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Der politische Massenstreik und die GewerkschaftenDiese Rede wurde auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes gehalten, die am 1. Oktober 1910 in Hagen stattfand.

Parteigenossen und Parteigenossinnen! Werte Anwesende! Ich muß gestehen, daß ich nicht minder als Sie überrascht war, als ich hier in der außerordentlichen Mitgliederversammlung des Metallarbeiterverbandes mehrere uniformierte Vertreter unserer Obrigkeit auf Erden erblickt habe. Ich habe erfahren, daß außer den paar hochgestellten Herren, die in diesem Raume weilen, auch noch eine ansehnliche Anzahl von Kommissaren und Schutzleuten in der nächstliegenden Wache aufgestapelt worden ist. (Bewegung.) Parteigenossen und werte Anwesende! Ich muß gestehen, daß auf mich diese Überraschung anders gewirkt hat als auf Sie. Nicht mit Entrüstung habe ich sie aufgenommen, sondern es ist ein wundervolles Gefühl der Sicherheit über mich gekommen. (Ironisches »Bravo!«)

Parteigenossen! Sie sind hier in Hagen wohl noch nicht soweit in der preußischen Kultur wie wir in Berlin; ich komme aus der Hauptstadt Berlin, und es gibt einen Stadtteil in Berlin, der Moabit heißt. Wir haben dort gelernt, Parteigenossen: Wo man Sicherheit und Ordnung bewahren will, da ist die preußische Polizei direkt unentbehrlich. (Lachen.) Verehrte Anwesende! Erst nachdem ich die Nachricht bekommen habe, daß unser Versammlungslokal so ausgiebig vom polizeilichen Schutz gesegnet worden ist, bin ich ganz ruhig, daß wir mit heilen Nasen, Ohren und Augen und sonstigen Körperteilen den Saal verlassen können. (Lachen.) Ich muß Ihnen gestehen, daß ich anscheinend eine ganz besondere Anziehungskraft für die Polizei besitze. (Heiterkeit.) Ich muß gestehen, daß ich jedesmal eine gewisse Freude und als Referentin auch eine gewisse Dankbarkeit empfinde gegenüber der löblichen Polizei. Ich muß Ihnen sagen, gerade die Anwesenheit dieser Herren mit ihren behelmten Häuptern gibt der Sache eine gewisse Spitze. (»Sehr gut!«) Und heute ist gerade die Anwesenheit der löblichen Polizei eine hübsche Folie für das Thema, das wir am heutigen Abend behandeln werden.

Ich werde im Laufe des heutigen Abends hoffentlich noch eine Gelegenheit haben, den speziellen Zusammenhang zwischen den Massenaktionen und Massendemonstrationen des Proletariats und der löblichen Polizei zu beleuchten. Ich glaube, es ist gut, wenn auch diese Herren einmal die Gelegenheit haben zu hören, was wir von ihnen denken. (»Sehr richtig!«) Ich verliere nie die Hoffnung, daß auch sie mal etwas lernen können, und daher sollten wir doch nicht so geizig sein mit unseren Worten und Lehren. Wir wollen auch einmal unsere Perlen vor die – preußische Polizei werfen.

Parteigenossen und werte Anwesende! In der Tat kann kein Thema in dem gegenwärtigen Moment in einer deutschen Gewerkschaftsversammlung aktueller sein als das Thema Massenstreik und Gewerkschaften. Wir haben uns hier versammelt, um dieses Thema zu diskutieren, um nachzudenken, gewissermaßen zwischen zwei gewaltigen Schlachten. Erst vor wenigen Wochen haben Sie hier in Hagen und Schwelm Mitte des Jahres 1910 waren in Hagen, Schwelm und anderen westfälischen Orten etwa 20 000 Metallarbeiter ausgesperrt worden. Unter Leitung der Organisation kämpften neben 2790 im Deutschen Metallarbeiter-Verband, im Hirsch-Dunckerschen Gewerkverein, in den christlichen Gewerkvereinen und im Schmiedeverband organisierten Arbeitern etwa 17 000 nichtorganisierte Arbeiter gemeinsam gegen die Versuche der Unternehmer, die trotz mannigfaltiger Schwierigkeiten geschlossene Front der Arbeiter zu spalten. einen mustergültigen, großartigen Kampf ausgefochten, wie er die Aufmerksamkeit und die Bewunderung der gesamten klassenbewußten Arbeiterschaft in Deutschland verdient, und in kurzer Zeit, werte Anwesende, werden Sie vielleicht gezwungen sein, Sie und Ihre zahllosen Kollegen und Kameraden, in ganz Deutschland in einen so gewaltigen Kampf einzutreten, wie wir ihn in Deutschland noch niemals erlebt haben. Sie wissen alle, daß in wenigen Tagen, übermorgen, die Vertreter der organisierten Arbeiterschaft mit den gewaltigen Kapitalmagnaten der Schiffsbauwerften in Verhandlung treten, wonach entschieden werden soll, ob 400 000 deutsche Metallarbeiter aufs Pflaster geworfen werden. Parteigenossen! Sollte das Tatsache werden und sollte daraus folgen, was höchstwahrscheinlich von der Solidarität, von dem Klassenbewußtsein, von der Kampfenergie der gesamten organisierten Metallarbeiterschaft zu erwarten ist, so würden wir in ganz Deutschland Zeugen eines Kampfes sein, wie er vielleicht in der Welt noch nie dagewesen ist, denn zusammen mit den nächsten Angehörigen und mit den Familien würden vielleicht eine Million Menschen im Kampfe sein, in einem Kampfe, in dem es sich handelt um Sein oder Nichtsein zwischen der stärksten Gewerkschaftsorganisation und dem übermächtigen, protzigen Kapital.

Parteigenossen! In einem solchen Moment, wie ich gesagt habe, zwischen zwei gewaltigen Schlachten, ist es gerade angezeigt für uns, über das Thema hier zu sprechen und nachzudenken, was für uns die aktuellste Frage des Gestern und des Morgen bedeutet. So, Parteigenossen, so, werte Anwesende, lernt einmal die kämpfende, organisierte Arbeiterklasse in Deutschland und anderwärts, mitten im Schlachtfelde, mitten im Feuer des Kampfes einen Moment erhaschen, um nachzudenken, zu analysieren, um das Bewußtsein zu schärfen, um die Waffen zu prüfen, die sie im Kampfe anzuwenden hat.

Und das ist ganz natürlich, das ergibt sich aus dem Wesen des Arbeiterkampfes selbst. Die moderne proletarische Klasse führt ihren Kampf nicht nach irgendeinem fertigen, in einem Buch, in einer Theorie niedergelegten Schema; der moderne Arbeiterkampf ist ein Stück in der Geschichte, ein Stück der Sozialentwicklung, und mitten in der Geschichte, mitten in der Entwicklung, mitten im Kampf lernen wir, wie wir kämpfen müssen. Parteigenossen und werte Anwesende! Das ist ja gerade das Bewundernswerte, das ist ja gerade das Epochemachende dieses kolossalen Kulturwerks, das in der modernen Arbeiterbewegung liegt: daß zuerst die gewaltige Masse des arbeitenden Volkes selbst aus eigenem Bewußtsein, aus eigener Überzeugung und auch aus eigenem Verständnis sich die Waffen zu ihrer eigenen Befreiung schmiedet. Und deshalb ist es außerordentlich wichtig, daß wir solche kurzen Momente des Stillstandes zwischen Schlachten, wie wir sie hier erleben, vollauf ausnutzen zu kriegerischen Erwägungen, zur Analyse, zur Prüfung aller Seiten, aller Fragen, aller Probleme, die das Leben an uns stellt.

