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Die politische Lage und die SozialdemokratieDiese Rede wurde auf einer Versammlung gehalten, die am 1. Dezember 1911 in Leipzig stattfand. Sie wird nach einem Zeitungsbericht wiedergegeben.

Die bevorstehende Reichstagswahl erreicht uns in einer so stürmisch bewegten Zeit, wie [wir sie] noch nie [hatten] seit dem Bestehen des neuen Deutschen Reichs. Wir haben noch nie, seit wir das Deutsche Reich und den Reichstag haben, eine Reichstagswahl erlebt, die während eines blutigen Kriegszustands kam. Zwar 1907 hatten wir schon die entfernten Nachklänge eines Kolonialkriegs. Allein, man konnte wenigstens damals die Illusion aufrechterhalten, daß es ein von Europa ferner Krieg war, der nicht mitzählt in der allgemeinen politischen Situation. Erinnern Sie sich, wie es noch vor wenigen Jahren in politischen Kreisen und selbst in unsern eigenen Reihen so viele Optimisten gab, die nicht müde wurden, die Tatsache hervorzuheben, daß wir trotz allen Rüstens und aller Kriegshetzereien ganze 40 Jahre der friedlichen Entwicklung gehabt hätten. Diese Theorie über das Hineinwachsen in den Frieden und die friedliche demokratische Entwicklung knüpft sich an den Namen eines französischen Parteiführers, der wohlverdienten Ruf in der internationalen Sozialdemokratie genießt, Jean Jaurès. Sie wissen wahrscheinlich, daß Genosse Jaurès noch vor kurzer Zeit nicht müde wurde, die sehr wichtige Tatsache hervorzuheben, daß wir seit dem Deutsch-Französischen Kriege keine Kriege mehr auf dem Kontinent gehabt hätten und daß diese Tatsache eine angenehme Perspektive eröffne. Es hieß: Wir gehen einer Zeit entgegen, in der der Gedanke der Humanität, der Menschlichkeit über die Bestrebungen der Reaktion triumphiert.

Diese Gedankengänge, die auch bei uns und in allen andern Ländern sehr viel Anhänger zählten, knüpften sich an bestimmte Vorstellungen darüber, was eigentlich die Garantien der friedlichen Entwicklung in Europa seien. Man nannte den Dreibund auf der einen Seite, den Zweibund auf der andern Seite. In letzter Zeit, als sich der russisch-französische Zweibund an England annäherte, begrüßte Jaurès das auch mit Freuden. Das wären die zwei Pfeiler, die den Frieden stützen, und damit bekämen wir ein großes Blachfeld für eine friedliche Kulturentwicklung in unserm Sinne.

Das Echo dieser schönen Träume ist noch nicht verklungen, und wie sieht es heute aus? Heute haben wir mitten in Europa einen blutigen Krieg, und die Frage des Zweibunds, des Dreibunds und des Haager Tribunals des Friedens sind lauter Hirngespinste. Es hat sich mit brutaler Nacktheit gezeigt, daß die friedliche Entwicklung ein für allemal dahin ist. Wir haben heute Sturm von allen Seiten, und mitten im Sturm müssen wir unsern Kampf führen. Und wir haben keinen Grund, zu bedauern, daß wir auf stürmischem Boden stehen. Je stürmischer es zugeht, desto lustiger flattert die Fahne auf unserm Schiff.

