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Es war noch lange nicht Mitternacht, als die Flüchtlinge in der Nacht vom Samstag auf den Sonntag das Grabmal erreichten. Zwischen ihm und dem einsam ragenden Felsen lagerten sie sich, um auf Mohammed mit seinen Kindern zu warten.
Sieger benutzte die Gelegenheit, um ein Chininpulver einzunehmen, da ihn das Fieber mehr als je schüttelte. Er hatte heute schon viel solcher Pulver geschluckt, denn er war von ihrer Heilwirkung so überzeugt, daß er nicht daran zweifelte, es müsse besser mit ihm werden, wenn er nur genug davon nehme. Völlig unbekannt war es ihm, daß dieses aus der heilkräftigen Chinarinde hergestellte künstliche Erzeugnis äußerst gefährliche Wirkungen auszulösen vermag, zumal wenn es im Übermaß genossen wird, während die einfache Abkochung aus Chinarinde niemals schlimme Folgen zeitigt. Erst in neuester Zeit wurde nachgewiesen, daß eben das Chinin die einzige Ursache des mit Recht so gefürchteten Schwarzwasserfiebers Afrikas ist.
Kurz vor Mitternacht kamen Mohammed, Hassan und Amina angeritten. Auch sie hatten nur drei Reitkamele, um schneller vorwärts zu kommen.
Sie waren hocherfreut, als sie nun ganz unerwartet ihre Freunde dennoch hier antrafen. Sieger teilte ihnen kurz mit, was ihnen die Flucht im letzten Augenblick noch ermöglicht hatte, und dann ging es weiter, dem Süden zu, so schnell die Dromedare auszugreifen vermochten, also mit bedeutender Geschwindigkeit.
Die ganze Nacht ging es auf dem linken Ufer des Bahr el Abiad, des Weißen Nils, immerfort nach Süden, als gälte die Losung, die Äquatorialprovinz zu erreichen, um bei Emin Pascha Schutz zu suchen, der es verstand, der Macht des Kalifa wirksamen Widerstand zu leisten.
Es war den Fliehenden eben darum zu tun, ihre Verfolger bei dieser falschen Meinung zu erhalten.
Gegen Morgen wurde am Ufer eines Flüßchens gerastet, das von Westen her sich in den Nil ergoß: es führte zur Zeit nur wenig Wasser.
Als wieder aufgebrochen wurde, meinte Mohammed, es wäre nun Zeit, sich nach Osten zu wenden, dem Bahr el Asrak oder Blauen Nil zu, um Abessinien zuzustreben. Der Wasserstand des Bahr el Abiad war zur Zeit so niedrig, daß die Kamele den Fluß gefahrlos durchwaten konnten.
Aber Sieger widersprach: »Überschreiten wir jetzt schon den Nil,« sagte er, »so tritt unser Reiseziel für die Verfolger klar zutage. Folget mir! Ich kenne die Gegend genau von früheren Ausflügen her, und habe meinen Plan, der unsere Fährte völlig verwischen wird.«
Nach seiner Anordnung wurde daher der Nebenfluß überschritten und die Reise in südwestlicher Richtung fortgesetzt. Nach einer Stunde stieß man hier wieder auf den Nebenfluß, der weiter unten einen Bogen machte und dessen Oberlauf von Südwesten kam. Eine halbe Stunde ritten unsere Freunde flußaufwärts, am Ufer entlang, dann befahl der Ingenieur, die Kamele in das Flußbett zu lenken. Hier wurde gewendet und man ritt nun wieder zurück, und zwar im Wasser, um keine Fährte zu hinterlassen.
»Wenn die Feinde unseren Spuren folgen,« sagte Sieger, »und etwas anderes können sie nicht tun, so werden sie natürlich entdecken, daß wir im Fluß weitergeritten sind, weil sich die Fußstapfen der Kamele auf dem anderen Ufer nicht zeigen, nachdem sie auf dem rechten Ufer am Strande aufhörten. Weil jedoch unsere bisherige Richtung eine wesentlich südliche war, die ihnen die Überzeugung bringen mußte, daß wir Lado zustreben, werden sie nicht anders denken, als daß wir auch im Wasser flußaufwärts nach Südwesten weitergeritten seien, um uns später wieder südwärts zu wenden, dem Bahr et Ghasal zu, und so die Äquatorialprovinz zu erreichen.«
Das mußte einleuchten.