Eines der wichtigsten Probleme, die jetzt sowohl die gewerkschaftlichen wie die sozialistischen Organisationen beschäftigen, nicht nur in Deutschland, sondern in allen modernen Ländern, ist das Problem des Massenstreiks. Und nun sehen Sie, wie eine interessante Erscheinung sich dabei herausstellt. Wie sooft, ergibt sich hier, daß die Geschichte nicht stehenbleibt, daß die Entwicklung vorwärtsgeht, daß für unser soziales politisches Leben und Tun vollauf gilt, was Mephisto in Goethes »Faust« gesagt hat: »Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage.« Alles verändert sich mit der Zeit.

Das erste Gebot für politische Kämpfer, wie wir es sind, ist es, mit der Entwicklung der Zeit zu gehen und sich jederzeit Rechenschaft abzulegen über die Veränderung in der modernen Welt wie auch über eine Veränderung unserer Kampfstrategie. Parteigenossen und werte Anwesende! In der Geschichte der Idee vom Massenstreik hat sich das ewige Gesetz der geschichtlichen Entwicklung in glänzender und schlagender Weise bestätigt. Sie wissen alle wohl, daß die Idee des Massenstreiks oder, wie er früher hieß, Generalstreiks keine Erfindung der letzten Tage oder Jahre ist. Im Gegenteil, schon seit Jahrzehnten gab es Leute, die es zu ihrer Spezialität, zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hatten, die Idee des Generalstreiks zu propagieren. Das waren die Anarchisten, namentlich die französischen und holländischen und andere. Sie werden ihn alle kennen, den Domela Nieuwenhuis, der sich besonders hervorgetan hat durch die Propaganda der Idee des Generalstreiks auf internationalen sozialistischen Kongressen. Sie werden alle wissen, daß namentlich in den romanischen Ländern, in Spanien, in Frankreich, ganz große Abteilungen der Gewerkschaften, die sogenannten Syndikalisten, den Generalstreik als die rettende und einigende Idee betrachten und propagieren. Und wir haben alle früher gesehen, daß diejenigen Arbeiter, die auf dem Boden des modernen wissenschaftlichen Sozialismus stehen, daß diejenigen Arbeiter, die die Notwendigkeit und die Wichtigkeit der Gewerkschaftsorganisation und des Kampfes begriffen haben, daß sie sich mit aller Energie gegen die Idee des Generalstreiks, wie sie von den Anarchisten propagiert wurde, gewehrt haben. Und das mit vollkommenem Recht. Parteigenossen! Der sozialistische internationale Kongreß in Brüssel 1891 Der Internationale Arbeiterkongreß in Brüssel fand vom 16. bis 22. August 1891 statt. wie der Kongreß in Zürich 1893 Der Internationale sozialistische Arbeiterkongreß in Zürich fand vom 6. bis 12. August 1893 statt. haben mit überwältigender Mehrheit der Vertreter der Arbeiterschaft aus allen Ländern die Idee des Domela Nieuwenhuis und seiner Freunde abgelehnt. In Frankreich haben wir ein interessantes Kapitel aus dieser Schwärmerei von dem Generalstreik noch neulich erlebt. Ich hatte selbst das Vergnügen, im Jahre 1900 an dem Internationalen Sozialistischen Kongreß in Paris teilzunehmen. Und Sie erinnern sich, wie stark damals, in der sogenannten Millerand-Krise, Alexandre-Étienne Millerand, der in der französischen sozialistischen Bewegung eine opportunistische Richtung vertrat, war vom 22. Juni 1899 bis 28. Mai 1902 im reaktionären bürgerlichen Kabinett Waldeck-Rousseau Handelsminister. Dieser erste praktische Schritt des Opportunismus zur Einordnung der französischen Arbeiterbewegung in den bürgerlichen Staat führte zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den revolutionären Kräften und Opportunisten. der französische Sozialismus gespalten war durch den großen Hader wegen des Eintritts eines Sozialisten in das bürgerliche Ministerium. Damals, auf dem Sozialistischen Kongreß in Paris, trat gerade ein Herr auf mit Namen Aristide Briand. Es ist derselbe Herr, der jetzt als Ministerpräsident in Frankreich die bürgerliche Regierung vertritt und womöglich die Sozialisten und organisierten Arbeiter verfolgt, schlimmer als jeder andere bürgerliche Minister. Dieser Herr war im Jahre 1900 noch kein Minister, sondern ein enragierter, verbissener Anhänger der Idee des Generalstreiks. Und ich habe in Paris seine dröhnende Rede anhören müssen, in der er uns und alle Marxisten beschimpfte als ganz rückständige Vertreter des Sozialismus, die nicht an die wahre, einzig befreiende Kunst des Generalstreiks glauben wollen. Parteigenossen und werte Anwesende! Wie gesagt, die Sozialisten, die auf dem Boden des Marxismus stehen, die Gewerkschaftler, die es mit der Gewerkschaftsorganisation ernst meinen, haben alle für diese Idee entweder ein mitleidiges Lächeln oder ein entrüstetes Achselzucken gehabt. Und mit Recht, denn was stellte sich heraus? Gerade in den Ländern, wo die Idee von der weltbefreienden Losung des Generalstreiks als des einzigen Mittels, von heute auf morgen aus der Hölle des Kapitalismus herauszukommen, gerade wo diese Idee grassierte, da lagen die Arbeiterorganisationen gänzlich danieder und sind bis auf den heutigen Tag noch die schwächsten aller Länder. Und nun war es einer von der deutschen Sozialdemokratie, unser alter, leider verstorbener, unvergessener Ignaz Auer (»Bravo!«), der mit seiner Kunst, scharfe epigrammatische Schlagworte zu prägen, mit zwei Worten die Lieblingsidee des Anarchismus abgetan hatte, indem er klipp und kurz erklärte: »Generalstreik – Generalunsinn.«