Nicht nur die Kriegsfurie ist heute entfesselt. Wir haben in diesem Jahre noch einen andern Sturm erlebt, die Welle der Hungerrevolten, die mitten in den höchstentwickelten Kulturstaaten zum Durchbruch kam. Diese Hungerrevolten verdienen eine ganz besondere Beachtung. Wir sind an das Hungern gewöhnt. Wir wissen, daß in der kapitalistischen Gesellschaft mit periodischer Regelmäßigkeit und unabwendbar nach einer glänzenden Geschäftszeit eine Krise sich einstellt und daß, nachdem eine Handvoll Kapitalisten den Rahm abgeschöpft haben, die Opfer der Krise auf die große Masse erdrückend herabfallen. Dann kommt die Arbeitslosigkeit, der Hunger. Aber in diesem Jahre haben wir den Hungerschrei nicht mehr in einer Krisenperiode, sondern mitten in der Prosperität gehört. Jetzt bedarf es nicht einmal des Niedergangs der Konjunktur, die Arbeiter brauchen nicht erst aufs Pflaster geworfen zu werden. Mitten im glänzendsten Geschäftsgang für die Kapitalisten treibt der Hunger schon jetzt die Massen auf die Straße. Das ist eine neue Erscheinung, die wohl zu merken und zu untersuchen ist. Und der Sturm kommt noch von einer andern Seite. Das erleben wir in diesem Augenblick. Die Metallindustrie in Berlin hat seit gestern 50 000 bis 60 000 Arbeiter ausgesperrt, und es ist nicht das erste Mal, daß wir in diesem Jahre einen so gewaltigen Kampf in der Metallindustrie erleben. Erst kam der Kampf in Hamburg, dann im sächsisch-thüringischen Bezirk, und jetzt mitten in Berlin eine Kraftprobe. Die Eisenindustrie ist die grundlegende Industrie in Deutschland, in der die Arbeiterschaft eine mächtige Schutzorganisation errichtet hat, und da entfesselt eine solche Machtprobe kolossale Massenkämpfe. Und auch von dieser Seite zeigt sich: Was wir bis heute erlebt haben, ist nur Kinderspiel gegenüber dem, was wir noch zu erwarten haben.

So gibt es noch genug, um jedem Denkenden zu zeigen, daß Ruhe und Frieden ein für allemal vorbei sind. Die Zeit rückt näher, wo eines Tages die Entscheidung fallen muß, wo die Arbeiterklasse für den Ausgang verantwortlich ist.

So stehen wir vor den Wahlen. Nicht jede Reichstagswahl hat dieselbe Bedeutung wie die andre, und alle haben für uns eine grundsätzlich andre Bedeutung als für alle bürgerlichen Parteien. Für die bürgerlichen Parteien haben die Reichstagswahlen nur und ausschließlich die Bedeutung einer Jagd nach Mandaten. Für uns stehen die Mandate an allerletzter Stelle. Wir gehen in den Kampf, nicht um möglichst viel Mandate zu erhaschen, sondern weil uns der Wahlkampf Gelegenheit bietet, die Massen aufzuklären und ein gewaltiges Stück vorwärtszutreiben auf der Bahn zum Sturz der kapitalistischen Gesellschaft. Die Wahl ist nicht vom eng parlamentarischen Standpunkte, sondern vom Standpunkte der großen internationalen Schicksale und Aufgaben zu betreiben. Wenn der Kampf auch schwer ist, wenn uns auch Arbeit in Hülle und Fülle erwartet, so können wir mit einem Blick auf das Leben, den Boden, auf dem wir stehen, erklären: Wir gehen in diesen Kampf mit Freuden, und es ist eine Freude zu leben.

Werfen wir einen Blick auf die politischen und ökonomischen Fragen, die der Beurteilung der großen Massen und dem Urteilsspruch am 12. Januar unterliegen. Man muß mit dem allernächsten anfangen, mit dem ökonomischen Dasein der Masse, mit dem täglichen Brot.

In Deutschland haben wir keine Hungerrevolten gehabt. Allein, ich möchte sehen, wer es wagen würde zu behaupten, daß in Deutschland keine Not existiere. Nun, wir wissen alle, daß die Not hier kein Jota geringer ist als überall. Und wenn es nicht zu Krawallen gekommen ist, ist das niemand anderem zu danken als uns und der jahrzehntelangen Aufklärung und Erziehung der Arbeiter. Niemand anders kann es auf sein Konto schreiben, daß die Masse gelernt hat, daß Verbesserungen nicht durch stürmische, planlose Protestbewegungen auf der Straße, sondern nur durch ein planmäßiges, geschlossenes Vorgehen zu erreichen sind.