Der Ritt ging nun immer zurück nach Norden im Flußbett, und, als dieses sich wendete, nach Osten bis in den Weißen Nil. In diesem wurde wiederum eine halbe Stunde flußabwärts geritten, bis ein östlicher Zufluß erreicht wurde, in dem noch zwei Stunden lang, immer im Wasser, in östlicher Richtung gewatet wurde.
Auf diese Weise hatte man sich zwar Khartum wieder bedeutend genähert, durfte aber sicher sein, daß kein Verfolger so bald die Fährte entdecken werde.
Abends wurde zwischen dem Weißen und dem Blauen Nil gerastet.
Am anderen Morgen war Sieger kaum mehr fähig, sein Kamel zu besteigen. Er hatte die Nacht schlaflos in Fieberschauern zugebracht und erkannte nun zu seinem Schrecken an untrüglichen Anzeichen, daß er von dem gefährlichen Schwarzwasserfieber befallen war.
Als nach kurzem Ritt Gedid am Blauen Nil erreicht worden war, erklärte er, unfähig zur Weiterreise zu sein, und bat, ihn hier zurückzulassen, während die Anderen ihre Flucht fortsetzen sollten.
»Sobald ich gesund bin, folge ich euch nach,« sagte er: »So nahe ich hier bei Omderman bin, werde ich doch kaum von den Häschern des Kalifa gefunden werden, die sich zweifellos durch unsere List irreführen lassen. Ich kenne hier einen Sudanesen, Osman, der mich nicht verraten wird. Also ziehet mit Gott! In Baad Ulgaras treffen wir uns wieder.«
»Ich bleibe bei dir, Vater!« rief Fanny entschlossen.
»Und ich auch!« erklärte Johannes ebenso bestimmt: »Niemals werden wir unseren Vater verlassen. Was sollten wir ohne dich anfangen?«
»Onkel Helling wird euch unter seinen treuen Schutz nehmen und für euch sorgen.«
»Onkel Helling bleibt auch hier!« entgegnete dieser: »Das wäre noch schöner, wenn ich einen schwerkranken Freund in seiner Not verließe.«
»Und von mir ist ebendasselbe eine Selbstverständlichkeit,« fügte Josef schlicht hinzu.
Da mochte Sieger sagen, was er wollte. Keines ließ sich von seinem Entschluß abbringen.
Auch Mohammed, Hassan und Amina wollten bleiben. Allein der Ingenieur stellte ihnen vor, daß dies Opfer ihm keinerlei Nutzen bringen könne, da er der hingebendsten Pfleger genug habe, daß vielmehr eine Entdeckung weit eher zu befürchten sei, wenn sich eine allzugroße Gesellschaft in Omars Hause aufhalte. Dies mußte Mohammed einsehen, und tränenden Auges nahmen die Somali Abschied, um ihre Flucht fortzusetzen, die sie auch nach langen Mühsalen glücklich in ihre Heimat führte.
Omar nahm Sieger und die Seinen freudig auf.
Fünf volle Wochen lag der Ingenieur im Fieber und schien in dieser Zeit oft am Rande des Grabes. Endlich aber ging es der Genesung zu, und als die Kräfte langsam wiederkehrten, konnte die Weiterreise erwogen und schließlich der Tag des Aufbruchs bestimmt werden.
Die wohlberittenen Häscher des Kalifa hatten inzwischen am Tage ihrer Aussendung die Fährte der Entflohenen mühelos entdeckt: sie führte von der Fabrik zum Marabut, wo sie sich mit einer anderen, von Omderman kommenden vereinigte. Da Mohammeds Flucht noch nicht bekannt geworden war, konnten die Verfolger nicht wissen, was für geheime Freunde in Omderman die Flüchtlinge hier getroffen und sich ihnen angeschlossen hatten. Das war aber auch einerlei.