Parteigenossen! So standen die Dinge noch vor kurzem, und was sehen wir heutzutage? Blicken wir auf die bloßen Tatsachen hin, auf die Ergebnisse des letzten Jahrzehnts, auf die Jahre 1900 bis jetzt, blicken wir auf alle die Länder der kapitalistischen Entwicklung, so müssen wir konstatieren, daß in einem Lande nach dem andern, in einem Jahre nach dem andern die gewaltigen Generalstreiks und Massenstreiks ausbrechen. Parteigenossen! Ich will Ihnen nur noch einige der wichtigsten in Erinnerung rufen. Im Jahre 1900 hatten wir den gewaltigen Streik der Bergarbeiter in Pennsylvania, von dem die amerikanischen Parteigenossen behaupteten und erklärten, er habe für die Ausbreitung des sozialistischen Klassenbewußtseins mehr getan, als zehn Jahre Agitation es sonst tun. Im Jahre 1902 hatten wir den großen Massenstreik der Bergarbeiter in Österreich, der zunächst, wie es den Anschein hatte, resultatlos verlief, der aber in der Folge durch die Umstimmung der öffentlichen Meinung und durch den Druck auf die Regierung und auf das Parlament den neunstündigen Arbeitstag für die Bergarbeiter erobert hat. Wir hatten 1903 den Massenstreik der Bergarbeiter in Frankreich, der im weiteren Verlauf für die französischen Bergarbeiter den achtstündigen Arbeitstag erobert hat. Wir hatten noch im Jahre 1902 in Belgien den großen Massenstreik, den politischen Streik, den Kampf um das allgemeine Wahlrecht. Wir hatten 1904, gerade zu Beginn, im Januar, den gewaltigen Generalstreik der holländischen Eisenbahner, der den kolossalsten Eindruck auf die Welt gemacht hat und der die unerhörte Kunde verbreitet hat, daß plötzlich in Holland der ganze Verkehr und damit das ganze wirtschaftliche Leben lahmgelegt wurde, und der erst durch den Willen einer bestimmten Kategorie von Arbeitern zum Stillstand gebracht werden konnte. Und dann, Parteigenossen, kam das Jahr 1905. Im Januar des Jahres 1905 kam nach Europa eine Kunde, die wie aus einem Märchenlande lautete. Das war die Kunde, daß in der nördlichen Hauptstadt des Zaren aller Reußen – in Petersburg – plötzlich 100 000 bis 200 000 Proletarier den Massenstreik erklärt haben und zugleich sich vor das Schloß begeben haben, um politische Freiheit und den Achtstundentag zu fordern. Nun, Parteigenossen, seit jenem Tag verging kein Monat, ja kein Tag, da nicht in Rußland lokale Generalstreiks und Massenstreiks ausbrachen. In einem Lande, von dem bisher angenommen wurde, daß es überhaupt eine Ausnahme der alten Kulturländer darstellt. In einem Lande, von dem man annahm, daß die Gesetze der historischen Entwicklung ohnmächtig an seinen Grenzen, an seiner Schwelle zusammenbrechen, in einem Lande, nach welchem die Machthaber aus Deutschland und speziell aus Preußen mit Sehnsucht hinblickten, weil sie glaubten, dort sei der einzige Landesvater, dem seine Landeskinder so gar keine Sorge machten. Parteigenossen! In diesem Lande erhob sich zuerst eine gewaltige Masse von Proletariern und gebrauchte das Werkzeug des Massenstreiks, die Waffe des Massenstreiks, des politischen und gewerkschaftlichen zugleich, zum Kampfe gegen die Ausbeuterklasse und zur Eroberung der politischen Freiheit. Und als ein lebhaftes Echo, als ein Nachhall dieser Sturmperiode hatten wir im Herbst in Österreich eine Reihe gewaltiger Massenstreiks als Demonstration und Kampfmittel für das allgemeine Wahlrecht zum Reichsrat und zu den einzelnen Landtagen in Böhmen, Galizien und Triest. Im Jahre 1905 gleichfalls hatten wir in Italien den kolossalen Streik der Eisenbahner, in Galizien den Massenstreik von 200 000 Landarbeitern, derjenigen Kategorie, die im tiefsten Elend, in der tiefsten Erniedrigung lebt. Seitdem vergeht kein Jahr ohne einen gewaltigen Massenstreik in diesem oder jenem Lande. Im vergangenen Jahre, 1909, hatten wir den unvergessenen Generalstreik in Schweden, der Ihnen allen in frischer Erinnerung ist. In diesem Moment, in diesem Jahre hatten wir – ich werde Ihnen das, was Sie selbst erlebt haben, nicht in Erinnerung zu rufen brauchen – in Amerika zwei glänzend durchgeführte und siegreiche Massenstreiks. Der erste begann im März und endete im April, das war der Massenstreik in Philadelphia, der zweite, jüngst erst beendete war der Generalstreik von 70 000 männlichen und weiblichen Arbeitern der Frauenbekleidungsindustrie in New York, die es durchgesetzt haben, daß in der ganzen Branche in sämtlichen Werkstätten nur das als Gesetz gilt, was die Gewerkschaft der Arbeiter bestimmt. (»Bravo!«) Parteigenossen! Das ist sozusagen ein kurzer Überblick über die nackten Tatsachen der Geschichte des Massenstreiks des letzten Jahrzehnts. Und es genügt, diese Tatsachen festzustellen, um daraus den Schluß zu ziehen: Es hat sich in den Bedingungen der Verwirklichung des Massenstreiks Gewaltiges verändert in der letzten Zeit. Haben wir denn einen Grund anzunehmen oder zu denken, daß alle diese Massenstreiks und Generalstreiks, die ich Ihnen aufgezählt habe, sozusagen ein verspäteter Triumph der anarchistischen Idee seien? Nein, durchaus nicht, werte Anwesende, durchaus sind es nicht die Anarchisten, die einen Grund zum Triumphieren haben und einen Grund, uns darauf hinzuweisen, daß wir sozusagen mit Verspätung darauf gekommen sind. Merken Sie sich wohl, daß gerade in allen den Ländern, wo die wirksamsten und machtvollsten Massenstreiks in der letzten Zeit zustande gekommen sind, daß dort der Anarchismus gänzlich ausgestorben ist, und merken Sie sich die interessante Tatsache, daß während der russischen Revolution in jenem Lande, wo der Massenstreik als politisches Kampfmittel gewissermaßen aus der Taufe gehoben ist, gewissermaßen als epochemachendes, glänzendes Beispiel angewandt worden ist, daß in diesem Lande, das außerdem die Wiege des bekannten Theoretikers und Anarchisten Michael Bakunin ist, mit dem noch Marx und Engels in der Internationale heftige Kämpfe führen mußten – daß in Rußland selbst während der ganzen großen Revolution der Anarchismus nicht nur keine Rolle gespielt hat, sondern daß er gänzlich heruntergestampft worden ist von den siegreichen Scharen des organisierten Proletariats. (»Bravo!«) Denn, Parteigenossen, diese Tatsache muß doch geschichtlich hervorgehoben werden: Die einzige Form, in der sich der Name des Anarchismus dieser Schablone in der russischen Revolution erblicken ließ, das war als Aushängeschild des Lumpenproletariats, der Diebe, der Banditen und Strolche, die, um in irgendeinen idealen Mantel sich einzukleiden, sich anarchistische Kommunisten nannten und von der ganzen sozialistischen Arbeiterschaft als das, was sie sind, die Vertreter des Lumpenproletariats, erkannt wurden. Parteigenossen! Somit trennt sich gewissermaßen gleich zu Beginn unserer jetzigen Entwicklungsperiode die Idee des Massenstreiks von den anarchistischen Nährvätern und Propagandisten des Generalstreiks vollständig. Die Idee des Massenstreiks tritt auf als direkter Gegensatz zu den Hirngespinsten des Anarchismus. Denn, Parteigenossen und werte Anwesende, während für die alten Anarchisten die Idee des Generalstreiks ein wundertätiges Mittel sein sollte, um gewissermaßen durch einen Zauberschlag, von heute auf morgen, ohne große Mühe, plötzlich in ein Paradies des Sozialismus hinüberzuspringen, während für die Anarchisten die Idee des Massenstreiks ein direkter Gegensatz zur politischen Betätigung, zum politischen Kampf war, erblicken wir jetzt umgekehrt den Massenstreik als politische Waffe, die am meisten dazu dient, dem Volke politische Rechte zu erobern.

So, verehrte Anwesende, stellen sich die Tatsachen dar, und nun haben wir allen Grund, uns als denkende Kämpfer die Frage vorzulegen: Was ist geschehen, wieso ist es möglich geworden, daß eine Idee, deren Ausführbarkeit so lange Zeit unpraktisch erschien, unrealisierbar erschien, daß sie gewissermaßen jetzt zur täglichen Erscheinung geworden ist, daß sie heute auf jeder Tagesordnung der politischen und gewerkschaftlichen Bewegung steht? Wenn Sie die Antwort auf diese Frage mit jener Gründlichkeit geben wollen, die zu einem ernsten Politiker gehört, so müssen Sie vor allem einen Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte und namentlich des letzten Jahrzehnts werfen. Werte Anwesende und Parteigenossen, diejenigen, die in einem der wichtigsten Punkte des westlichen Industriegebietes wohnen, wissen selbst, was sie am eigenen Leibe erfahren haben. Der hervorragende Zug in der Entwicklung Deutschlands in der letzten Zeit ist die gewaltige Konzentration des Kapitals, die Konzentration und Ansammlung der Großindustrie in ihrer Macht gegenüber dem Proletariat! Parteigenossen, erinnern Sie sich, daß vor etwa zwölf Jahren in unseren eigenen Reihen, in den Reihen der Sozialdemokratie, sich sehr laute Zweifelstimmen hören ließen, die die Revision der ganzen Marxschen Lehre verlangten, die behaupteten, das, was Marx gesagt habe über die Linie, über die Richtung der organisatorischen Entwicklung des Kapitals, das alles müsse zum alten Eisen geworfen werden. Denn in Wirklichkeit entwickele sich der deutsche Kapitalismus nicht so, wie es Marx prophezeit habe. Man sagte, die Konzentration des Kapitals geht nicht so vor sich, denn viele kleine Betriebe erhalten sich noch am Leben, und auf diese Weise habe das Proletariat durchweg nicht so rasch nötig, mit der kapitalistischen Herrschaft ein Ende zu machen, und – Parteigenossen – kaum war diese Ansicht ausgesprochen, kaum begann das große Werk der Revidierung der Marxschen Lehre, da kam das Leben selbst und zeigte – und zwar in so deutlicher Weise, daß selbst ein Blinder es sehen mußte –, zeigte, daß in Deutschland die kapitalistische Entwicklung gewissermaßen nach Marxschen Voraussetzungen in glänzender Weise bestätigte, was unsere Lehre vorausgesagt hatte. Nirgends so wie in Deutschland hat sich gerade im letzten Jahre das Kapital in dieser Übermacht gegenüber dem Proletariat zu einer gewaltigen Macht zusammengeballt.

