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Der preußische Wahlrechtskampf und seine LehrenDiese Rede wurde auf einer Volksversammlung gehalten, die am 17. April 1910 im Zirkus Schumann in Frankfurt am Main stattfand.

Werte Anwesende! Gegenwärtig spielt sich in Preußen der letzte Akt der Komödie ab, genannt die parlamentarischen Verhandlungen über die preußische Wahlrechtsvorlage. Die auf Druck der Massenbewegung von der preußischen Regierung am 5. Februar 1910 eingebrachte Vorlage zur Änderung des preußischen Wahlrechts, die nur eine geringfügige Änderung der Klasseneinteilung und die direkte Wahl unter Beibehaltung des Dreiklassenwahlrechts vorsah, wurde durch die Kommission des Abgeordnetenhauses und des Herrenhauses abgelehnt. Die machtvollen Wahlrechtskämpfe, die vom Februar bis April 1910 ihren Höhepunkt erreichten, zwangen die Regierung, ihre Änderungsvorlage am 27. Mai 1910 zurückzuziehen. Wie Sie wissen, ist die Vorlage vor das oberste gesetzgeberische Forum in Preußen getreten, vor jene Kammer der geborenen Gesetzgeber, die gewissermaßen aus dem Mutterleibe in die höchsten Bürgerrechte direkt hineinwachsen – vor das preußische Herrenhaus. Soweit die bisherigen Nachrichten über die Verhandlungen des preußischen Herrenhauses uns ein Bild gestatten, können wir jedenfalls schließen, daß die Wahlrechtsvorlage nicht ohne Änderungen aus dem Herrenhause zurückkommt. Wie die Verhandlungen im einzelnen aber auch ausfallen mögen, das eine steht fest: Wenn das preußische Herrenhaus die preußische Wahlrechtsvorlage weiter abändern sollte, so werden es Abänderungen im reaktionären Sinne sein, so werden es Abänderungen nach der Richtung sein, um die Wahlreform noch volksfeindlicher zu gestalten, als dies dem Abgeordnetenhaus gelungen ist. Ich glaube jedoch, daß wir Sozialdemokraten allen Grund haben, mit völliger Seelenruhe dem Ausgang dieser Komödie entgegenzusehen, denn wir leben der festen Überzeugung, daß an der Wahlreform, wie sie erst aus den Händen Bethmann Hollwegs, dann aus den Händen des preußischen Abgeordnetenhauses hervorgegangen ist, daß an diesem herrlichen Werk überhaupt nichts mehr zu bessern und nichts mehr zu verpfuschen ist. Wir sind der Überzeugung, daß das einzige, was mit dieser »Wahlreform« zu geschehen hat, dies ist, daß sie im Orkus verschwindet. Wir haben ferner die feste Überzeugung, daß diese einzige rettende Tat zugunsten der preußischen Wahlreform nimmermehr auf parlamentarischem Wege erreicht werden kann. Das einzige Wirksame, was in der preußischen Wahlreformfrage geschehen soll, kann und muß draußen im Lande, durch die Macht, durch die unmittelbare Einwirkung der großen Masse des arbeitenden Volkes vollbracht werden. (Lebhafter Beifall.)

Gerade die letzten Ereignisse haben uns in dieser Hinsicht sehr fruchtbare Lehren erteilt. Kürzlich, am Sonntag, dem 10. April, haben wir ein Schauspiel erlebt, wie es Preußen noch nie gesehen hat. Wir hatten in Berlin wie auch in allen größeren Städten Preußens gewaltige Massendemonstrationen unter freiem Himmel. Und das besonders Bezeichnende an diesen Demonstrationen war die Tatsache, daß es die ersten Demonstrationen in ganz Preußen waren, die mit Genehmigung der hochwohllöblichen Polizei stattgefunden haben.

Ich meine damit nicht etwa, daß Demonstrationen, die ohne die Erlaubnis der Polizei veranstaltet werden, weniger politische Bedeutung haben, im Gegenteil, ich meine nur, es ist eine nicht zu unterschätzende Tatsache, daß wir uns zum erstenmal das Recht zu Massenkundgebungen unter freiem Himmel, auf Straßen und Plätzen Preußens ertrotzt haben. Denn wie begegnete man uns noch vor wenigen Monaten, vor wenigen Wochen, als wir nichts anderes tun wollten als gleichfalls auf den Straßen unseren Forderungen Ausdruck geben! Es war am 6. März in Berlin, als wir jene große Massendemonstration, genannt »Wahlrechtsspaziergang nach dem Treptower Park«, mitten in der Stadt, im Tiergarten, veranstalteten. Es war ein leuchtender Frühlingstag, wir standen da, eine hunderttausendköpfige Menge, inmitten des gewaltigen städtischen Parks, der sonst nur ein feingekleidetes Publikum sieht, und taten nichts anderes, als einmal übers andere zu rufen: Hoch das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht! Wir standen da, und keinem Menschen war ein Haar auf dem Haupte gekrümmt worden, kein Gräslein war zertreten, kein Ästlein abgebrochen von den Sträuchern. Plötzlich erschien ein Trupp berittener Schutzleute mit geschwungenen Säbeln, und blanke Klingen sausten auf wehrlose Männer und Frauen herab, die nichts taten, als ihre elementarsten politischen Bürgerrechte fordern. (Stürmische Pfuirufe.) So begegnete man uns noch am 6. März, mitten in der Hauptstadt Preußens. Ungefähr so ging es in vielen anderen Städten zu.

Noch wenige Tage vor der Sonntagsdemonstration des 10. April hat man auf die Ankündigungen der Sozialdemokratie, daß sie neuerdings Kundgebungen unter freiem Himmel plante, diese Kundgebungen überall durch schroffes Verbot seitens der Polizei zu verhindern versucht. Vergangene Woche noch waren in Bremen, in der liberalen Republik, an dem Tage, an dem ich wie hier vor einer gewaltigen Volksversammlung über den Wahlrechtskampf zu sprechen hatte, an den Anschlagsäulen kolossale Plakate erschienen, worin die liberale Polizeidirektion ganz im Stile des Herrn v. Jagow Traugott von Jagow war von 1909 bis 1916 Polizeipräsident in Berlin. Berüchtigt und für sein brutales Vorgehen gegen die Arbeiterklasse kennzeichnend war seine »Bekanntmachung« vom 13. Februar 1910 zur Unterdrückung der Wahlrechtsbewegung in Berlin: »Es wird das›Recht auf die Straße‹ verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige.« (Sozialdemokratische Partei-Correspondenz, 5. Jg., 1910, Berlin o. J., S. 74.) die Arbeiter warnte, sich nach der Versammlung auf der Straße zusammenzurotten, sonst würde die Polizei mit dem nötigen Nachdruck dagegen einschreiten. Noch wenige Tage vor der Sonntagsdemonstration versuchte man uns mit schroffen Polizeiverboten zu begegnen. Im letzten Augenblick aber ist oben der Wind umgeschlagen. Im letzten Moment hat man überall die Demonstrationen gestattet. Weshalb wohl, werte Anwesende? Ist es etwa aus spät eingetretener politischer Einsicht, aus gutem Willen geschehen? Ei, nein Man hat bloß eingesehen, daß man gestatten muß, was man nicht mehr zu verbieten imstande ist! Man hat eingesehen, daß die Sozialdemokratie entschlossen ist, große proletarische Massen auf die Straße zu führen, und sie sich von diesem Vorhaben durch keine Gewaltmittel zurückschrecken läßt. (Lebhafter Beifall.)

