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Im Hofraum zwischen der Fabrik und der Sperrmauer traf Hassan auf Ali bin Said, der sein freiwilliges Wächteramt getreulich ausübte und eben einen seiner zahlreichen Rundgänge gemacht hatte, um festzustellen, daß nirgends etwas Verdächtiges zu sehen war.
Er kam soeben aus dem Wärterhaus, wo Hussein über Unwohlsein klagte und ihn gebeten hatte, seinen Herrn zu rufen, der als großer Hakim oder Arzt galt. In der Tat hatte sich der Ingenieur einige Übung in der Behandlung der gewöhnlichsten im Sudan auftretenden Krankheiten angeeignet und besaß eine reichhaltige Hausapotheke, die in einem Kasten an der Wand seines Arbeitszimmers hing. Sie war stets sorgfältig abgeschlossen, da sie auch einige gefährliche Mittel enthielt, namentlich Betäubungsmittel für den Fall einer notwendig werdenden Operation. Unglücksfälle in der Fabrik gehörten zwar zu den größten Seltenheiten, weil Sieger immer die peinlichste Vorsicht übte und einschärfte. Aber ein oder das andere Mal gab es doch Verletzungen, die etwa die Abnahme eines Fingers oder die Entfernung eines tief eingedrungenen Splitters notwendig machten. Für solche Fälle war der Ingenieur mit allen nötigen Instrumenten und aseptischen Mitteln versehen, hatte sich auch die nötigsten chirurgischen Kenntnisse erworben.
Während Hassan durch das Torhaus sich entfernte, begab sich Ali zu Sieger, der sofort mit ihm ging, nach dem Erkrankten zu sehen.
Er fand Hussein von heftigem Fieber befallen, wie er durch Messung feststellen konnte, denn sein Fieberthermometer hatte er vorsorglich mitgenommen.
»Geh und hole meine Hausapotheke,« befahl er Ali: »Josef wird sie dir geben.«
»Fühlst du dich schon länger krank?« fragte er Hussein, während Ali eilte, das Verlangte herbeizuschaffen.
»Meine Glieder waren matt und ein Nebel ist in meinem Kopf seit gestern; aber erst seit einer Stunde ist die Hitze in meinen Leib gefahren.«
»Dann werden wir dich wohl bald geheilt haben durch einige Gaben Chinin: rechtzeitig angewendet, pflegt es Wunder zu wirken. Leider habe ich selber mit der Behandlung des Fiebers, das mich schon mehrere Tage plagt, zu lange zugewartet, sonst wäre ich es gewiß gleich los geworden. Jetzt muß ich eben umsomehr von der berühmten Arznei schlucken.«
Als Ali mit dem ziemlich großen und schweren Kasten erschien, öffnete ihn Sieger mit dem Schlüssel, den er immer bei sich führte und verabreichte dem Leidenden eine kleine Menge des Heilmittels. Dann unterhielt er sich noch längere Zeit mit dem Bimbaschi Raschid, während Ali einen Gang vor die Mauer unternahm, um sich zu vergewissern, daß auch von außen keine Gefahr drohe. Er kannte Emin Gegr und wußte, daß man vor seinen tückischen Anschlägen nicht genug auf der Hut sein könne.
Der Ingenieur befand sich noch in lebhafter Unterhaltung, als Johannes kam und ihn zum Nachtessen rief.
»In einer Stunde werde ich wieder nach dem Kranken sehen,« sagte Sieger: »Gehabt Euch wohl inzwischen.«
Während des Nachtessens rief er plötzlich aus: »Jetzt habe ich meinen Arzneikasten im Wächterhaus stehen lassen und nicht einmal abgeschlossen! Nun, Ali wird ja bald zurückkehren und ihn mitbringen: die Araber werden schon so vernünftig sein, meine Kolben in Ruhe zu lassen.«
Hierin täuschte er sich freilich.
Bekanntlich ist den Mohammedanern der Genuß berauschender Getränke verboten. Viele machen sich nicht viel aus diesem Verbot und lassen sich durch die Lust leicht verführen, es zu übertreten. Andere suchen Ersatz im Rauchen von Opium oder Haschisch, die ja auch berauschend wirken, aber noch viel verheerendere Folgen zeitigen als der Alkohol. Die Frömmsten und Schlauesten jedoch suchen, sich den Genuß des verbotenen Getränkes in einer Form zu beschaffen, die es ihnen ermöglicht, ihr Gewissen zu beruhigen, nämlich in der Form einer Arznei.