Nirgends so wie in Deutschland, und speziell hier im westlichen Industriegebiet. Blicken Sie nur auf die wichtigsten Industriezweige. Überall ist fast das gesamte Kapital, die gesamte Macht über die Produktionsmittel konzentriert in wenigen Händen, in Kartellen, die allmächtig das ganze Gebiet beherrschen. Dasselbe bezieht sich auf die Kohlenindustrie, auf die Eisenindustrie, dasselbe bezieht sich in der letzten Zeit auf die Textilindustrie. Was bedeutet die Entwicklung der Kartelle gegen die Arbeiterschaft? Vor einigen Jahren hat der deutsche Reichstag eine besondere Enquête, eine Untersuchung über das Wesen und die Natur der deutschen Kartelle eingerichtet. Es waren die Vertreter der verschiedenen Kartelle, die Großmagnaten, zusammenberufen, und sie mußten auf verschiedene ihnen gestellte Fragen den Vertretern des Reichstages und der Reichsregierung Antwort geben. Eine unter diesen Fragen lautete: Wie stellen sich die deutschen Kartelle der Großindustrie zu den Arbeiterfragen, welchen Einfluß nehmen sie auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen? Darauf antworteten die Herren Vertreter der Kartelle und namentlich der Herr Kirdorf aus Gelsenkirchen mit Entrüstung: Die Kartelle mischen sich absolut nie ein in die Arbeiterverhältnisse. Die Arbeitsbedingungen gehen die Kartelle durchaus nichts an. Unser Vertreter, der Reichstagsabgeordnete Molkenbuhr, hat darauf damals schon den Herren ins Gesicht gesagt, daß sie es mit der Wahrheit ein bißchen auf die leichte Schulter genommen haben bei dieser Erklärung. Und sogar Professor Schmoller, ein durchaus konservativer Mann, erklärte, er könne es nicht glauben, daß die Kartelle ihre Macht nicht dazu ausnutzen, um auf die Arbeitsbedingungen irgendeinen Druck auszuüben. Aber, Parteigenossen, werte Anwesende, wenn es irgendeines Beweises bedurfte, daß die Kartelle direkt eine feindliche Macht gegen die Arbeiterschaft sind und namentlich gegen die Arbeiterorganisationen, so hat die jüngste Bauarbeiteraussperrung Am 15. April 1910 hatten etwa 160 000 Bauarbeiter den Kampf gegen eine Massenaussperrung im Baugewerbe begonnen, um ihre Forderungen nach Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung, nach örtlichen Tarifverträgen und Agitationsfreiheit durchzusetzen. Der Streik dauerte in einigen Großstädten bis Anfang Juli. den glänzendsten Beweis geliefert. (»Sehr richtig!«) Und es ist absolut notwendig, daß jeder von Ihnen als Kämpfer und Vertreter der Arbeiterorganisationen sich diese Tatsache merkt, um sie unserem Gegner vor die Augen zu halten. Während der Bauarbeiteraussperrung – als Hunderttausende von Arbeitern mit Frauen und Kindern dem Hunger ins Auge blickten, als sie nicht wußten, wovon sie morgen den Hunger ihrer Kinder stillen sollten, als sie durch ein Machtwort einer Clique von Hamburger Kapitalisten am Hungertuche nagen mußten –, da erklärten diese Kartelle, namentlich der Stahlwerksverband, die Baumaterialienhändler, sie erklärten alle wie ein Mann: Jetzt heißt es, die Bauunternehmer zu unterstützen. Und um diejenigen Bauunternehmer, die sich weigerten, dem Machtwort ihres Verbandes zu folgen, und die ihre Arbeiter nicht aussperren wollten, um diese wenigen Bauunternehmer zur Aussperrung zu zwingen, haben ihnen die hiesigen Lieferanten das Material zu Bauten zu verweigern versucht, um auf diese Weise einen Druck auszuüben auf die Arbeiter. (›Pfui!‹) Diese Tatsache bleibt ein geschichtlicher Beleg dafür, daß die Vertreter der deutschen Kartelle, während ihnen die Vertreter des Reichstages und der Regierung die Frage vorlegten nach den Arbeitsbedingungen, direkt schamlos gelogen haben (›Sehr richtig!‹), als sie es leugneten, daß sie einen Druck gegenüber den Arbeitsbedingungen gebrauchten. Aber, Parteigenossen, neben Kartellen und Syndikaten, die sich nicht bloß mit der Organisation der Produktion zu befassen haben, haben wir ja im letzten Jahrzehnt eine ganze Reihe von Arbeitgeberorganisationen bekommen, die schon unverhüllt den Zweck verfolgen, einen tödlichen Krieg gegen die Gewerkschaften zu führen. Wir haben jetzt fast in jedem Gewerbe Vereinigungen von Arbeitgebern, die durchaus durch Lohndrückung, durch Aufzwingen von Zwangsarbeitsnachweisen es versuchen, den Arbeitern die Früchte der langjährigen, mühevollen Gewerkschaftsarbeit zu entziehen und ihnen das Koalitionsrecht streitig zu machen. Parteigenossen! Alle diese Arbeitgeberverbände sind zentralisiert in zwei Spitzen, in der Hauptstelle der Arbeitgeberverbände und in dem Verein der Arbeitgeberverbände. Und nach dem neuen »Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich« von 1910 ergibt sich, daß beinahe 270 000 Arbeiter zu ihrem Machtbereich zählen. Nun, Parteigenossen, in Wirklichkeit ist die Macht dieser Arbeitgeber eine viel ausgedehntere, denn wir wissen ja alle, daß diese Herrschaften am meisten das Dunkel lieben, daß sie sich durchaus nicht beeilen, mit ihren Organisationen, mit ihren Praktiken an das Sonnenlicht der Öffentlichkeit zu treten. In Wirklichkeit ist der Zusammenhang, ist die Verbindung des kapitalisierten Unternehmertums z.B. gegen die Arbeiterschaft und ihre Organisationen eine unendlich größere, als in der Öffentlichkeit bekannt ist. Nun aber, Parteigenossen, nachdem wir gesehen haben, daß auf diese Weise die wirtschaftliche Entwicklung des letzten Jahrzehnts direkt dazu geführt hat, eine gewaltige Masse von Kapital gewissermaßen wie eine beseelte Macht mit einheitlichem Willen und einheitlichem Haß gegen das Proletariat in das Feld zu führen, werfen wir einen Blick auf die politische Seite der Entwicklung. Was sehen wir in der letzten Zeit auf der politischen Bühne Deutschlands? Der Zusammenhang zwischen der ökonomischen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung zeigt sich in einer charakteristischen Weise. Und das wissen wir alle, daß gewissermaßen das Zentrum, die Spitze des ganzen Unternehmerscharfmachertums der berühmte Zentralverband Deutscher Industrieller ist, an dessen Spitze Bueck stand, von dem Sie alle die aufsehenerregende Affäre wissen von den 12 000 Mark, die er der Regierung angeboten hat zu Zwecken, die mit dem Wohle der Arbeiterbewegung wenig gemein haben. Der Generalsekretär des Zentralverbandes Deutscher Industrieller Henry Axel Bueck hatte 1898 dem Reichsamt des Innern 12 000 Mark zur Finanzierung der Agitation für die Zuchthausvorlage zur Verfügung gestellt. Nun ist aber dieser Zentralverband Deutscher Industrieller – der größte Scharfmacher gegenüber allen Arbeiterorganisationen und zugleich die höchste Spitze der Hochschutzzollpolitik, zugleich die größte Stütze der reaktionären Maßnahmen sowie das größte Hindernis aller sozialen Forderungen im Deutschen Reiche – eine Unterstützung aller Maßnahmen der Konservativen Partei. Werte Anwesende, es gibt nichts, keine Erscheinung, die in so typischer Weise die sozialen Schäden unserer Volksentwicklung offenbart, sie auch dem blödesten Auge gezeigt hat, wie das Schauspiel, das sich in Deutschland und speziell in Preußen in letzter Zeit beim preußischen Wahlrechtskampf abgespielt hat. Was hat sich dabei herausgestellt? Es hat sich herausgestellt, daß das Volk zu Mitteln greifen muß, die die Arbeiterklasse notwendig hat, um die elementarsten politischen demokratischen Rechte zu erkämpfen, die von Rechts wegen bereits durch den wirklichen Liberalismus hätten erkämpft werden sollen. Es handelt sich immer noch um den Kampf um das allgemeine Wahlrecht für beide Geschlechter zum preußischen Landtag.