Es ist nicht etwa ein Geschenk, was man uns in Gestalt jener polizeilichen Erlaubnis gewährt hat. Nein, es ist ein Recht, das wir uns ertrotzt haben durch unseren Kampf, durch das bloße Erscheinen der Massen auf dem Plan. Und gerade dieser erste Sieg, diese erste Bresche, die wir in das preußische Polizeisäbelregiment geschlagen haben, ist ein bedeutungsvoller Wink für uns, daß wir nur in diesem Zeichen, nur auf diesem Wege auch weiter siegen werden! Wir haben uns bis jetzt in Preußen das Recht auf die Straße erobert, und auf der Straße werden wir uns das allgemeine Wahlrecht erobern.

Zu demselben Schluß drängt uns auch das Resultat der bisherigen parlamentarischen Schicksale der preußischen Wahlrechtsvorlage. Auch sie weist uns darauf hin, daß wir einzig und allein durch die Aktion der großen Masse draußen im Lande ernste Resultate im Wahlrechtskampfe zu erwarten haben.

Ich will nicht in allen Einzelheiten nochmals den vergangenen parlamentarischen Kampf um die Wahlreform vor Ihnen Revue passieren lassen. Aber einige Momente muß ich doch herausgreifen und zusammenfassen. Sie erinnern sich, als die Bethmann Hollwegsche Vorlage auf das Drängen der Arbeitermassen endlich das Licht der Welt erblickt hatte, als diese Vorlage im Parlament erschienen war, da erhob sich in der ganzen Kulturwelt ein homerisches Gelächter. Denn, Parteigenossen, man kann sich keine echt preußisch-bürokratischere Verhöhnung der Forderungen der Volksmassen in der Wahlrechtsfrage vorstellen als das, was man uns als eine Wahlreform vorzulegen wagte. Genügt es doch, festzustellen, daß diese sogenannte Wahlreform gerade alle die bekannten Infamien des preußischen Wahlsystems konservieren und verewigen sollte, gegen die das Proletariat sich empört, gegen die es zum Kampfe ausgerückt ist. In dieser›Reform‹ soll vor allem das berühmte preußische Dreiklassenwahlsystem Das Dreiklassenwahlsystem war ein ungleiches, indirektes Wahlverfahren, bei dem die Wahlberechtigten jedes Wahlbezirkes nach der Höhe ihrer direkten Steuern in drei Klassen eingeteilt wurden. Jede Klasse wählte für sich in offener Abstimmung die gleiche Anzahl Wahlmänner, die dann erst die Abgeordneten wählen konnten. Dieses undemokratische Wahlsystem galt von 1849 bis 1918 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus des preußischen Landtages. beibehalten werden.

Werte Anwesende! Sie wissen, daß von gegnerischer Seite uns Sozialdemokraten auf Schritt und Tritt vorgeworfen wird, wir seien böse Hetzer und Aufwiegler, die die einige Nation in Klassen spalten, die zwischen ihnen Haß säen und sie zum Klassenkampf aufreizen. Und was tun diejenigen, die uns diese Vorwürfe entgegenschleudern? Sie gehen hin und wollen die Teilung des einigen Volkes in drei große Klassen zum Gesetz erheben, drei Klassen, von denen die eine die dreihunderttausend›edelsten und besten‹ Wähler umfaßt, deren Hände nie die Arbeit gekannt, die aber große patriotische Taschen haben, und auf der anderen Seite beinahe sieben Millionen Wähler als Vertreter der großen Masse der Arbeitenden, wobei die sieben Millionen durch den Willen jener dreihunderttausend Wähler mundtot gemacht werden können. Wenn es je ein Gesetz gegeben hat, das die Klassenspaltung, das den Klassenhaß und den Klassenkampf öffentlich zu Recht, zur Notwendigkeit stempelt, dann ist es das preußische Wahlrechtssystem. Die Dreiklasseneinteilung sollte als preußisches Juwel in der neuen Reformvorlage aufrechterhalten werden. Außerdem sollten in der sogenannten Reformvorlage auch noch andere preußische Juwelen, die Öffentlichkeit der Wahl, ferner die bisherige Wahlkreiseinteilung, unangetastet bleiben. Als einzige Konzession an die Anforderungen der Neuzeit sollte uns die direkte Wahl, die Abschaffung des Wahlmännersystems, verliehen werden. Wie Sie wissen, bedeutet diese Abschaffung des indirekten Wahlmodus unter Beibehaltung des Dreiklassensystems, unter Beibehaltung der Öffentlichkeit der Wahl und der bisherigen Wahlkreiseinteilung direkt eine Verhöhnung der demokratischen Gestaltung des Wahlrechts.

Werte Anwesende! Wenn irgendein Mensch vom Mond gefallen wäre, ich meine, ein Mensch, der die preußischen Eigentümlichkeiten nicht kennt, der würde wahrscheinlich angesichts einer solchen Gesetzesvorlage den Schluß gezogen haben, daß man an diesem Werk wahrhaftig nichts mehr verschlechtern könne. Allein diesen Schluß könnte eben nur ein Mensch ziehen, der vom Monde gefallen wäre. In Preußen ist so gar manches möglich, was sonst menschenunmöglich erscheint. Und wir haben es ja auch erlebt, daß es das preußische Abgeordnetenhaus in seiner Kommission fertiggebracht hat, auch noch die Vorlage des Herrn Bethmann ein ganzes Stück reaktionärer, volksfeindlicher zu gestalten. Um die Sache nun in zwei Worten zusammenzufassen, so hat das preußische Abgeordnetenhaus in seiner Kommission das holde Produkt des Herrn Bethmann Hollweg und seiner Geheimräte gewissermaßen auf den Kopf gestellt. Die Vorlage der Regierung brachte die direkte Wahl und den öffentlichen Abstimmungsmodus; die Kommission des preußischen Abgeordnetenhauses hat das Wahlmännersystem, die indirekte Wahl, wieder in die Vorlage zurückversetzt und damit die geheime Wahl oder richtiger den Schein der geheimen Wahl verbunden. Denn, werte Anwesende, geheim abstimmen sollen ja nur die Urwähler, während die Vertrauensmänner des Volkes, die Wahlmänner, nach wie vor öffentlich abstimmen und damit der rächenden Hand der politischen Gegner preisgegeben werden. Wenn man im ganzen das Resultat der Arbeit der preußischen Wahlrechtskommission mit der Vorlage der Regierung vergleicht, so muß man zu dem Schluß gelangen: In ihrem Wesen sind sie wohl gleich reaktionär, doch der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß, während die Vorlage des Herrn Bethmann Hollweg wenigstens offen und zynisch reaktionär ist, das Werk der Kommission des Abgeordnetenhauses bei dem gleichen volksfeindlichen Charakter auch noch perfider, verlogener und scheinheiliger ist. Denn es soll ja durch die Reform, wie sie aus der Kommission hervorgegangen, wie sie dann vom Abgeordnetenhause akzeptiert worden ist, in allen jenen Schichten des Volkes, die sich nicht klar Rechenschaft über die Vorgänge geben, der Schein erweckt werden, als hätten wir in Gestalt der geheimen Abstimmung der Urwähler einen wesentlichen Fortschritt erzielt. Ich sage, das Werk der Kommission des preußischen Abgeordnetenhauses ist bei all seinem reaktionären Charakter auch noch scheinheiliger, perfider, verlogener. Nun, das darf uns nicht wundernehmen, denn wir wissen ja, welche Partei des Abgeordnetenhauses bei diesem Werk der Kommission Pate gestanden ist. Es ist ja diejenige Partei, auf deren Banner die Worte prangen:›Wahrheit, Freiheit und Recht!‹ Es ist die Partei des Zentrums ! (Stürmische Pfuirufe.) Und da das Zentrum seit Jahr und Tag die politischen Geschicke Preußen-Deutschlands in der Hand hält und das Zünglein an der Waage bildet, da diese Partei aber namentlich bis jetzt noch große Scharen von Proletariern am Gängelbande führt, so ist es unsere Pflicht und Schuldigkeit, uns das Treiben des Zentrums in der preußischen Wahlrechtsfrage ganz genau zu merken, um zu jenen irregeleiteten Proletariern zu gehen und ihnen über den Wert und das Wesen der Partei die Augen zu öffnen, von der sie sich bis jetzt nasführen ließen.