In Deutschland gibt es Not in Hülle und Fülle. Und deshalb ist es äußerst wichtig, sich Rechenschaft darüber abzulegen, wo die Quelle der heute herrschenden Not liegt. Namentlich liegt es im Interesse der proletarischen Frauen, sich darüber Aufschluß zu verschaffen. Wenn wir politische Gleichberechtigung für die Frauen fordern, wird von bürgerlicher Seite geantwortet, die Frau sei zu dumm für Politik, ihre Aufgabe sei der Kochtopf und die Kinderwiege. Allein, ich glaube, daß die Frauen, die es bei dieser Not fertigbringen, mit dem kargen Verdienst ihrer Männer die Familien durchzubringen und die Kinder zu ehrlichen Menschen zu erziehen, daß diese Frauen ihr Reifezeugnis abgelegt haben und jeden deutschen Minister in die Tasche stecken.

Eine Teuerung herrscht heute, wie wir sie seit langem nicht gehabt haben. Das ist an und für sich keine neue Erscheinung. Wir haben in früheren Jahrhunderten schon Teuerungen gehabt. Allein, das ist bezeichnend, daß in allen den Fällen früher natürliche Ursachen vorhanden waren, mochte es eine Mißernte, die Pest, Krieg usw. sein. Heute haben wir eine beispiellose Hungersnot ohne besondere Mißernte und ohne daß in Europa die Pest gewütet hat. Diese Teuerung kommt daher, daß wir heute unter einem Übel zu leiden haben, unter einer Plage, die viel schlimmer ist als Mißernten, die Pest und der Krieg zusammen, und das sind die Klassenherrschaft und das konservative Junkertum in Deutschland. Das ist bezeichnend, daß wir eine künstlich fabrizierte, planmäßig herbeigeführte Hungersnot haben, und das sind Dinge, die wir erst in der höchsten Blüte der kapitalistischen Kultur fertiggebracht haben. Das wichtigste und probateste Mittel dazu sind die indirekten Steuern und Zölle, und in dieser Beziehung schreitet Deutschland in der Welt voran.

Nach der Gründung des Reichs, 1873, betrugen die indirekten Steuern und Zölle 400 Millionen Mark, 1910 aber 1980 Millionen Mark. Das ist eine ungeheure Steigerung. Fast 2 Milliarden muß die Bevölkerung vom täglichen Verbrauch entrichten. Man würde sich aber irren, wenn man glauben würde, diese Summe bedeute den gesamten Tribut der deutschen Bevölkerung für Lebensmittel. Das ist nur der Teil, der in die Staatskasse fließt. Daneben bieten die Zölle und indirekten Steuern für die Agrarier und Industriebarone ein probates Mittel, sich auf Kosten der Bevölkerung einen Extraprofit in die Tasche zu stecken. Im ganzen Deutschen Reich zusammen mit den einzelnen Bundesstaaten beträgt die Gesamtbelastung fast 4 Milliarden Mark. Als im Jahre 1871 der »Erbfeind« niedergeworfen war, mußte er 4 Milliarden Mark Entschädigung zahlen, so viel, wie die deutsche Bevölkerung an indirekten Steuern und Zöllen zahlen muß. Aber der Erbfeind ist besser weggekommen als das deutsche Volk, das diese ungeheure Summe jahrein, jahraus zahlen muß.

Man hat berechnet, daß bei dieser Belastung auf den Kopf der Bevölkerung 64 ½ Mark und auf die Familie 290 Mark im Jahre kommen. Man muß sich fragen, wie eine Familie mit einem Einkommen von 900 bis 1000 Mark – und es gibt nicht wenig Familien in Deutschland (Landarbeiter, Arbeiter in der Heimindustrie), die ein viel geringeres Einkommen haben – eine solche Last tragen kann. Ich kenne eine Familie mit zahlreichen Kindern, die es im letzten Jahre verstanden hat, ihr Einkommen um rund 3 Millionen Mark zu erhöhen: die Familie Hohenzollern. Aber so schön und leicht haben es nicht viele Familien, einfach aus der Tasche andrer durch Beschluß einer gefügigen Mehrheit 3 Millionen in ihre Tasche fließen zu lassen unter dem Vorwand, daß man zu viel Kinder in die Welt gesetzt habe und schlechte Zeiten seien. Der Arbeiter hat es nicht so leicht, und deshalb löst sich die mathematische Aufgabe auf in den krassen Ziffern der Sterblichkeit, im Rückgang des Fleisch- und Milchkonsums usw., im langsamen Verhungern der Masse der Bevölkerung.