Parteigenossen und werte Anwesende! Es ist eine höchst bezeichnende Tatsache, daß wir bereits in Preußen einmal das allgemeine Wahlrecht hatten, um das man jetzt mit so vieler Mühe kämpfen muß. Diese Zeit, in der wir dieses Wahlrecht einmal erkämpft hatten, das war der 18. März 1848. Parteigenossen, erinnern Sie sich der Ereignisse, die damals in Deutschland stattfanden! Damals, an diesem denkwürdigen Tage, war das Volk von Berlin auf die Straßen gegangen. Es hat damals Barrikaden gebaut, es hat den Truppen des Königs Schlachten geliefert, es hat die Truppen geschlagen. Das Volk von Berlin hat am andern Tage, am 19. März, seine Toten erhoben, vor das Schloß des Königs getragen, und es hat den König Friedrich Wilhelm gezwungen, der einst das stolze Wort gesprochen hatte, daß er es nie dulden werde, daß zwischen ihn und seine Untertanen ein geschriebenes Blatt Papier, genannt Verfassung, sich schieben sollte – das Volk hat diesen stolzen Herren gezwungen, vor dem Volke, vor dem Feuer des Barrikadenkampfes das Haupt zu entblößen und den Siegern der Barrikaden das beschriebene Blatt Papier zu Füßen zu legen. Parteigenossen! Damals, auf diesem Blatt Papier, das ihr dem König abgetrotzt habt, stand das allgemeine Wahlrecht für alle Preußen, die das 20. Lebensjahr zurückgelegt hatten. Aber, werte Anwesende, die damalige Freiheit war eben noch ein Blatt Papier, und es galt, diese Freiheit ins Leben zu führen, und dazu war das damalige arbeitende Volk Preußens und Deutschlands noch nicht reif genug. Damals hatten wir noch nicht die gewaltige kapitalistische Entwicklung wie heutzutage und nicht die Arbeiter, das klassenbewußte Proletariat, sondern die liberale Bourgeoisie. Sie bekam die Macht in die Hände. Es waren gerade die Vertreter der damaligen Industrie in Westfalen und im Rheinland, die Herren Camphausen und Hansemann, die zu Ministern ernannt wurden nach dem Krach des 18. März 1848. Was hätte damals die liberale Bourgeoisie tun sollen dank dem Blutvergießen, dank den Lebensopfern des arbeitenden Volkes, wenn sie es mit ihrem politischen, mit ihrem liberalen Programm ernst meinte? Parteigenossen! Es ist klar, daß vor allem damals schon die liberale Bourgeoisie, als sie an die Macht gekommen war, wenn sie es mit ihrem Programm ernst meinte, als erste Sache die ganze vormärzliche vermorschte Staatsmaschinerie hätte zertrümmern, in ganz Deutschland die Republik hätte proklamieren sollen. (»Bravo!«) Parteigenossen! Der bürgerliche Liberalismus von damals hat es nicht getan, er hat versäumt, die Freiheit, die frisch vom Volke erobert war, zu befestigen und zu sichern. Die Bourgeoisie hat im Gegenteil so schnell wie möglich hinter dem Rücken des Proletariats aus eigener Macht mit dem Thron und mit dem Feudalismus Frieden geschlossen und das Volk um die Früchte des Kampfes betrogen. Und weshalb? Weil sie schon damals mehr das Volk fürchtete und haßte als die gesamte preußische Reaktion! Parteigenossen, seit jener Zeit erleben wir einen immer tieferen und tieferen Verfall des Liberalismus. Bemerken Sie folgende interessante Sache! Woher kommt die jetzige größte Reaktion innerhalb der liberalen Partei? Aus dem hiesigen westlichen Industriegebiet! Während im preußischen Wahlrechtskampf das Proletariat unter Führung der Sozialdemokratie die alten Schulden der bürgerlichen Liberalen zu bezahlen hat, um das gleiche, allgemeine Wahlrecht zu erkämpfen, um das uns die Väter unserer Liberalen 1848 bestohlen haben, kommt von den rheinisch-westfälischen Nationalliberalen die reaktionärste Strömung innerhalb des Nationalliberalismus. Nun gerade zeigt es sich, daß das gewaltige Kapital, das als Scharfmacher auftritt gegen die eigenen Arbeiter, zugleich das feste Bollwerk der Reaktion auch im politischen Leben ist. Und so sehen wir auf allen Gebieten – in der berühmten Finanzreform, der Hochschutzzollpolitik und den immer steigenden Ausgaben für Militarismus, in den weltpolitischen Abenteuern – einen gewaltigen Zug, daß wir sagen müssen, heutzutage bei der Verteidigung der Interessen der Freiheit, der Interessen der Demokratie steht das arbeitende Volk, steht die Sozialdemokratie ganz allein auf sich angewiesen. Sämtliche bürgerliche Parteien stehen uns in einem vereinten Lager der Reaktion gegenüber.