Aus dem reichhaltigen Material nur einige wenige Tatsachen. Wie Sie wissen, ist die Bethmann Hollwegsche Vorlage zunächst vor das Plenum des Abgeordnetenhauses gekommen, damit hier in der ersten Lesung die Parteien die Möglichkeit haben, in großen allgemeinen Zügen zu der Vorlage prinzipiell Stellung zu nehmen. Daraufhin erst ist die Vorlage einer Kommission überwiesen worden, die Abänderungen im einzelnen vorgenommen hat. Wie hat sich nun das Zentrum zu der Wahlreformvorlage bei der ersten Lesung prinzipiell gestellt? Wir haben darüber ein einwandfreies Zeugnis in Gestalt der›Stenographischen Berichte über die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses‹. In diesem Bericht lesen wir über die Sitzung vom 11. Februar 1910 folgendes:

›Das Wort hat ... der Abgeordnete Herold:

Meine Herren, zunächst will ich unseren prinzipiellen Standpunkt zu der Wahlrechtsfrage überhaupt darlegen. Danach bleibt dieser unverändert, wie wir ihn seit Dezennien vertreten haben, seit dem Antrage des Abgeordneten Windthorst im Jahre 1873; und er ist bei den verschiedensten Gelegenheiten von der Zentrumsfraktion durch ihre Wortführer immer von neuem dargelegt worden ... In welcher Richtung sich hier unsere Wünsche bewegen, hat namens unserer Freunde im Reichstage am 7. November v. J. Herr Abgeordneter Graf Hompesch dahin ausgesprochen, daß das, was das Reich auf dem Gebiete des Wahlrechts durch seine Verfassung seinen Bürgern gewährt hat, auf die Dauer auch in den Einzelstaaten den Bürgern in entsprechender Weise gewährt werden müsse. [Hervorhebung – R. L.] An diesem unserm Standpunkt halten wir unentwegt fest. (›Bravo!‹ im Zentrum.) Daraus ergibt sich auch schon, daß die Vorlage, welche uns jetzt unterbreitet wird, unseren Beifall nicht finden kann. (›Sehr richtig!‹ im Zentrum.)‹

Wenn Worte einen Sinn haben, so bedeutet die Erklärung des Abgeordneten Herold, daß das Zentrum nach wie vor an dem Standpunkte festhält, daß das Reichstagswahlrecht, das heißt das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht, wenigstens für die männliche Bevölkerung auf Preußen übertragen werden soll und daß das Zentrum von diesem Standpunkte aus die Vorlage der Regierung verwerfen oder abändern würde. Was hat aber dasselbe Zentrum eine Woche später getan, als die Vorlage der Regierung in das kleine Stübchen der Kommissionsberatung gekommen war? Da hat das Zentrum eine ›Reform‹ zustande gebracht, die dem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht direkt ins Gesicht schlägt. (Stürmische Pfuirufe.)

Ja, bei der ersten Lesung, in den Reden im Plenum, wo jedes Wort protokolliert wird, wo die Reden am selben Tage in Parlamentsberichten in Hunderten von Zeitungen ins Land hinausgehen und auch von Proletariern gelesen werden, da spricht man als›Volkspartei‹, da vertritt man demokratische Grundsätze. Aber im kleinen Stübchen der geschlossenen Kommissionsberatung, wo die breiteste Öffentlichkeit ausgeschlossen ist und man den Herren nicht auf die Finger sehen kann, da stellt es sich erst heraus, was die Partei des Zentrums in Wirklichkeit in der Wahlrechtsfrage denkt und erstrebt. Da haben wir als Wahlreform das Dreiklassenwahlrecht, die indirekte Wahl, die Öffentlichkeit der Wahl für die Wahlmänner und die alte Wahlkreiseinteilung bekommen, und diese herrliche ›Reform‹ hat das Zentrum mit eigenen Händen geschaffen. Als unsere Presse diese perfide Politik, diesen krassen Widerspruch zwischen den Worten des Zentrums im Plenum und seinen Taten in der Kommission an den Pranger gestellt hat, suchte das Zentrum sich nach der gewöhnlichen Jesuitenmanier herauszureden. Das Zentrum war auch diesmal nur das Opfer der Böswilligkeit anderer Leute. Es waren nach seiner Darstellung die Konservativen, die kategorisch erklärt hätten, sie würden nie für das geheime Wahlrecht der Urwähler zu haben sein, wenn man ihnen nicht von vornherein die indirekte Wahl, das Wahlmännersystem, gesichert hätte. Unter dem Zwang der Verhältnisse hätte sich also das Zentrum schweren Herzens zu der Konzession verstehen müssen. Aber die Partei für›Wahrheit, Freiheit und Recht‹ hatte diesmal Pech. Es sollte sich sehr bald herausstellen, wie sich die Dinge in Wirklichkeit abspielten. Die Konservativen selbst haben aus der Schule geplaudert, und so wurde bekannt, wie der Kuhhandel in der Kommission in Wirklichkeit vor sich gegangen ist. Denn Sie wissen, werte Anwesende, aus alter Erfahrung, daß, wenn sich solche Ehrenmänner wie das Zentrum und das Junkertum einmal überwerfen, daß dann anständige Leute manchmal in die Lage kommen, die Wahrheit zu erfahren. Es war nämlich ein konservativer Landtagsabgeordneter, Herr Gescher, gerade der nämliche, welcher den Schacher zwischen den Konservativen und dem Zentrum in der Kommission vermittelt hatte, der in einer Provinzialversammlung des Bundes der Landwirte in Westfalen die Karten aufdeckte. Er hat in jener ehrenwerten Versammlung über die Verhandlungen in der Kommission folgendes erzählt:

»Das geheime Wahlrecht wurde angenommen. In diesem Stadium der Sache machte uns (den Konservativen) das Zentrum folgenden Vorschlag:›Mit der geheimen Wahl sind Sie unterlegen. Aber es ist uns sehr darum zu tun, daß Sie mit uns gehen. Da wollen wir Ihnen eine Konzession machen, wenn Sie dann später bei der Gesamtabstimmung für uns stimmen.‹ Und zwar bot uns das Zentrum das indirekte Wahlrecht, die Wahlmänner, an, die die Regierungsvorlage nicht hatte.«

So, werte Anwesende, haben sich die Dinge abgespielt. Das Zentrum hat nicht bloß zugestimmt, nein, es hat selbst vorgeschlagen, daß die indirekte Wahl wieder in die Vorlage eingeführt werden soll. Es hat selbst den Konservativen diese Verhöhnung der Wünsche des Proletariats auf dem Präsentierteller entgegengebracht.

