend keinerlei Gelegenheit zu einer heimlichen Flucht, wenn er hier seine Bauten anlegte. Dennoch blitzte ein kühner Gedanke in seinem unternehmenden Geiste auf, und er erwog Möglichkeiten, die einem anderen wohl als Unmöglichkeiten erschienen wären.

Jedenfalls ließ sich kein besserer Platz für die geplanten Werke denken, und Sieger erklärte, dies sei ein ungemein günstiger Ort für die Fabrikanlage, insbesondere lasse sich die ungeheure Wasserkraft nach den verschiedensten Richtungen hin ausnützen: sie erspare kostspielige Maschinen, Betriebsmittel und tausende von Arbeitskräften.

Als der Ingenieur dem Kalifa hierüber Bericht erstattete, begleitete ihn dieser persönlich in das Margayatal und nahm die Schlucht eingehend in Augenschein, wobei er sich genau beschreiben ließ, wie Sieger sich die Anlage dachte.

»Hier am Eingang des Tales,« sagte Sieger, »würde ich die Fabrik erbauen. Sie wird von einer Felswand zur anderen reichen und somit die Kluft völlig abschließen. Dort, zur Linken, zieht sich ein senkrechter, ziemlich regelmäßiger Einschnitt in dem Felsturm empor, ein natürlicher Kamin, den ich als Schlot für den Hochofen benutzen kann. Er braucht nur ausgemauert und auf der offenen Seite zugemauert zu werden, und er ersetzt vollkommen einen freistehenden Kamin, dessen Errichtung ungleich größere Schwierigkeiten und Zeitaufwand kosten würde. Der Wasserfall dient mir zur Erzeugung der elektrischen Kraft, und seine geringe Entfernung von der Fabrik erspart mir eine Fernleitung. Das Tal bietet überflüssig Raum für die nötigen Nebenbauten und Schuppen, seine Geröllhalden mit den zahllosen kleineren und größeren Blöcken liefern das nötige Baumaterial, ohne daß wir eines Steinbruchs benötigen: kurz, alle Vorteile finden sich hier vereinigt, und die Umstände sind so günstig, wie man sie nur wünschen kann.«

»Und die Felswände sind in der Tat unersteiglich,« fügte der Kalifa hinzu, dessen persönliche Besichtigung mehr den Zweck hatte, sich zu überzeugen, daß sein unentbehrlicher Kanonenfabrikant bei genügender Überwachung keine Gelegenheit zur Flucht fände.

»Gewiß!« bestätigte Sieger, der die Gedanken des Tyrannen erriet: »Das Tor meines Fabrikgebäudes wird den einzig möglichen Ausgang aus der Felsenschlucht bilden, wie es auch ihr einziger Zugang sein wird.«

Der Kalifa genehmigte nun den Fabrikbau an dieser Stelle, ließ aber den Ingenieur während seiner ganzen Tätigkeit hier draußen so streng überwachen, daß an irgendwelche Fluchtpläne vorerst nicht zu denken war.

Ganz in der Nähe, bei El Fetaihat, fanden sich reiche Tonlager. Hier richtete Sieger zunächst eine große Ziegelei ein, um Backsteine und Dachziegel in großen Mengen herstellen zu lassen, die das Baumaterial für den Hochofen und die Gebäude abgaben, soweit diese nicht massiv aus Felsgestein errichtet waren. Die starke Sonnenhitze des Sudan gestattete ein rasches Trocknen der Erzeugnisse des Ziegelwerks und machte jeden Ofen zu ihrer Bereitung überflüssig.

Auf der anderen Seite des Chors, bei Abu Zeriba, wurde rein weißer Sand entdeckt, der sich zur Herstellung von Glaswaren als vorzüglich geeignet erwies. Hier erstellte der Ingenieur eine Glashütte, deren erste Erzeugnisse dem Kalifa eine hohe Meinung von seiner Kunst und Leistungsfähigkeit beibrachten.


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