Daraus ergibt sich, Parteigenossen, daß auch auf politischem Gebiet jeder Schritt vorwärts, daß jedes politische Recht nicht anders als durch die arbeitenden Massen selbst in einer großen kühnen Aktion oder vielmehr in vielen langen Aktionen der Massen draußen auf der Straße erworben werden kann. Wir haben ja bisher schon manchen Schritt vorwärts getan, wir haben erlebt, Parteigenossen, in diesem Kampfe um das preußische Wahlrecht, daß die bestehende herrschende Ordnung auch vor brutalsten Eingriffen in unsere bürgerlichen Rechte nicht zurückschreckt, um uns den Sieg zu erschweren. Denken wir alle an das schöne Erlebnis, das wir am 6. März im Berliner Tiergarten hatten, wo wir, eine vieltausendköpfige Menge, ganz ruhig und friedlich in der Frühlingssonne standen und nichts anderes taten, als einmal über das andere zu rufen: »Das allgemeine, gleiche Wahlrecht lebe hoch!« Da zeigte sich plötzlich auf dem Platz eine Truppe berittener Polizisten, die mit geschwungenen Säbeln wie eine wilde Horde auf uns losstürmten. Da zeigte es sich, wozu, zu wessen Sicherheit die Polizeisäbel getragen werden. Parteigenossen! Mit Ruhe und Gelassenheit können wir diese vergangene Geschichte erzählen, wir haben diese Herren gezwungen, ihre Säbel wieder in die Plempen zu stecken. Parteigenossen! Wir haben noch mehr gezeigt, wir haben den Chef der Polizei in Berlin gezwungen, nachdem er gewaltige Proklamationen gegen uns, die revolutionäre Partei, erließ und plakatierte, die Straße gehört dem Verkehr, Demonstrationen werden nicht geduldet, uns die Straße einzuräumen, und ihn gelehrt, daß die Straße uns, der Masse der Arbeiter, gehört. (»Bravo!«) So, Parteigenossen, hat uns die Massenbewegung bis jetzt schon gezeigt, daß jeder Schritt vorwärts unter dem Druck der gewaltigen Masse der Arbeiter draußen auf der Straße erzwungen werden muß. Und genauso, wie wir bisher den ersten Sieg über die blutige Faust der Polizei ertrotzt haben, so werden wir nicht anders als auf der Straße und durch große proletarische Massendemonstrationen das Dreiklassenwahlunrecht zerschmettern. (»Sehr richtig!«) Parteigenossen! Gerade in diesem preußischen Wahlrechtskampf kann und beinahe muß sich früher oder später der Gebrauch der äußersten und schärfsten Waffe, die das organisierte Proletariat zur Verfügung hat, als notwendig erweisen: der Gebrauch des politischen Massenstreiks. Mögen die herrschenden Gewalten in Preußen noch viel mehr mit dem Säbel fuchteln. Sie haben vielleicht alle gehört, welch neue schöne Geheimnisse von jener Seite auf unserem letzten Magdeburger Parteitag Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Magdeburg fand vom 18. bis 24. September 1910 statt. offenbart wurden, wie wiederum ein Herr aus Westfalen, der gewesene Kommandierende General von Bissing, einen ganzen Feldzugsplan gegen das in den Straßen demonstrierende Proletariat entworfen hat. Mögen die Herrschaften, wie sie am 6. März in Berlin getan haben, ihre Kanonen, ihre mit scharfen Patronen geladenen Gewehre gegen die Massen richten. Gegen die Waffen, die wir in Vorrat haben, helfen keine Kanonen, keine scharfen Säbel (»Bravo!« »Sehr richtig!«), alle bisherigen Erfahrungen haben das bereits gezeigt. Kann denn irgendein Staat, mag er an Verblendung, mag er an Brutalität sogar den preußischen Staat übersteigen, kann er gegen Hunderttausende ruhig und friedlich streikende Arbeiter die Kanonen ausfahren lassen? Töricht und verblendet wäre derjenige Staat, der eine so gewaltige Menge Arbeiter niedermetzeln wollte. Denn er würde ja mit eigenen Händen die Biene morden, von deren Honig er als Drohne lebt. (»Bravo!« »Sehr richtig!«) Und, Parteigenossen, kann irgendein Staat – und mag er sämtliche Kanonen gegen uns ausfahren lassen –, kann er friedlich streikende Arbeiter dazu zwingen, die Maschinen in Bewegung zu setzen? Nein! Das vermag auch der despotischste Staat nicht zustande zu bringen, und so erweist sich, daß gerade die friedliche und ruhige Waffe des politischen Massenstreiks die schärfste Waffe ist, zu der wir vielleicht greifen müssen, wenn die herrschende Reaktion in ihrer Verbohrtheit und Verblendung weiter beharrt. Während so, Parteigenossen, die politische Entwicklung uns gerade dazu zwingt, zu Massenstreiks immer mehr zu greifen, um die elementarsten politischen Rechte zu erobern, führen wir genau nach derselben Richtung eine solche Politik in der Gewerkschaftsbewegung.

Werte Anwesende! Welchen Umständen verdanken wir die letzten großen Massenstreiks auf wirtschaftlichem Gebiet, und namentlich welche Lehren müssen wir ziehen aus dem Gewitter, das heraufzieht über Ihrem blühenden Metallarbeiterverband? Es sind ja die Kapitalisten selbst, die mutwillig und planmäßig darauf ausgehen, uns zu einer gewaltigen Kraftprobe zu provozieren. Nach den Erfahrungen der Bauarbeiteraussperrung ist es geradezu durch Dokumente erwiesen worden, daß der Streik gegen die Organisation der Bauarbeiter von langer Hand vorbereitet war, daß die Unternehmer es planmäßig dazu führten, durch Aussperrungen Proletarier zu einem Verzweiflungskampf zu zwingen, und genau derselbe Plan liegt dem jetzigen Plan der Schiffsbaukapitalisten ebenso wie der Kapitalisten der Metallindustrie zugrunde. Wenn auf diese Weise die Kapitalisten selbst, die Unternehmer, es in der Hand haben, dank der Protektion einer zusammengefügten Gewalt uns durch Aussperrung zu einem Massenstreik zu zwingen, so ergibt sich als eine dringende Notwendigkeit für unsere gewerbliche Organisation, mit der Waffe des Massenstreiks auf den Kampf zur Verteidigung des Koalitionsrechtes später einmal als unvermeidlich zu rechnen. Daraus ergibt sich, daß es die praktischste Sache ist, der Zukunft klar in die Augen zu blicken, sich zu sagen, je mehr die Massen des Proletariats dazu vorbereitet werden durch klare Erfassung der gesamten Lage, durch das Bewußtsein der großen Aufgaben, die ihnen bevorstehen, je mehr sie vorbereitet werden, diesen großen Kampf auszufechten, um so mehr Chancen haben wir, aus diesem Kampf als Sieger hervorzugehen.

Werte Genossen! Es stellen sich mehrere Argumente gegen den Gebrauch des Massenstreiks ein, die meist ins Feld geführt werden. Zunächst wird uns gesagt: Wir gehen bei einem Massenstreik, namentlich bei einem politischen Massenstreik, ein gewaltiges Risiko ein, indem wir die gewerkschaftliche Organisation einer gewaltigen Gefahr aussetzen. Unsere Gewerkschaftsorganisation könnte bei einem solchen großen Zusammenstoß in Stücke geschlagen werden. Es stimmt schon, daß in diesem oder jenem stürmischen Massenstreik vielleicht unsere Organisation im ersten Moment beschädigt werden könnte. Aber es gibt Lagen, und wir kommen immer mehr in diese Lage, wo ein Kampf auch unter ungünstigen Bedingungen aufgenommen werden muß, wenn überhaupt die Ehre der organisierten Arbeiterbewegung verteidigt werden soll.

Parteigenossen! Die gewerkschaftlichen Organisationen sind ja vor allem dazu geschaffen, uns in unserem Kampfe – namentlich zur Verteidigung unseres allerersten Rechtes, des Koalitionsrechtes, das jetzt so bedroht wird –, um uns dazu als Waffe im Kampfe zu dienen. Unsere gewerkschaftlichen Organisationen sind ja unsere Kanonen im Kampfe um eine bessere Zukunft. Was würden Sie sagen von einem militärischen Staat, welcher erklären würde, er könne nicht in den Krieg ziehen aus der Befürchtung heraus, seine Kanonen könnten dabei zerschmettert werden? Wozu haben wir die Kanonen anders, als um damit gegebenenfalls auf den Feind zu schießen? Andererseits sind unsere Waffen nicht von so plumper Beschaffenheit wie die Waffen der Militärstaaten. Die Kanonen der Militärstaaten können wirklich in einem Kampfe zerschmettert und unbrauchbar gemacht werden. Unsere Organisationen aber, sie bewähren sich im Kampfe, sie können nur existieren im Kampfe, sie wachsen nur im Kampfe. Erinnern Sie sich an die Zeit des Sozialistengesetzes. War das nicht die schwerste Zeit, die die deutschen Gewerkschaften zusammen mit der deutschen Sozialdemokratie erlebt haben? Wie sah es in unserer Organisation denn aus im ersten Moment nach der Verwirklichung des Sozialistengesetzes? Unsere Gewerkschaften waren zerschmettert, unsere Presse lahmgelegt, unsere Organisation vernichtet, aber wie sahen wir aus nach zwölf Jahren, als das Sozialistengesetz aufgehoben werden mußte? Da standen wir da mit verzehnfachter Kraft, das Sozialistengesetz lag zerschmettert. (Tosender Beifall.) Und so wird es immer gehen in dem großen Kampfe, der uns durch unsere Gegner aufgezwungen wird.