Wir wollen gemäß und getreu den Grundsätzen der Sozialdemokratie an den Verstand appellieren. Wir wollen die Frage dieser unerhörten Besteuerung auch noch von der Seite betrachten, von der sie uns von unsern Gegnern gewöhnlich mundgerecht gemacht wird. Sie sagen: Ihr habt gut euch entrüsten. Allein, wie wollt ihr so große Staatswesen regieren und verwalten? Der Staat hat heute enorme öffentliche Aufgaben zu lösen. Dazu gehören enorme Mittel, woher wollt ihr die nehmen, wenn nicht durch Besteuerung der Bevölkerung? Wir Sozialdemokraten, die wir nüchterne Politiker sind, antworten darauf: Jawohl, es soll gar nicht bestritten werden. Wir haben Aufgaben, die wir gar nicht lösen, wir müssen viel mehr tun und mehr Mittel haben. Allein die elementarste Gerechtigkeit und die Kulturanforderungen der heutigen Staaten sagen, daß die Mittel nicht aus den Taschen der Ärmsten, sondern aus den Taschen der Reichsten geholt werden müssen. Wir stehen noch auf demselben Standpunkt wie Ferdinand Lassalle: Es gibt keine niederträchtigere und kulturfeindlichere Steuermethode als die, die jeden Bissen Brot verteuert. Der heutige Staat brauchte nur progressive Steuern auf Einkommen und Erbschaften einzuführen, und er hätte genug Mittel, um alle Aufgaben zu lösen.

Wir sehen aber, daß die Art und Weise, wie diese Mittel verausgabt werden, nicht im Interesse des Kulturfortschritts liegt. Das Kapital, das die Kräfte des deutschen Volkes verschlingt, ist nicht Aufklärung, Sorge für die Gesundheit und Hebung der Lage der Arbeiter, sondern der nimmersatte Militarismus. Die Friedenspräsenzstärke der deutschen Armee stieg von 359 000 Mann im Jahre 1872 auf 700 000 Mann, also um 100 Prozent, während die Bevölkerung nur von 41 auf 65 Millionen (50 Prozent) gewachsen ist. Die Friedenspräsenzstärke ist zweimal so schnell gewachsen, während die Ausgaben für das Landheer von 337 Millionen auf 925 Millionen Mark gewachsen sind, sich also fast verdreifacht haben. Dazu kommen noch die Ausgaben für die Flotte, die vor allem seit dem Regierungsantritt Wilhelms II. eine kolossale Steigerung erfahren haben und gegenwärtig 460 Millionen betragen. Und wenn man jetzt zusammenlegt, was Deutschland seit der Gründung des Reichs für Militär und Marine ausgegeben hat, so kommt man auf die Summe von 28 Milliarden Mark. Und das während 40 Jahren tiefsten Friedens in Europa!

Man brüstet sich immer damit, daß die Lage des Reichs vollständig gesichert sei dank der hohen Weisheit der Staatsdiplomatie und der Freundschaftsreisen des Kaisers, und sagt, daß wir in den besten Beziehungen zu den Staaten der Welt leben. Und bei all dieser Freundschaft 28 Milliarden für Rüstungen! Das wäre ein Grund zu der Frage, welche eigentlichen Zwecke in Wirklichkeit der Militarismus verfolgt. Man sagt uns ja, daß die menschliche Natur es mit sich bringe, daß die Völker untereinander wie Bestien leben. Wir erlauben uns, einer anderen Meinung über die menschliche Natur zu sein. Der menschlichen Natur entspricht, daß sämtliche Völker und Rassen in Frieden, Freundschaft und Kultursolidarität leben sollen. Solange die kapitalistische Gesellschaft herrscht, ist das allerdings nicht möglich. Das kann erst dann zur Wirklichkeit werden, wenn die Arbeiterklasse in allen Ländern das Heft in ihre Hände genommen und den Kapitalismus zum Teufel gejagt hat. Deshalb sind wir Umstürzler geworden, weil wir fest überzeugt sind, daß erst durch den Umsturz der heutigen Ordnung eine Grundlage geschaffen werden kann. Deshalb sind wir praktische Realpolitiker. Wir wissen, solange der Kapitalismus existiert, solange wir das Heft nicht in unsern Händen haben, kann von Abrüstung keine Rede sein.