So ist es denn dahin gekommen, daß wir aus den Händen des Zentrums und der Konservativen, der beiden reaktionärsten Parteien Preußen-Deutschlands, jene Spottgeburt empfangen haben, die man die preußische›Wahlreform‹ nennt. Wenn die anderen Parteien, wenn die Freikonservativen, Ab 1871 war die offizielle Bezeichnung Deutsche Reichspartei bzw. Reichspartei. wenn die Nationalliberalen bis jetzt grollend beiseite stehen und sich gegen die Vorlage wenden, so geschieht es deshalb, weil ihnen die bisherige Fassung in verschiedenen Punkten noch nicht reaktionär genug erscheint. Und es ist für unsere gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Preußen höchst bezeichnend, daß man bis jetzt nicht einmal der Beihilfe der Nationalliberalen, der Mitwirkung der Freikonservativen bedurfte, um ein so reaktionäres Werk wie die heutige›Wahlreform‹ zustande zu bringen. Die Konservativen und das Zentrum haben, gestützt auf ihre Zweidrittelmajorität im Abgeordnetenhause, ganz allein genügt, um über die parlamentarischen Schicksale der preußischen Wahlreform zu entscheiden.

Allein, werte Anwesende, wie kommt es denn, so müssen wir uns angesichts dieser merkwürdigen Sachlage fragen, wie kommt es, daß solche Zustände überhaupt möglich geworden sind? Wie kommt es, daß heute, im 20. Jahrhundert, in Preußen, dem größten und industriellsten Staate Deutschlands, im Zeitalter der kapitalistischen Entwicklung, wo die Großindustrie, wo Weltverkehr, wo Welthandel die gesamten gesellschaftlichen Zustände beherrschen, daß heutzutage, sage ich, in Preußen zwei Parteien in grundlegenden Fragen unseres politischen Lebens ausschlaggebend sind, die ihrer ökonomischen und politischen Struktur, ihrem ganzen Charakter nach überhaupt nicht in die Neuzeit, sondern ins finstere Mittelalter gehören? (Lebhafte Zustimmung.) Oder, um die Frage anders zu fassen: Wo ist der bürgerliche Liberalismus geblieben, dessen Mission es war, in Deutschland, wie in jedem modernen Staat, dafür zu sorgen, daß wir es im 20. Jahrhundert nicht mit einem Stück mittelalterlichen Feudalismus zu tun haben?

Werte Anwesende! Die Antwort auf diese Frage ist ein Blick auf die Geschichte des deutschen Liberalismus. Es ist eine Tatsache, die sich jeder Proletarier ins Gedächtnis prägen muß, daß wir bereits in Preußen, wenn auch nicht das direkte, so doch das allgemeine, gleiche Wahlrecht, wenigstens für die männliche Bevölkerung, schon einmal besaßen, und zwar vor 62 Jahren. Es war am 18. März des Jahres 1848, wo wir das gleiche Wahlrecht erfochten haben, um das wir heute noch so schwere Kämpfe führen müssen. An jenem 18. März war das Volk von Berlin auf die Straße gestiegen, es hat Barrikaden gebaut, es hat mit den Truppen des Königs gekämpft, und es hat die Truppen des Königs geschlagen. Am 19. März in der Frühe mußten sich die Truppen aus Berlin zurückziehen. Am Nachmittag desselben Tages nahm das Volk seine Toten, trug sie vor das Schloß des Königs und zwang Friedrich Wilhelm IV., denselben stolzen Potentaten, der kurz vorher erklärt hatte, er werde nie und nimmer zugeben, daß sich zwischen ihn und seine Untertanen ein geschriebenes Blatt Papier, genannt Verfassung, schieben sollte, das Volk hat Friedrich Wilhelm IV. gezwungen, vor den Opfern des Barrikadenkampfes das Haupt zu entblößen und dem siegreichen Volke das geschriebene Blatt Papier demütig zu Füßen zu legen. Und diese siegreiche Revolution brachte schon am 8. April ein Wahlgesetz zur Nationalversammlung, welches das allgemeine, gleiche Wahlrecht proklamierte für alle Preußen, die das 24. Lebensjahr zurückgelegt haben. Aber, werte Anwesende, in jenem Moment war die deutsche Freiheit eben erst ein beschriebenes Blatt Papier. Es galt, die Freiheit zu Fleisch und Blut zu machen, es galt, sie zu befestigen, sie zu beschützen. Das alles konnte dazumal das arbeitende Volk in Deutschland noch nicht. Freilich war das Proletariat bereit, auf den Barrikaden für die Sache der Freiheit sein Blut zu verspritzen; aber es war noch nicht zahlreich genug, nicht organisiert, nicht klassenbewußt wie heutzutage. Die ganze Macht nach dem Siege des 18. März war in die Hände des liberalen Bürgertums gefallen. Es waren die Vertreter der rheinischen Großindustrie, die Herren Camphausen und Hansemann, die zu Ministern ernannt wurden. Der deutsche Liberalismus war also durch die Märzereignisse in die Lage versetzt worden, einmal der Welt zu zeigen, ob er es ernst mit seinem liberalen Programm meinte; er hatte damals die Möglichkeit, dafür zu sorgen, daß wir nicht 62 Jahre später gezwungen sind, mit einem Stück der mittelalterlichen Barbarei in Preußen zu kämpfen.