Parteigenossen! Was zeigen die Erfahrungen der letzten Zeit? Sie zeigen uns, daß es keine günstigere Zeit zum Ausbau der gewerkschaftlichen Organisationen gibt als einen großen Massenkampf, der die indifferenten Massen des Proletariats aufrüttelt und sie aufnahmefähig macht für den Anschluß an die Organisationen. (»Sehr richtig!«) Sie haben es hier in Hagen erlebt, wo seit der letzten Aussperrung Ihr Metallarbeiterverband in so glänzender Weise einen Zuwachs aufzuweisen hat. Genau ebenso bestätigt sich dies auch anderswo. Nehmen Sie zum Beispiel das früher erwähnte Rußland. Bis zum Jahre 1905 gab es in Rußland fast keine Gewerkschaftsorganisationen. Infolge der gewaltigen Massenstreikaktion, die wir im Jahre 1905 dort erlebt haben, wachsen sie wie Pilze aus der Erde in einem Gouvernement nach dem andern. Kräftige, junge Gewerkschaftsorganisationen. Dasselbe hat seinerzeit in Belgien stattgefunden. Bis zum Jahre 1886 gab es in Belgien keine Spur von Gewerkschaftsorganisation. Zuerst kam da ein Zeichen des allgemeinen Erwachens nach dem Sturm von Massenstreiks in den Eisenwerkstätten. Aus diesen Massenstreiks wurde einerseits geboren die politische Bewegung, der Kampf um das allgemeine, gleiche Wahlrecht und zugleich die erste Gewerkschaftsorganisation Belgiens. Und die jüngste Erfahrung zeigt uns nach dieser Hinsicht sehr lehrreiche Beispiele in Philadelphia in Amerika. Ich habe zwei Zeugnisse davon, die ich Ihnen vorlesen möchte, weil wir keinen besseren Beweis haben, wie befruchtend auf die Erstarkung der Gewerkschaftsorganisationen solche elementaren Massenstreiks wirken, als gerade das Beispiel von Philadelphia. Es war zu Beginn des Frühjahrs dieses Jahres, am 5. März, daß in Philadelphia den organisierten Trambahnangestellten gekündigt worden ist. Gerade weil sie organisiert waren. Zur Verteidigung ihrer Genossen erklärten sämtliche Trambahnangestellte und dann sämtliche Berufe dieser Stadt den Generalstreik. Der Generalstreik ist glänzend mit einem Siege beendet worden. Außerdem ergab sich seitdem ein gewaltiger Zuwachs an Gewerkschaftsorganisationen. So lesen wir z. B. in der deutsch-amerikanischen Bäckerzeitung, ehe der Generalstreik in Philadelphia zur Wirklichkeit wurde, waren dort kaum 350 Bäckereiarbeiter organisiert. Keine der großen Brotfabriken – und Philadelphia hat deren wie jede andere Großstadt eine ganze Anzahl – war organisiert, aber in dieser Massenversammlung war ein jeder Bäckereiarbeiter des größten Etablissements von Philadelphia anwesend, und dort erklärten sie, daß die Fabrik unionisiert werden müsse, ehe sie wieder an die Arbeit gehen würden. »Für unseren Verband ist jetzt die Stunde des Handelns gekommen, unsererseits darf nichts ungeschehen bleiben. Ein jeder zur Verfügung stehender Genosse mit organisatorischer Fähigkeit wird nach Philadelphia berufen werden, um dort unsern Genossen behilflich zu sein, um dort die Situation so gut wie möglich auszunutzen. Die Zeit ist da, und unsere Armee kann durch die Bäckereiarbeiter von Philadelphia einen gehörigen Zuwachs bekommen. Bis jetzt hat Philadelphia geschlafen. Brutal und plötzlich ist es aus seinem Schlaf aufgerüttelt worden. Das Proletariat von Philadelphia ist jetzt aufgebracht und voller Energie.« Das bezieht sich auf einen Beruf, der mit der ursprünglichen Ursache des Streiks gar nichts zu tun hatte. Die Bäcker haben sich organisiert infolge des Massenstreiks, der aus Sympathie für die Trambahnangestellten hervorgerufen wurde.

Und hier ein anderes Zeugnis aus der Textilindustrie von Philadelphia. Herr John Golden, der Führer der Textilarbeiter und -arbeiterinnen, erklärt: »Dieser Streik hat uns die Möglichkeit geschaffen, für unsere Organisation mehr Leute zu erreichen, als wir in fünf Jahren mit einem Aufwand von 10 000 Dollar hätten erreichen können. Es bedeutet das die vollständige Organisation der Textilarbeiter von Philadelphia. Wir haben bereits 5 000 neue Mitglieder eingetragen, wir erwarten, daß wir bis Ende der Woche noch eben so viele gewinnen werden. Die Erziehung und Erweckung der Lohnarbeiter zum Verständnis der Notwendigkeit, sich selbst zu organisieren, ist jedes Opfer wert, das dieser große Kampf erfordert haben mag. Ganz gleich, wie das Ergebnis des augenblicklichen Kampfes sein mag, die Arbeiter werden als Sieger daraus hervorgehen, denn sie werden stärker organisiert sein als vorher.« So, werte Anwesende, ergibt sich überall, daß gerade die gewaltigen Massenstreiks eine große Masse der bisher indifferenten Arbeiterschaft aufrütteln, daß sie glänzende Agitation für das Werk der Organisation der Gewerkschaften sind. Und nun noch ein anderes Bedenken gegen die Massenstreiks. Parteigenossen! Man weist uns darauf hin – und das hat auch eine große Rolle gespielt bei der Besprechung des Massenstreiks im preußischen Wahlrechtskampf –, man weist uns darauf hin, daß wir noch zu sehr zu tun hätten mit einer großen Masse gegnerisch organisierter Kollegen. Wir haben noch mit den christlich organisierten Arbeitern zu tun, die nicht auf unserem Standpunkt stehen, und können wir denn eine so große Aktion wie die des politischen Massenstreiks unternehmen, da wir gegen uns noch so große Scharen andersdenkender Proletarier haben? Parteigenossen, diejenigen, die diese Befürchtung aussprechen, müssen erkennen, daß die Geschichte gerade in dieser Hinsicht umgekehrt wirkt, als sie behaupten. Nicht die christlich Organisierten können ein ernstes Hindernis bei der Massenstreikaktion darstellen, sondern umgekehrt. Es gibt kein sichereres Mittel, die großen Scharen der genasführten Arbeiterschaft von ihren bürgerlichen Führern in christlich-sozialen und anderen Verbänden loszureißen und zu uns zu bringen, als eine kühne, große Massenaktion. Denn, Genossen, je mehr Massenbewegungen kommen, je mehr es sich im Kampfe um große Fragen, um große Probleme, um Grundinteressen des Proletariats handelt, um so mehr müssen die Massen, auch die christlichen Gewerkschaften und Hirsch-Dunckerschen, mit uns zusammengehören, und je mehr kommt heraus, was wir sagen, daß die ganze Politik ihrer Führer in den Verbänden in Wirklichkeit nichts anderes als eine Nasführung der Gewerkschaften ist. Parteigenossen! Deshalb müssen wir uns jedesmal freuen, wenn durch eine große Massenbewegung die Anhänger der christlichen Verbände und der Hirsch-Dunckerschen Verbände zusammen marschieren. Freilich, dieses Marschieren hat nur dann seinen Zweck erfüllt, wenn wir dabei die volle Öffentlichkeit haben und diese politisch ausnutzen und die Massen, die hinter den bürgerlichen Führern herlaufen, aufklären über das eigentliche Wesen ihrer Interessen und Aufgaben.