Heute sagt jeder Staat, daß er vor dem Nachbar gerüstet sein müßte. Dazu, wenn nicht andre Zwecke vorlägen, brauchte es nicht des verbrecherischen Systems der stehenden Heere. Wenn es sich bei den herrschenden Klassen allein darum handeln würde, den Frieden innerhalb des Staates zu schützen, dazu gibt es viel einfachere Mittel. Dazu wäre nur nötig, daß die waffenfähige Bevölkerung während einiger Wochen in die Führung der Waffen eingeführt würde. Und dann wäre es notwendig, daß die Waffe in die eigne Hand der Bevölkerung ausgeliefert wird, damit die Masse selbst entscheidet, wann und gegen wen die Waffe losgeht. Erst dann könnte man sagen: Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Aber gerade davor scheuen sich die herrschenden Klassen, dem deutschen Arbeiter die Waffe in die Hand zu geben, damit sie nicht losgeht in einer Richtung, die durchaus nicht im Interesse der herrschenden Klassen liegt. Die Waffe soll gerade dazu dienen, auf die Brust der Sozialdemokratie gerichtet zu werden. Und haben wir nicht Beweise in Hülle und Fülle in diesem Jahre, wozu der Militarismus in erster Linie berechnet ist? Bei den friedlichen Wahlrechtsdemonstrationen in Preußen am 6. März Im Frühjahr 1910 war in Berlin, Frankfurt (Main) und anderen Städten Militär in Bereitschaft gehalten worden, um gegen die Wahlrechtskämpfer eingesetzt werden zu können. In anderen Städten, so z. B. in Halle (Saale) und Neumünster, ging Militär gemeinsam mit der Polizei gegen die Demonstranten vor. und in Moabit, In Berlin-Moabit war es im Herbst 1910 in Verbindung mit einem Streik bei der Firma Kupfer & Co. und den Provokationen der von der Polizei unterstützten bewaffneten Streikbrecher zu schweren Unruhen gekommen, an denen 20 000 bis 30 000 Menschen beteiligt waren. Bei den Auseinandersetzungen zwischen der Arbeiterklasse und der Staatsgewalt gab es zahlreiche Verwundete und zwei Tote, darunter den Arbeiter Robert Hermann. da haben wir erfahren, wozu die Säbel von den deutschen Steuerzahlern bezahlt werden.

Aber es gibt noch eine ganze Reihe Interessenten, die bei dieser Verschwendung auf ihre Rechnung kommen. Da sind die nicht zahlreichen, aber mächtigen Gruppen der Lieferanten für Heer und Flotte, die wohl wissen, was sie tun, wenn sie mit beiden Händen für Flottenvorlagen stimmen. Und dann kommt auch noch eine Zahl reicher und einflußreicher Söhnchen aus Kreisen, die nie ihre Hände mit ehrlicher Arbeit beschmutzt haben, die aber in den Kolonien den deutschen Namen mit Schmach bedecken. Solche Elemente finden sich heute in allen Kolonien. Das liegt im Wesen der kapitalistischen Kolonialpolitik.

Man hält uns entgegen, Militarismus, Flotte und Kolonien seien doch am letzten Ende nur für die Arbeiterschaft da, denn was wäre unser Handel und unsre Industrie ohne den Bezug billiger Rohstoffe aus den Kolonien.