Den Torwächtern war wohl bekannt, daß die Europäer den Weingeist zu den verschiedensten Zwecken benutzen, daß er in allerlei wohlriechenden »Wassern«, die oft keinen Tropfen Wasser enthalten, reichlich vorhanden ist, daß sie ihn in allerlei Zuckerwaren und Schokoladeplätzchen einzukapseln wissen, und daß auch viele ihrer Heilmittel nicht frei davon sind, wäre es auch nur der größeren Haltbarkeit wegen.
Als nun der Bimbaschi Raschid bin Karam entdeckte, daß Sieger seine Hausapotheke offen zurückgelassen hatte, sprach er:
»Allah sei gepriesen! Auch ich fühle einen Geist der Krankheit in mir. Vielleicht birgt dieser Zauberkasten ein Gegengift, das die wankenden Säulen meiner Gesundheit zu stärken und zu befestigen vermag.«
Selim und Halef beeilten sich zu versichern, daß auch sie sich nicht wohl fühlten und einer Medizin bedürften, die möglichst stark sein müsse.
»So laßt uns prüfen, was diese Kolben enthalten,« erklärte Raschid mit Würde: »Die kleinen sind nichts wert; aber die großen könnten uns heilsam sein.«
Er entstöpselte eine Flasche um die andere und roch daran mit Kennermiene, gab sie dann seinen Untergebenen weiter, die ebenfalls den daraus aufsteigenden Duft prüften. Aber da quoll nirgends der bekannte und begehrte Lebensgeist hervor: die meisten dieser Flüssigkeiten rochen geradezu abscheulich und luden nicht zum Kosten ein.
Nun eröffnete der Bimbaschi eine kleinere Flasche, deren Glasstöpsel so fest saß, daß es ziemlicher Anstrengung bedurfte, um ihn zu lösen.
Was war das für ein eigentümlicher süßlicher Geruch, der ihm aus dem Behälter in die Nase stieg! Er gab den Kolben an Selim weiter, der roch, den Kopf schüttelte und Hussein aufforderte, seine Meinung darüber zu sagen.
Dieser prüfte den unbekannten Duft eingehend. Plötzlich entfiel die Flasche seinen Händen und zerschellte auf den Steinfliesen, über die sich ihr Inhalt ergoß.
Erschrocken sprangen die beiden andern auf, um aber alsbald wieder zurückzusinken.
In diesem Augenblick kehrte Ali von draußen zurück. Ein sonderbarer Geruch strömte ihm entgegen, der ihm so widerlich erschien, daß er den Atem anhielt. Zugleich bot sich ihm ein überraschender und beängstigender Anblick: Hussein lag wie tot auf seinem Lager, Raschid, Halef und Selim ruhten ebenso starr und regungslos am Boden, als wären alle eines plötzlichen Todes gestorben.
Entsetzt rannte Ali zu Sieger, in der Eile beide Türen des Wächterhauses offen lassend.
Auf seinen stammelnden Bericht hin folgte ihm der Ingenieur sofort nach der Stätte des rätselhaften und unheimlichen Ereignisses. Ein Blick auf die zerbrochene Flasche erklärte ihm alles.
»Mein Morphiumkolben!« rief er erschrocken. »Ali, wische sofort die Nässe auf, aber halte den Atem an, sonst verlierst auch du das Bewußtsein.«
Er selber hütete sich ebenfalls, den Dunst einzuatmen, der die Luft erfüllte. Rasch untersuchte er die Betäubten und winkte dann dem Schützen, der den Lumpen, mit dem er die Flüssigkeit aufgetrocknet hatte, ins Freie warf, ihm zu folgen.