Was konnte, was mußte damals die liberale Bourgeoisie tun, damit heute nicht in Deutschland Zustände herrschen, wie wir sie tatsächlich haben? Es ist klar, was sie hätte tun sollen. Vor allem sollte sie das revolutionäre Volk bewaffnen, dann, auf das revolutionäre bewaffnete Volk gestützt, die vormärzliche Armee reformieren, sie den Händen des Junkertums entreißen, die vormärzliche Bürokratie umgestalten, das Junkertum von allen öffentlichen Ämtern verjagen und deren Stellen mit Männern besetzen, die der Sache der Freiheit ergeben waren. Und vor allem, werte Anwesende, hätte der Liberalismus im Jahre 1848, wenn er es mit den liberalen Phrasen ernst gemeint hätte, den wortbrüchigen verräterischen König vom Throne wegjagen und die Republik in Deutschland proklamieren müssen. (Stürmischer Beifall.) Ja, die Republik! Denn damit hatte es die liberale Bourgeoisie in der Hand, der weiteren Entwicklung Deutschlands sowohl in der inneren wie in der auswärtigen Politik eine ganz andere Richtung zu geben. Wäre von den Liberalen, als sie 1848 die Macht in den Händen hatten, in Deutschland die Republik proklamiert worden, so wäre damit auch die Frage der deutschen Einheit gelöst, dann hätten wir es nicht nötig gehabt, zweiundzwanzig Jahre später auf den leichenbedeckten Schlachtfeldern Frankreichs aus Bismarcks bluttriefenden Händen die deutsche Reichseinheit zu empfangen. Dann wäre der unselige Zwist zwischen Deutschland und Frankreich nicht zur Quelle unaufhörlicher Rüstungen in beiden Ländern geworden, dann hätten wir heute nicht in dem Maße den Moloch des Militarismus und was damit zusammenhängt: die furchtbare Last der indirekten Steuern, die das arbeitende Volk erdrücken. Und dann, werte Anwesende, hätten wir heute nicht die ausschlaggebende Herrschaft des ostelbischen Junkertums in Preußen-Deutschland. Denn, ich frage Sie, wer ist der mächtigste Hort des Junkertums in Preußen und der Verpreußung der deutschen Politik, wenn nicht das persönliche Regiment? Wer hetzt am meisten zu militärischen Rüstungen, zu Flottenrüstungen, zu weltpolitischen Abenteuern, zu Chinakriegen, zu Hottentottenkriegen, wenn nicht das persönliche Regiment? Und ich frage Sie, wer ist der grimmigste Feind der aufstrebenden Arbeiterklasse, des Proletariats, wenn nicht das persönliche Regiment, das uns im Jahre 1899 als persönliches Geschenk die Zuchthausvorlage beschert hat? (Stürmische Zustimmung.) Jawohl, hätte der deutsche Liberalismus im Jahre 1848 den morschen preußischen Thron und die drei Dutzend sonstiger deutscher Thrönchen in Stücke geschlagen, er hätte den weiteren Schicksalen in Deutschland eine ganz andere Wendung gegeben. Und diese Aufgaben wurden dem deutschen Liberalismus tagtäglich mit lauter Stimme ins Gewissen gerufen. Es war kein anderer als unser großer Lehrer, der Schöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus, Karl Marx, der in der »Neuen Rheinischen Zeitung« die Liberalen zum Kampfe mit der Reaktion anfeuerte und vor der drohenden Konterrevolution warnte. Allein, da sollte sich wieder einmal herausstellen, daß über Handlungen und Taten ganzer Klassen und Parteien nicht die schönen Worte entscheiden, die auf dem papiernen Programm geschrieben stehen oder im Munde geführt werden, sondern darüber entscheiden vor allem die materiellen Interessen dieser Klassen. Wer waren, wer sind die deutschen Liberalen? Es sind die Vertreter des deutschen Unternehmertums, der Bourgeoisie, der Kaufleute, zum Teil der Handwerksmeister, ferner der bürgerlichen Intelligenz, die Fleisch vom Fleische, Blut vom Blute dieser Klasse ist – Schichten, die alle direkt oder indirekt an der Ausbeutung des arbeitenden Volkes interessiert sind. Und diese Schichten hätten im Jahre 1848 das revolutionäre Proletariat bewaffnen und es zum Kampfe gegen die Überreste des Feudalismus führen sollen? Aber die deutsche liberale Bourgeoisie hat schon damals das aufstrebende arbeitende Volk mehr gehaßt und gefürchtet als die Reaktion. Zu unserem Pech ist eben Deutschland in der Weltgeschichte etwas spät aufgestanden. Als wir in Deutschland im März des »tollen Jahres« den ersten Rausch der liberalen Freiheiten erlebten, da waren in Frankreich die sozialen Verhältnisse schon so weit gereift, daß das Bürgertum und das Proletariat messerscharf gegeneinander standen, und während bei uns die Liberalen nicht einmal daran zu denken wagten, die Republik zu proklamieren, hatten in Frankreich die Proletarier nicht bloß die Republik erzwungen, sondern sie forderten sogar die »soziale Republik«, d. h. eine Republik, in der es hienieden Brot und Zuckererbsen genug geben sollte für alle Menschenkinder. In Paris gingen die Proletarier mit einem roten Banner auf die Straßen, auf dem geschrieben stand: Arbeitend leben oder kämpfend den Tod! Und die deutsche liberale Bourgeoisie sollte das deutsche Proletariat zu entscheidenden Kämpfen führen, sie sollte die begonnene Revolution zu den äußersten Konsequenzen treiben? Die deutsche Bourgeoisie blickte hinüber nach Frankreich und klapperte mit den Zähnen vor Angst, daß einmal auch in Deutschland das rote Banner auf der Straße spazierengehen würde. Und so kam es denn, wie es kommen mußte. Kaum war der Liberalismus zur Macht gelangt, da suchte er hinter dem Rücken des Volkes so schnell als möglich mit der geschlagenen Reaktion Frieden und Freundschaft zu schließen. Und während die liberalen Maulhelden in der Nationalversammlung lange Reden hielten, sich um jeden Paragraphen der Verfassung stritten, sammelte die Reaktion im stillen ihre Kräfte und holte zu einem entscheidenden Schlage aus. Am 9. November, an demselben Tage, wo in Wien der deutsche Patriot Robert Blum auf der Brigittenau standrechtlich erschossen wurde, da zog in Berlin General Wrangel mit seinen Truppen ein und jagte die Nationalversammlung auseinander. Das war das Ende der Revolution von 1848; das war das Ende des allgemeinen, gleichen Wahlrechts in Preußen. Im nächsten Jahre, am 30. Mai 1849, wurde uns jenes Dreiklassenwahlrecht, jenes elendeste aller Wahlsysteme, durch Verordnung oktroyiert, das bis auf den heutigen Tag besteht. Nicht ein Recht also, auf gesetzlichem Wege, mit gesetzlichen Mitteln zustande gekommen, ist dieses herrschende preußische Wahlsystem, nein, ein Produkt der nackten, brutalen Gewalt, ein Produkt des Staatsstreiches, auf den Spitzen der Bajonette Wrangels gebracht, und – ein Produkt des feigen Verrats des deutschen Liberalismus in der Geburtsstunde selbst der deutschen Freiheit.