Parteigenossen! Es gibt noch einen weiteren Einwand, der scheinbar sehr plausibel und eine sehr gefährliche Waffe gegen den politischen Massenstreik ist, und dieser Einwand ist gewöhnlich der: Wir stellen den Hauptfaktor der Macht unserer gewerkschaftlichen Organisationen, wir stellen unsere Kasse, unsere finanziellen Mittel auf die Probe. Keine Gewerkschaft kann von sich, vor eine gewaltige Massenbewegung, vor einen gewaltigen Massenstreik gestellt, erklären: Wir haben in unserer Gewerkschaft Mittel genug, um ungezählte Hunderttausende während langer Monate unterhalten zu können. Aber, Genossen, die ganze Auffassung der Sache ist vollständig falsch. Wir können nicht vom Standpunkte des Kassenbestandes überhaupt so gewaltige Bewegungen, wie politische Massenstreiks es sind, erwägen. In solchen Fällen müssen wir vor allem rechnen auf etwas anderes als auf die klingende Münze in unsern Kassen und Kassenbüchern. Wir müssen rechnen auf die unerschöpfliche Quelle des Idealismus bei der Ausführung der Sache. Mit Kassen allein können solche gewaltigen Schlachten, wie sie uns jetzt bevorstehen, in Zukunft nimmermehr geschlagen werden. Da muß die große Hingebung an unsere großen Ziele und Aufgaben angespannt werden, da muß der letzte aus der Masse verstehen, daß es sich um solche Aufgaben handelt, um derentwillen man nicht nur monatelang darben kann, um derentwillen man nötigenfalls das Leben drangibt. (»Bravo!«) Parteigenossen! Bis jetzt hat noch niemals die Rechnung auf die Ideale der Massen in unserer Geschichte versagt. Haben wir nicht Beispiele genug gehabt während des modernen proletarischen Kampfes um die Befreiung, daß die Massen wohl das Allerschwerste zu ertragen verstehen? Wenn sie nur vor sich klar das Ziel erblicken, das dazu führt, sie von dem Joch des Kapitalismus zu befreien. Parteigenossen! So war es im Jahre 1848, und nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich während der berühmten Februarrevolution. Damals trugen sich die Proletarier mit dem holden Wahn, daß sie nur eine große Anstrengung voller Opfer zu machen brauchten, damit sie gleich in kürzester Frist die sozialistische Gesellschaftsordnung verwirklichen könnten. Nachdem sie in Frankreich am 24. Februar 1871 erzwungen haben bei der provisorischen Regierung, die Republik zu proklamieren, haben sie sofort die Forderung gestellt: Wir verlangen, daß diesmal eine soziale Republik in Frankreich eingerichtet wird, in der es für jedermann Zuckererbsen und Brot genug geben soll. Und, Parteigenossen, damals marschierten die französischen Proletarier auf den Straßen von Paris mit einer schwarzen Fahne, auf der geschrieben stand: Arbeiter, lebt oder empfangt den Tod! Die provisorische Regierung, die damals die größte Furcht vor dem versammelten Proletariat auf der Straße hatte, versprach, die sozialistische Republik einzurichten und jedem Brot und Arbeit 2u sichern: Sie müsse aber dazu einige Zeit haben. Die Herrschaften wußten aber, daß das Feld nach drei Monaten anders aussehen werde, sie mußten Zeit gewinnen, um die blauen Bohnen zu sammeln, mit denen sie die Hungernden füttern wollten. Parteigenossen! Die Proletarier erklärten damals die denkwürdigen historischen Worte durch den Mund eines der Ihren, eines der ersten und besten Arbeiter von Paris. Sie erklärten damals der versammelten provisorischen Regierung: Gut, meine Herren, wir geben euch die Zeit, wir hungern die drei Monate, wir, das Proletariat von Paris, aber wir wollen die soziale Republik haben. Es kamen drei Monate furchtbarster Not, und sie haben sie ausgehalten, weil sie glaubten, sie bekämen die berühmte soziale Republik, die für jedermann Brot und Arbeit haben sollte, und als die drei Monate um waren, da erschien nicht Brot und Arbeit der sozialen Republik, sondern es erschien die Nationalgarde auf der Straße, da erschien die Armee auf der Straße, und da gab es die berühmten Junikämpfe und Junischlächtereien, die während dreier Tage und dreier Nächte im Blute den Wahn der sozialen Republik zu ersticken suchten.

Aber, Parteigenossen, schon damals hat sich gezeigt, daß die Masse vor keinen Opfern zurückschreckt. Damals gab es keine Kassen, um die Proletarier drei Monate zu erhalten, damals gab es keine Gewerkschaften, keine Organisation, um sie in ihrer Kampfesstimmung aufrechtzuerhalten. Wie erst müßte heutzutage unser Augenmerk darauf hingerichtet sein, für alle Kämpfe die Opfer zu bringen, die nötig sein sollen, nachdem wir solche gewaltige Kulturarbeiten der deutschen Gewerkschaften und der deutschen Sozialdemokratie hinter uns haben! Um diesen Geist, um diesen Idealismus aus der Masse hervorzurufen, brauchen wir nichts anderes, als immer wieder darauf hinzuweisen, daß die Kämpfe, die wir jetzt führen, daß alle Massenstreiks, die wir vor uns haben, nichts anderes sind als eine notwendige geschichtliche Etappe zur endgültigen Befreiung vom Kapitalismus, zur sozialistischen Gesellschaftsordnung.

Parteigenossen! Ist nicht jede Aussperrung, die wir heute erleben, eine gewaltige Propaganda für den Sozialismus? Ist nicht die Tatsache allein, daß wir heutzutage vor einer Entscheidung stehen und uns fragen, ob in den nächsten Tagen schon durch einen Machtspruch einer Handvoll Kapitalisten Hunderttausende von Männern und Frauen auf das Straßenpflaster geworfen werden – ist das nicht Beweis genug für den Blinden, daß eine solche Gesellschaftsordnung wert ist, daß sie zum Teufel gejagt wird? (Lebhafter Beifall.)

Parteigenossen! Jede Aussperrung ist ein Schritt weiter, ist ein neuer Nagel zum Sarge der kapitalistischen Ordnung, denn gerade die jetzt beliebte Methode der Aussperrung, ohne das Proletariat zu besiegen, ist der beste Beweis, daß die bestehende Gesellschaftsordnung nicht mehr möglich, sondern unhaltbar geworden ist, daß sie einer andern Platz machen muß. Und ist nicht jeder Massenstreik ein Schritt weiter vorwärts auf dem Wege zu ihrer Beseitigung? Parteigenossen, das berühmte Kommunistische Manifest von Marx und Engels schließt mit den Worten: Das Proletariat hat nichts zu verlieren als seine Ketten, zu gewinnen eine ganze Welt. Nur dann werden wir gewappnet sein zu der gewaltigen Schlacht, die wir in der nächsten Zeit zu schlagen haben, wenn jeder gewerkschaftlich organisierte Proletarier verstanden hat, daß sein Beruf in der Sozialdemokratischen Partei, wenn jeder sozialistische Proletarier versteht, daß er verpflichtet ist, die sozialistische Aufklärungsliteratur sich zu eigen zu machen, daß jeder gewerkschaftlich tätige und organisierte Arbeiter zugleich ein zielbewußter sicherer Kämpfer für die sozialistische Befreiung ist. Nur unter diesem Schlachtruf werden wir die nächsten Schlachten zum Siege bringen, wenn der letzte Proletarier versteht, daß man zu verlieren bloß seine Ketten, zu gewinnen eine ganze Welt hat. (Anhaltender tosender Beifall!)


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