Und als die letzten Tage im Reichstage der neue Vertrag mit Frankreich Während der Marokkokrise verhandelten der französische Botschafter in Deutschland Jules Cambon und der Staatssekretär des Äußeren Alfred von Kiderlen-Wächter hinter verschlossenen Türen über Kompensationen im Kolonialbesitz. Diese Verhandlungen führten am 4. November 1911 zu den Marokko- und Kongoabkommen zwischen Deutschland und Frankreich. Im Marokkoabkommen stimmte Deutschland der Beherrschung Marokkos durch Frankreich zu, während Frankreich das Prinzip der »offenen Tür« für Marokko garantierte. Im Kongoabkommen wurde ein Gebietsaustausch in Äquatorialafrika vereinbart, durch den Deutschland gegen Territorien im Tschadgebiet einen zwar größeren, wirtschaftlich aber wertlosen Teil von Französisch-Kongo erhielt. untersucht wurde, da erhob sich unter anderen auch Pfarrer Naumann, Der evangelische Theologe Friedrich Naumann vertrat die imperialistische Expansionspolitik und versuchte, mit demagogischen Forderungen nach einem christlich-nationalen Sozialismus die Arbeiterklasse vom politischen und sozialen Kampf abzuhalten. Er arbeitete eng sowohl mit dem Finanzkapital wie auch mit führenden Revisionisten in der Arbeiterbewegung zusammen. um sein Bedauern darüber auszusprechen, daß die deutsche Regierung auf Erwerbungen verzichtet habe und nicht der Ansiedlung deutscher Arbeiter nähergetreten sei. Für hungernde deutsche Proletarier sollte in Afrika etwas gefunden werden. Wie reimt sich das mit der Tatsache, daß in Deutschland selbst der Kapitalismus über 1 ½ Millionen ausländische Arbeiter als Schmutzkonkurrenten ins Land schleppt?

Man sagt weiter, wir brauchten die Kolonien wegen einiger Rohstoffe, die wir billiger kriegen können, und wer profitiere mehr an einem Aufschwung der Industrie als der begehrliche deutsche Arbeiter. Würden wir wirklich einen Nutzen haben, wenn die Herren Mannesmann, Krupp usw. billiges Eisen beziehen würden? Nun, wir haben mitten in Deutschland reiche Kohle- und Erzlager, und all dieser Reichtum ist in der Hand dieser Herren. Haben wir vielleicht billige Kohle in Deutschland? Diesen Reichtum brauchen die Herren, um durch ihre Kartellpolitik eine unverschämte Teuerung hervorzurufen. Und endlich heißt es, für unsre große industrielle Entwicklung sei nicht mehr Platz im Vaterlande; sie brauche Absatzgebiete in allen Weltteilen, und dazu brauchen wir die zahllosen Soldaten und Schiffe. Wir Sozialdemokraten sind die letzten, die sich einer Entwicklung des deutschen Handels entgegenstemmen würden. Im Gegenteil. Wir haben allen Grund, mit ungetrübter Freude dem Aufschwung der deutschen Industrie und des Welthandels zuzusehen, und zwar aus zwei Gründen. Einmal bietet ein Blühen der Industrie der Arbeiterschaft Aussicht, wenn sie harte und kampftüchtige Organisationen hat, ihre Lage etwas zu bessern, und als Umstürzler sagen wir uns: Je rascher sich der Kapitalismus entwickelt, desto besser ist für uns die Aussicht auf das Endziel. Aber gerade als vernünftige Menschen fragen wir uns: Was hat die Entwicklung des Handels mit dem Militarismus zu tun? Nicht der Militarismus hat der deutschen Industrie Absatzgebiete geschaffen, sondern die Tüchtigkeit und Intelligenz der deutschen Arbeiterschaft. Wenn es den herrschenden Klassen nur um den Fortschritt zu tun wäre, brauchten sie nicht den Militarismus. Sie brauchten nur die Lage der Arbeiterschaft ökonomisch und politisch zu verbessern. Dann könnte Deutschland in Ruhe dem Wettkampfe auf dem Weltmarkte zusehen. Anstatt dessen sehen wir das Umgekehrte, daß man dem deutschen Arbeiter nach und nach die Rechte nimmt, um ihn auf das Niveau von Plantagenarbeitern herabzudrücken. Also trifft dieser Grund für die Kolonialpolitik nicht zu. In diesem Streben nach Ausdehnung, in diesen Kolonialkriegen handelt es sich um die letzten Versuche des Kapitalismus, seine Lebensfrist zu verlängern. Es ist die Frage aufzuwerfen, können wir etwas gegen den Krieg tun? Wir sind uns darüber klar, daß, solange der Kapitalismus existiert, wir den Krieg nicht abschaffen können. Aber wir werden den Kapitalismus besiegen, wenn wir mit aller Macht gegen den Imperialismus, gegen den Krieg den Kampf führen. Und da gilt es, die äußerste Kraft aufbieten, um auch dem letzten klarzumachen, daß es seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist, dahin zu streben, daß wir einmal über kurz oder lang den Moment erleben, wenn von den herrschenden Klassen an die Massen der Appell ergeht, wo es heißt, daß sich eine Masse auf die andre stürzen soll, daß dann einmal der Moment kommt, wo von den Massen erklärt wird: Das tun wir nicht! (Stürmischer Beifall.)