Damit, werte Anwesende, waren die Würfel in der weiteren Entwicklung Deutschlands gefallen. Jedes weitere Jahrzehnt brachte einen immer tieferen Verfall des Liberalismus. Unter der Bismarckschen Fuchtel brach der erste Trupp der Liberalen zusammen: die Nationalliberalen. Schritt für Schritt gaben sie ihre politischen Grundsätze preis und wurden zum gehorsamen Werkzeug der Regierung bei allen Militärvorlagen, bei allen Ausnahmegesetzen, bis sie sich auf jenes Sinnbild der politischen Charakterlosigkeit und Jämmerlichkeit heruntergewirtschaftet haben, für das der deutsche Volksmund den treffenden Namen »Fraktion Drehscheibe« erfunden hat. (Lebhafte Zustimmung.) So die Nationalliberalen. Und die Freisinnigen? Diese sind dieselben Bahnen ein Jahrzehnt später gewandelt. Es ist höchst bezeichnend, es ist höchst wichtig für das Verständnis des tragischen Schicksals des deutschen Liberalismus, daß jener Stein des Anstoßes, an dem der deutsche Liberalismus nach und nach zersplitterte, gerade die Frage des Militarismus war. Es war die Anbetung der nackten, brutalen Gewalt des Staates als eines Mittels zur Eroberung fremder Länder, neuer Ausbeutungsgebiete wie vor allem eines Machtmittels gegen den »inneren Feind«, die aufstrebende Arbeiterklasse, was dem deutschen Liberalismus das Genick gebrochen hat. Die Nationalliberalen waren bereits unter Bismarck treue Stützen des Militarismus geworden, die Freisinnigen ihrerseits haben sich aus Anlaß der großen Caprivischen Militärvorlage im Jahre 1893 gespalten. Damals zerfiel der Freisinn Im Zusammenhang mit der Zustimmung einiger einflußreicher Mitglieder der Deutschen Freisinnigen Partei zur Militärvorlage am 6. Mai 1893 hatte sich diese Partei in die Freisinnige Vereinigung und die Freisinnige Volkspartei gespalten. in eine sogenannte männliche und eine weibliche Linie, wobei der weibliche Freisinn mit wehenden Fahnen ins Lager des Militarismus schwenkte. – Die Dinge haben ihre Logik, auch wo die Menschen sie nicht haben. Wer A sagt, muß auch B sagen. Wer für den Militarismus ist, muß auch für die indirekten Steuern sein; denn diese sind es, die die Mittel für die militärischen Rüstungen liefern. Und wenn der »weibliche« Freisinn für den Militarismus schwärmte, so zog der »männliche« Freisinn die Konsequenz daraus und unterstützte die Ausplünderungspolitik der reaktionären Mehrheit des deutschen Reichstages. Es ist eine Tatsache, die wir nie dem Freisinn vergessen sollten: In jener denkwürdigen Adventnacht des Jahres 1902, als die sozialdemokratischen Vertreter im Reichstage mit dem Mute der Verzweiflung gegen die reaktionäre Mehrheit kämpften, die den Hungerzolltarif durchdrücken wollte, wer hat sich da zum Handlanger für die reaktionäre Mehrheit hergegeben, um durch die Niedertrampelung der Geschäftsordnung des Reichstages die Vertreter der Arbeiterklasse mundtot zu machen? Es war Herr Eugen Richter, der Führer des »männlichen« Freisinns.

Werte Anwesende! In den letzten Wochen haben wir ein Ereignis erlebt, das in ruhigeren und weniger ernsten Zeitläuften als tragikomisches Zwischenspiel wohl mehr Beachtung gefunden hätte: Es ist die Wiederverheiratung der drei freisinnigen Fraktiönchen. Am 6. März 1910 hatten sich die Freisinnige Volkspartei, die Freisinnige Vereinigung und die Deutsche Volkspartei zur Fortschrittlichen Volkspartei vereinigt. Sie war eine liberale Partei mit ausgeprägt imperialistischen Zügen. Der »männliche« Freisinn, der »weibliche« Freisinn und der hiesige süddeutsche – nennen wir ihn vielleicht den »kindlichen« – haben sich in einer Fortschrittlichen Volkspartei vereinigt: Sie liegen einander am Halse und weinen Freudentränen, daß sie sich endlich wieder zusammengefunden haben. Sie haben bloß nicht gemerkt, weshalb dies freudige Ereignis eintreten konnte, warum sich die feindlichen Brüder endlich wieder vereinigen konnten: Es ist ja, weil keiner heute dem andern eigentlich etwas zu vergeben hat, weil sie alle drei gleich tief in den Sumpf geraten sind. Wenn irgend jemand an dieser Tatsache Zweifel haben sollte, so erinnere ich Sie daran, welche Vorkommnisse der jetzigen Vereinigung der drei freisinnigen Gruppen einerseits und der jetzigen Ära des Schwarz-Blauen Blocks Während der Debatte über die Reichsfinanzreform im Sommer 1909 zerfiel der Bülow-Block und wurde durch den sogenannten Schnapsblock oder Schwarz-Blauen Block aus Konservativen und Zentrum ersetzt. andererseits vorausgegangen sind. Es sind ja die paar Jahre gewesen, die wir unter dem Namen der freisinnigen Blockära, des konservativ-liberalen Blocks, kennen. Es ist eine Tatsache, die man nie aus den Augen lassen sollte, um die heutigen Gruppierungen auf der politischen Schaubühne richtig einzuschätzen, daß unter dem Reichskanzler v. Bülow dieselben Freisinnigen, dieselben Liberalen, die sich jetzt als dräuende Löwen gegen den Schwarz-Blauen Block aufspielen, sich dazu hergegeben haben, ihren freisinnigen Nacken als Fußschemel für den ostelbischen Kürassierstiefel darzubieten. Der Ingrimm der Freisinnigen über die Herrschaft des konservativ-klerikalen Blocks kennt heute keine Grenzen. Ich frage aber: Was hat die heutige Herrschaft des Schwarz-Blauen Blocks mehr vorbereitet, mehr zur logischen Konsequenz, zur Notwendigkeit gemacht als die Konkurrenz, die der Freisinn dem Zentrum in der Liebedienerei gegen die konservativen Junker bereitet hat? Haben doch die Liberalen bewiesen, daß man heute mit Konservativen in Deutschland unter allen Umständen regieren kann, ob man sich auf das Zentrum, ob man sich auf den Liberalismus stützt.

Wirft man einen oberflächlichen Blick auf die Gruppierung der politischen Parteien, so sieht es aus, als wenn wir im gegenwärtigen Wahlrechtskampfe zwei große Lager gegeneinander stehen hätten: auf der einen Seite die Konservativen und das Zentrum als Wahlrechtsfeinde, auf der anderen Seite die Sozialdemokratie und daneben das liberale Bürgertum als Wahlrechtskämpfer. Allein das ist nur der trügerische Schein, die Oberfläche der Dinge. Blickt man in die Verhältnisse tiefer hinein, berücksichtigt man namentlich den historischen Werdegang, wie er die heutige Situation mit eherner Logik vorbereitet hat, so muß man sich sagen: Wir haben jetzt in Wirklichkeit zwei große Lager auf dem politischen Kampffelde, aber sie sind anders gestaltet; auf der einen Seite steht die Sozialdemokratie ganz allein und auf der anderen Seite als Mitschuldige und Mitverantwortliche für die heute herrschende Reaktion die gesamten Klassen und Parteien der bürgerlichen Gesellschaft.