Sie gingen in die Fabrik zurück, während Sieger sagte: »Es ist ein Glück, daß du beide Türen offen ließest, sonst wären die Unglücklichen nie mehr zum Leben erwacht. Es wird lange dauern, bis sie wieder zu sich kommen, und dann wird noch eine geraume Zeit vergehen, ehe sie ihrer Sinne völlig mächtig werden. Ali, was wirst du tun, wenn wir diese uns von Allah gesandte Gelegenheit zur Flucht benutzen?«
»Dein Knecht wird euch helfen, rasch zu entfliehen, und dafür sorgen, daß eure Abwesenheit nicht so bald entdeckt wird.«
»Morgen ist Sonntag,« bemerkte der Ingenieur nachdenklich: »Da kommt kein Arbeiter in die Fabrik. Gelingt es dir, auch die Wächter zurückzuhalten, daß sie nicht nach uns sehen, so gewinnen wir einen vollen Tag Vorsprung. Sie pflegen ja überhaupt selten die Fabrik zu betreten, am wenigsten gerade Sonntags. Aber diesmal könnten sie eine Ausnahme machen, weil sie die Nacht über nicht Wache halten konnten.«
»Ali wird ihnen sagen, Abd el Ziger sei krank, denn das ist wahr: du hast das Fieber. Er wird ihnen auch sagen, sie müssen den ganzen Tag ruhen, damit das Gift ihnen keinen Schaden bringe. Dann wird er sie pflegen und ihnen die Mahlzeiten bereiten.«
»So ist es gut.«
Großer Jubel erhob sich, als Sieger den Seinigen verkündete, daß sie heute Nacht entfliehen würden, da die Wächter bewußtlos lägen in Morphiumbetäubung. Eine fieberhafte Tätigkeit begann ohne Verzug.
Es war ein Glück, daß schon alles zur Flucht vorbereitet war. Ali und Josef führten sofort fünf Kamele aus dem Stall, für jeden eines. Auf besondere Lastkamele wurde verzichtet, da kein Treiber mitgenommen wurde und Josef, der diesen Dienst hätte versehen können, auch retten sollte, damit der Ritt in höchster Eile bewerkstelligt werden könne. Die Packe mit Lebensmitteln und sonstigem Bedarf, sowie die Wasserschläuche konnten auf die Reitkamele verteilt werden.
Um elf Uhr war alles zum Ausbruch bereit.
Ali blieb zurück. Von Zeit zu Zeit sah er nach den Bewußtlosen. Die Türen ließ er offen, damit sich der Morphiumgeruch vollends gründlich verziehen konnte. Erst gegen Morgen, als Raschid bin Karam sich zu regen begann, verschloß er sie, damit kein Verdacht erregt würde. Jetzt war aber auch keine Spur mehr des betäubenden Dunstes zurückgeblieben.
Als der Bimbaschi nach längerer Zeit wieder zu klarem Denken fähig war, und auch seine Gefährten ihrer Sinne wieder mächtig wurden, begann der Scharfschütze folgendermaßen mit seinen Erklärungen:
»Allah sei gelobt! Ihr waret tot und seid wieder lebendig geworden!«
»Nacht war in meinem Geiste,« erwiderte der Bimbaschi: »Jetzt wird es wieder Tag. Was ist mit mir vorgegangen?«
»Ihr habt eine Flasche zerbrochen, in welcher der Geist des Schlafes und des Todes gefangen war. Sobald er befreit wurde, hat er euch in tiefen Schlummer versenkt und hätte euch getötet, wenn ich nicht zur rechten Zeit gekommen wäre, um Abd el Ziger zu Hilfe zu rufen.«
»Ist er zu uns gekommen?«
»Ja! Und ihm verdankt ihr euer Leben. Denn er hat mich gelehrt und angewiesen, den bösen Geist aus der Hütte zu schaffen, daß er sich aufgelöst hat in den Lüften und niemand mehr gefährlich werden kann.«
»Wo ist Abd el Ziger, daß wir ihm danken und er uns vollends gesund macht mit seiner großen Kunst?«
»Er kann heute nicht wieder kommen, Allah weiß es! Er ist krank und hat das Fieber.«
»Du redest wahr, denn er hat es mir gestern selber gesagt. Sobald ich wieder wohler bin, werde ich mich nach seinem Befinden erkundigen.«
»Siehe morgen nach ihm: heute müßt ihr alle ruhen und euer Lager nicht verlassen, damit ihr von dem Gifte des bösen Geistes ganz befreit werdet. Ich bin von Abd el Ziger angewiesen, euch zu pflegen und euch die Kost zu bereiten, die euch zur Genesung dienlich ist. Allah schenke auch ihm Gesundheit und sei ihm nahe mit Schutz und Hilfe, denn er bedarf ihrer. Ich selber bleibe diesen Tag ganz bei euch, nach seinem Willen und Befehl. Ismain el Heliki, Jussuf, Osman und Fatme sind bei ihm: er bedarf meiner nicht.«
»Er ist ein guter Mann und hat treulich für uns gesorgt, da er dich zu unserer Pflege bestellt hat. Allah segne seine Arznei, daß er bald genese, und schütze ihn und die Seinen heute und allezeit!«
Ali hatte alle seine Reden so zu wenden gewußt, daß sie keine Unwahrheit enthielten, obgleich sie zugleich die Wahrheit verbergen mußten, um keinerlei Verdacht aufkommen zu lassen. Er nahm es ernst mit der Wahrheit, aber in Verrat durfte sie nicht ausarten, und dies zu vermeiden, dazu war er klug genug.