Als später die Spuren am Flußufer aufhörten, wurde dort die weite Umgegend bis el Obeid durchforscht. Aber nirgends trat die Fährte wieder zutage, noch fand man irgend jemand, der über die von den Entwichenen eingeschlagene Richtung hätte Auskunft geben können.
So mußten endlich die Verfolger nach einer fruchtlosen Streife von mehreren Wochen ihre Nachforschungen als aussichtslos aufgeben.
Aber da war noch Einer, der auf eigene Faust Nachforschungen anstellte, und der war schlauer als die Bluthunde des Tyrannen!
Emin Gegr um Salama sagte sich, daß die Flüchtlinge sicher nicht der Äquatorialprovinz zustrebten, denn das war ein gar zu gefährlicher Weg bei einer Entfernung von etwa zwölfhundert Kilometern. Nach Ägypten hatten sie am nächsten; aber das war für sie die gefährlichste Strecke, wo sie kaum hoffen durften, unbehelligt hindurchzukommen.
Er war überzeugt, daß ihr Ziel Suakin oder Massaua am Roten Meere sein müsse. Die aufgefundene Fährte sollte natürlich die Verfolger täuschen. Von der ursprünglich eingeschlagenen südlichen und südwestlichen Richtung mußte sich Sieger demnach nach Nordwesten gewendet haben; dann aber hatte er notgedrungen zuerst den Weißen und dann den Blauen Nil durchquert.
Diese wenigstens teilweise richtigen Schlußfolgerungen veranlaßten den Einäugigen, am Bahr el Asrak entlang zu forschen. Dabei kam er bis Rufagh und konnte dort in Erfahrung bringen, daß vier bis fünf Tage nach dem Verschwinden Siegers, dort ein Somali mit einem Sohn und einer Tochter den Fluß überschritten und nach Südosten weitergezogen sei.
Da Mohammeds Flucht inzwischen auch bekannt geworden war, wußte Emin, daß es sich um ihn handeln müsse. Er hatte sich offenbar von den Gefährten getrennt und strebte durch Abessinien seiner Heimat zu. Die Anderen waren zweifellos schon früher ostwärts abgebogen und mußten ihrem Ziele jetzt nahe sein oder es erreicht haben, denn es waren fast sechs Wochen vorübergegangen, bis Emin Gegr so viel erkundet hatte.
Er knirschte mit den Zähnen bei dieser Erwägung. Dennoch war er entschlossen, seine Feinde weiter zu verfolgen, bis nach Europa, wenn es sein müsse, wie er sie schon von dort bis in den Sudan verfolgt hatte.
Er setzte daher seine Nachforschungen fort, um bestimmtere Anhaltspunkte über den Weg zu gewinnen, den sie eingeschlagen hatten. Nach seiner Überzeugung mußten sie den Blauen Nil unterhalb von Rufagh durchquert haben. Dies konnte unbemerkt bei Nacht geschehen sein. Aber vorher oder nachher mußte sie doch irgendwer gesehen haben, denn gar so menschenverlassen waren die Ufer des Stromes in dieser Gegend doch nicht.
Da, als er schon am Erfolg verzweifelte, vernahm er von einem Knaben in Gedid, daß in Omars Hause seit vielen Wochen fremde Gäste sich aufhielten. Trotz aller Vorsicht hatte der brave Sudanese nicht verhindern können, daß im Laufe einer so langen Zeit seine Nachbarn nicht etwas von seiner Heimlichkeit entdeckt hätten. Schon die regelmäßigen großen Einkäufe von Lebensmitteln verrieten, daß er sein stattliches Haus nicht mehr allein mit seinem einzigen Sklaven bewohnte. Und dieser, als geschwätziger Neger, hielt trotz strengsten Befehles nicht immer reinen Mund.