Man hat im Zusammenhang mit dieser Frage den Massenstreik erörtert, und auch von unsrer Seite hat man geglaubt, die Versicherung geben zu müssen, daß die deutsche Sozialdemokratie nicht daran denke, im Falle eines Krieges den Massenstreik zu inszenieren. Ich weiß nicht, und kein Sterblicher kann erklären, was die Sozialdemokratie bei einem nächsten Kriege tun wird. Allein, das eine können wir sagen, sowenig ein Mensch sagen kann, daß wir im Falle eines Krieges einen Massenstreik machen werden, sowenig kann er erklären, die Sozialdemokratie wird keinen Massenstreik machen. Im Gegenteil. Unsre Aufgabe ist, dahin zu streben, die Massen aufzurütteln, ihnen die Wahrheit der Situation [zu zeigen], das Vertrauen in die eigne Kraft einzuflößen, damit wir so schnell wie möglich den Moment erleben, wo sich die Soldaten weigern, einen schmachvollen Dienst zu leisten, und auch die Massen der Arbeiter durch die Waffe der gekreuzten Arme ihr Veto gegen die Verbrechen des Kriegs einsetzen. (Beifall.)

Wir sollen in wenigen Wochen an die Urne gehen, um durch den Stimmzettel, durch die Wahl der Abgeordneten das entscheidende Wort über die politische Entwicklung zu sprechen, und da sage ich: Es gilt, das auszunutzen, um durch Aufrüttelung der großen Masse den Sieg an die sozialistische Fahne zu heften. Wir gehen nicht auf den Mandatefang. Wir zählen nicht bloß die Stimmen, wir wiegen sie nach dem geistigen Gehalt. Wir wollen nicht eine große Masse urteilsloser Mitläufer; uns liegt daran, in jedem Wähler einen wetterfesten Streiter im Klassenkampfe zu gewinnen, solche Anhänger zu haben, die uns in guten und bösen Zeiten nicht verlassen.

Darüber müssen wir uns klar sein, daß ein scharfer Wind weht gegen die Sozialdemokratie. Nicht, daß wir Angst hätten. Wir fürchten keine Verfolgungen. Im Gegenteil. Wir sagen klar und offen den Massen: Macht euch darauf gefaßt, nicht bloß eure Stimme für uns zu geben, sondern auch euer Leben, wenn es nötig wird. (Beifall.) Deshalb brauchen wir diesen Wahlkampf, um unsre ganze Aufgabe vor die Augen der Massen zu stellen.

Wir leben in einer Zeit, wo der letzte Rest des Liberalismus unter dem Stampfen des Imperialismus zusammenbricht. Es gibt nicht eine bürgerliche Partei, die den Mut hätte, sich für die Ehre des Parlamentarismus einzusetzen. Wenn wir in Deutschland noch einen Parlamentarismus hätten oder eine Bürgerschaft, die einigermaßen auf ihre Tradition hielt, sie würde solche Leute wie einen Bethmann, einen Kiderlen zum Teufel jagen mit einem Denkzettel, daß sie nicht wagten, wieder vor die Augen des Volkes zu treten. Aber heute ist die Arbeiterschaft in Deutschland die einzige Macht, die gegenüber dem Treiben des persönlichen Regiments das Prinzip der Demokratie vertritt und sagt: Wir brauchen kein Instrument des Himmels, her mit der Republik!

So müssen wir für die kommende Reichstagswahl kämpfen. Und jeder Wähler, der mit dem Zettel an die Urne geht, muß es aus der Gesinnung heraus tun, wie Bebel in Dresden gesagt hat: Ich bin und bleibe ein Todfeind der bürgerlichen Gesellschaft. »Ich will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung bleiben, um sie in ihren Existenzbedingungen zu untergraben und sie, wenn ich kann, beseitigen.« (Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Dresden vom 13. bis 20. September 1903, Berlin 1903, S. 313.) (Stürmischer Beifall.)


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