Am nächsten Morgen, da er wußte, daß nun eine Entdeckung unvermeidlich sein mußte, begab er sich in aller Frühe in die Fabrik, ehe die Arbeiter kamen. Gleich darauf kehrte er wieder und rief:
»O Bimbaschi! Abd el Ziger ist nicht mehr da, und die Andern auch nicht! Sie sind entflohen, während ihr ohne Leben waret und ich draußen weilte. Ich darf nicht säumen, es dem Kalifa zu verkündigen.«
Damit eilte er, die Anzeige selber zu erstatten, um allen Verdacht von sich abzuwenden. Um die eigene Rettung war es ihm zwar nicht so sehr zu tun: wenn es nötig gewesen wäre, hätte er sich auch für Sieger geopfert. Aber er hatte einen scharfen Verstand und sagte sich, daß es gar keinen Zweck habe, sich ins Verderben zu stürzen, daß er vielmehr seinen Freunden eher nützen könne, wenn er am Leben bliebe und kein Verdacht auf ihn falle. Ebenso und eben deshalb erschien es ihm am ratsamsten, selber dem Herrscher Bericht zu erstatten, da ja der Bimbaschi es sonst doch getan hätte.
Dieser eilte in höchstem Schrecken mit Selim und Halef in die Fabrik und überzeugte sich, daß ihre Bewohner tatsächlich nirgends zu finden waren.
Dann begab er sich schweren Herzens mit seinen Leuten zum Kalifa, nicht wissend, was ihrer dort harren würde. Hussein, der kein Fieber mehr spürte, schloß sich an.
Ali hatte es nicht eilig, doch sorgte er, daß er noch vor Raschid bin Karam in Omderman eintraf. Da er erklärte, eine wichtige Botschaft zu bringen, wurde er gleich vorgelassen.
»O erhabener Kalifa des großen Mahdi!« begann er: »Allah erhalte dein Leben! Es ist der Wille des Allmächtigen, daß ich dir böse Botschaft verkündige!« Dann erzählte er, wie die Wächter durch den Geist des Schlafes und des Todes, den der Ingenieur in eine Flasche gebannt habe, betäubt worden seien, und Sieger mit den Seinen die Gelegenheit zur Flucht benutzt habe. Wohlweislich verschwieg er jedoch, daß dies schon in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag geschehen sei.
Inzwischen langten auch die Wächter an und wurden vorgeführt.
Der Bimbaschi, der es mit der Wahrheit nicht so genau nahm, besonders wenn es galt, das eigene Leben zu retten, stellte die Sache so dar, als habe Abd el Ziger sie absichtlich durch seine Zauberkunst in Schlaf versenkt, um fliehen zu können. Das erschien auch am wahrscheinlichsten. Natürlich sagte auch er nichts davon, daß alles sich schon in der vorletzten Nacht ereignet hatte.
Der erzürnte Kalifa schenkte zwar in Rücksicht auf die Umstände den Missetätern das Leben, ließ sie aber in den Seier, das Gefängnis, werfen. Dann ordnete er an, die Spuren der Flüchtlinge aufzusuchen und die Verfolgung in höchster Eile aufzunehmen.
Ali, der unbeteiligt schien, auch nicht zum Wächter bestellt war, und als Erster die Flucht angezeigt hatte, wurde laufen gelassen.