Es wird uns von bürgerlicher Seite häufig gesagt, wir sollten doch die Wahlrechtsfreunde, die Kampfgefährten, die Bundesgenossen, die zu uns aus jenem Lager stoßen, nicht zurückweisen. Das wollen wir gewiß nicht; sie sollen nur herkommen, wir wollen sie mit offenen Armen aufnehmen. Aber wo sind sie, die treuen Bundesgenossen in unserem politischen Kampfe? Sind es etwa die Freisinnigen, die gestern erst bei den Hottentottenwahlen die schwärzesten Reaktionäre unterstützten, als es galt, einen Sozialdemokraten niederzuwerfen, und die morgen schon, bei der nächsten Reichstagswahl, höchstwahrscheinlich genau dasselbe tun werden? Oder sind jene treuen Bundesgenossen, auf die wir rechnen können, die bürgerlichen Demokraten, diese jüngste Blüte unserer politischen Entwicklung? Werte Anwesende! Alle Achtung vor der ehrlichen Überzeugung und dem Mannesmut der Gerlach, Breitscheid und Genossen, die wenigstens die Konsequenz haben, das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für beide Geschlechter zu fordern und im Kampfe dafür einzutreten. Allein in einem Kampfe wie der gegenwärtige, wo gewaltige gesellschaftliche Mächte gegeneinander ringen, wo nur große Massen in Betracht kommen, da müssen wir den bürgerlichen Demokraten die Worte des römischen Kaisers entgegenrufen, als er seinen allein vom Schlachtfelde zurückkehrenden Feldherrn sah: »Varus, wo sind deine Legionen?!« Wir sehen tapfere Offiziere, aber leider, die Armee existiert nicht. Freilich betrachten sich die bürgerlichen Demokraten selbst erst als die Vorhut heranrückender Scharen. Sie wollen die ersten zarten Schneeglöcklein eines anbrechenden bürgerlich-demokratischen Frühlings in Deutschland sein. Nun meine ich aber, wenn das Mißtrauen eine demokratische Tugend ist, so ist es eine sozialdemokratische Pflicht zu nennen. Und nach den Erfahrungen der bisherigen Entwicklung in Deutschland müssen wir leider sagen: Bei aller Sympathie und Hochachtung für die Handvoll bürgerliche Demokraten können wir sie nicht für die Schneeglöcklein eines anbrechenden Lenzes, sondern eher für die spärlichen Herbstzeitlosen eines melancholischen Altweibersommers halten. (Andauernde stürmische Heiterkeit und Beifall.)

Dies, werte Anwesende, die heutige Sachlage. Wo es sich um die Erringung des preußischen Wahlrechts, wo es sich um die Verteidigung des bedrohten Reichstagswahlrechts handelt, wo es sich um die Eroberung der demokratischen Republik handelt, da ist in Deutschland die Sozialdemokratie ganz allein auf sich selbst angewiesen. Und es ist gut, wenn wir uns keiner Täuschung, keiner Illusion in dieser Hinsicht hingeben. Denn haben wir etwa Grund, deshalb pessimistisch in die Zukunft zu blicken, uns die Haare auszuraufen und die Hände zu ringen, weil uns die geschichtliche Entwicklung so böse mitgespielt und uns in dem schweren Kampfe um den politischen Fortschritt ganz isoliert hat? Nein! Ich glaube, wir Sozialdemokraten haben allen Grund, mit dem Gange der Geschichte in diesem Falle, wie noch bis jetzt in allen anderen Fällen, vollauf zufrieden zu sein. Denn je klarer die große Masse des Proletariats erkennt, daß es sich im gegenwärtigen preußischen Wahlrechtskampfe nicht um einen liberalen Verfassungskampf, sondern um einen echten und rechten proletarischen Klassenkampf handelt, um so mehr werden wir gerade aus der Masse des Proletariats eine solche Klassenaktion, eine solche Macht auslösen können, wie wir sie sonst durch das Zusammengehen mit den Liberalen niemals auslösen könnten.

Werte Anwesende! Ich sage: Wir sind im gegenwärtigen Wahlrechtskampfe wie in allen wichtigen politischen Fragen des Fortschritts in Deutschland ganz allein auf uns gestellt. Aber wer sind »wir«? »Wir« sind doch die Millionen Proletarier und Proletarierinnen Preußens und Deutschlands. Ja, wir sind mehr als eine Zahl. Wir sind die Millionen jener, von deren Hände Arbeit die Gesellschaft lebt. Und es genügt, daß diese einfache Tatsache so recht im Bewußtsein der breitesten Massen des Proletariats Deutschlands Wurzel schlägt, damit einmal der Moment kommt, wo in Preußen der herrschenden Reaktion gezeigt wird, daß die Welt wohl ohne die ostelbischen Junker und ohne Zentrumsgrafen, ohne Geheimräte und zur Not auch ohne Schutzleute auskommen kann, daß sie aber nicht vierundzwanzig Stunden zu existieren vermag, wenn die Arbeiter einmal die Arme kreuzen. (Stürmischer, lang anhaltender Beifall.)

Wenn unsere preußischen Machthaber aus der Geschichte anderer Staaten lernen wollten, so brauchten sie nur einen Blick nach dem kleinen Belgien zu werfen. Wie ist in Belgien das allgemeine Wahlrecht zustande gekommen? Es ist ein sehr lehrreiches Kapitel sowohl für uns wie für unsere Gegner. Bis in die achtziger Jahre hinein hatte das belgische Proletariat gar keinen Einfluß auf die Gesetzgebung; ein Zensuswahlrecht Das Zensuswahlrecht ist ein beschränktes Wahlrecht, nach dem nur Bürger, die bestimmte Wahlzensen erfüllen, wie z. B. ein bestimmtes Mindesteinkommen, das aktive Wahlrecht besitzen. schloß es von der Teilnahme an den Parlamentswahlen aus. Damals herrschten auch in Belgien Zustände, die dem Lande den Namen eines »Paradieses der Kapitalisten« erworben haben. Keine Spur von Arbeiterschutzgesetzgebung, 14- bis 16stündige Arbeitszeit, die niedrigsten Löhne, völlige Verwahrlosung der Volksschulbildung und als einzige Mächte, die die große Masse des Proletariats in holdem Verein geistig beherrschten, die Schnapsflasche und der katholische Klerus. Es war in der Tat ein Paradies der Kapitalisten. Aber es hat sich auch in Belgien gezeigt, daß der Krug nur so lange zum Brunnen geht, bis er bricht. Im Jahre 1886 war in die belgischen Arbeitermassen ein neuer Geist getreten. Das äußerte sich zunächst in einem allgemeinen Sturm von Streiks. An der Spitze marschierte diejenige Schicht, die als die tief stehendste betrachtet wurde: die belgischen Bergarbeiter. Mit den ersten stürmischen Lohnkämpfen erhob sich auch in ganz Belgien die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht. Die Antwort fiel ganz nach preußischem Muster aus: Polizeisäbel, Verhaftungen, Kerkerstrafen, Blutvergießen, das waren so die ersten Beruhigungsmittel für das belgische Proletariat. Die Folgen blieben indes nicht aus. Es folgten zunächst fünf Jahre scheinbarer Ruhe, und die belgische Bourgeoisie dachte, der Sturm sei vorüber. Allein gerade mit dem 1. Mai, mit der Maifeier des Jahres 1891, brach in Belgien der erste Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht aus. 125 000 Arbeiter, eine für das kleine Land ganz bedeutende Masse, standen binnen drei Tagen auf den Beinen und erklärten, nicht eher zur Arbeit zurückzukehren, bis das allgemeine Wahlrecht gewährt sei. Belgien ist ein neutralisierter Staat, d.h., Belgien darf nach dem Übereinkommen der internationalen Mächte in Europa keinen Krieg mit anderen Staaten führen. Es besitzt deshalb auch nur eine bescheidene Armee, die formal dazu bestimmt sei, das Vaterland im Notfalle gegen den eindringenden Feind zu verteidigen. Aber in einem kapitalistischen Staate, werte Anwesende, gibt es dem »inneren Feind« gegenüber keine Neutralität. Und sobald der erste Massenstreik im Kampfe um das Wahlrecht ausgebrochen war, stellte es sich heraus, wozu eigentlich die bescheidene belgische Armee existiert. Die Bajonette wurden gegen die Arbeitermasse gerichtet; Blut floß in einigen Städten. Allein ich frage Sie: Kann ein kapitalistischer Staat 125 000 Arbeiter niedermetzeln? Wehe dem Staate, dem ein solches Bravourstück je gelingen würde! Denn er hätte ja dieselbe Biene gemordet, von deren Honig er als Drohne lebt. Und kann man vielleicht 100 000 streikende Arbeiter mit Bajonetten zwingen, Maschinen in Bewegung zu setzen? Das kann man auch nicht. Und so blieb der belgischen Regierung und der herrschenden Reaktion nichts anderes übrig, als zähneknirschend nachzugeben. Man hatte dem belgischen Proletariat feierlich versprochen, eine Reformvorlage im Parlament einzubringen. Darauf kehrten die Arbeiter an die Arbeit zurück. Dies war der erste Sieg. Der Kampf war aber damit nicht beendet; denn ein schwerer Kampf und ein zähes Ringen ist es ja überall, womit das Proletariat seine Rechte erobern muß. Freilich war von der Regierung eine Wahlrechtsvorlage im belgischen Parlament eingebracht worden; damit wurde aber gerade dieselbe parlamentarische Komödie eingeleitet, die wir jetzt in Preußen erleben. Es wurde eine Kommission eingesetzt, und da begann ein Feilschen, ein Kuhhandel, ein Hinundherzerren, bei dem kein Ende abzusehen war. Zwei volle Jahre dauerten die Parlamentsberatungen ohne das geringste Ergebnis, bis dem belgischen Proletariat die Geduld riß, und Mitte April des Jahres 1893 brach in Belgien der große Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht aus. Und diesmal waren es nicht 125 000, sondern 250 000 Arbeiter, die binnen wenigen Tagen die Werkstätten verließen. Da geschah ein Wunder. Während sich das belgische Parlament zwei Jahre lang abgequält hatte, ohne eine annehmbare Wahlreform zustande bringen zu können, war die Wahlreform unter dem Druck des zweiten Massenstreiks in zwei Tagen fertig! Freilich war es noch nicht das allgemeine, gleiche Wahlrecht, das die Arbeiter verlangten. Die Bourgeoisie hat sich durch das sogenannte Pluralwahlsystem, Das Pluralwahlsystem ist ein undemokratisches System, bei dem Wähler mit höherer Schulbildung, mit bestimmten Steueraufkommen usw. mehr als eine Stimme abgeben können., durch doppelte und dreifache Stimmen der Besitzenden, auf jeden Fall ein Übergewicht über die proletarischen Massen zu sichern gewußt. Allein die erste Bresche war doch in das Mauerwerk der Reaktion geschlagen, und schon dieses allgemeine, wenn auch nicht gleiche Wahlrecht hatte dem Proletariat so treffliche Dienste geleistet, daß bei den nächsten Parlamentswahlen im Oktober des Jahres 1894 die belgische Sozialdemokratie auf einen Hieb 28 Mandate, d. h. ein Fünftel sämtlicher Sitze im Parlament, erobert hatte. So, werte Anwesende, hat man für das allgemeine Wahlrecht in Belgien gekämpft.

Und wie ist es denn vor fünf Jahren in Rußland gegangen? Erinnern Sie sich, wie das russische Reich aussah bis zum 21. Januar 1905! Das große russische Reich galt im Laufe des ganzen 19. Jahrhunderts als ein unbegreifliches Rätsel, als ein Phänomen unter allen modernen Staaten, als ein Staat, an dessen Grenzen die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung stille standen, die Stürme der Zeit sich ohnmächtig brachen. Denn mochten im Westen, in Deutschland, in Frankreich, Revolutionen kommen und gehen, mochten Throne krachen und stürzen, mochten Bürgerkriege wüten, das heilige Mütterchen Rußland schlief sanft in der Hut des Väterchen Zaren. Und erinnern Sie sich, mit welchem Neid und mit welcher Ehrfurcht die Machthaber Preußens vor ein paar Jahren hinüber nach dem eisigen Nordosten blickten, wo der einzige glückliche Landesvater herrschte, dem seine Untertanen so gar keine Sorgen machten? Aber der 22. Januar 1905 kam, und plötzlich erhob sich in Petersburg eine hunderttausendköpfige proletarische Masse, zog vor das Schloß des Zaren und forderte die bürgerliche Freiheit und den Achtstundentag. Die erste Antwort waren Kartätschen, ganze Hügel von Niedergemetzelten, Blutströme auf dem Pflaster der Zarenhauptstadt. Aber der einmal begonnene Kampf war nicht mehr zu bannen. Die Flamme der Revolution sprang von Petersburg auf andere Städte über, sie ergriff immer breitere und tiefere Schichten, bis im Oktober des Jahres 1905 der Ausbruch jenes denkwürdigen, in der Geschichte noch nie dagewesenen Massenstreiks erfolgte, der das ganze russische Reich erfaßte, wo Gruben, Fabriken und Werkstätten, wo sämtliche Posten und Telegraphen, wo sämtliche Eisenbahnen stille standen. Und da hat es sich gezeigt, daß dem Väterchen Zaren sein ganzer Wald von Bajonetten, alle seine Batterien und Kartätschen nicht zu helfen vermochten. Der blutige Beschützer der internationalen Reaktion mußte vor der geschlossenen Macht des Proletariats das Haupt beugen und sich das Verfassungsmanifest Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks in Rußland gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest vom 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben. abringen, jenes berühmte Zarenmanifest, werte Anwesende, dessen letzter trauriger Rest nach dem späteren Siege der Konterrevolution, nach zweimaligem Staatsstreich, ich sage, dessen trauriger Rest in Gestalt des Wahlrechts zur heutigen russischen Duma noch viel fortschrittlicher ist als das, was man uns heute in Preußen als »Wahlreform« zu bieten wagt. Es gibt Leute, die sagen: Die russische Revolution ist ja geschlagen. Was haben die Kämpfe, was haben jene Massenstreiks, was haben all die Opfer genützt? Denn blickt nach Rußland: Dort herrscht die Knute nach wie vor, dort arbeiten unablässig der Galgen und die Kriegsgerichte. Werte Anwesende! Leute, die so sprechen, sind ganz oberflächliche Beobachter; denn es ist nicht wahr, daß heute in Rußland die Knute in der Weise herrscht, wie sie vor der Revolution geherrscht hat. Bis zur Revolution herrschte sie in Ruhe, dank der Indolenz und dem Stumpfsinn der Massen; jetzt aber herrscht sie gegen den Haß derselben Massen, dank der zeitweiligen Niederwerfung und Schwächung der Massen. Und gerade die Tatsache, daß die traurigen Reste des Absolutismus in Rußland sich heute nur noch im täglichen blutigen Zweikampfe mit der Bevölkerung, nur durch ein Schreckensregiment an der Herrschaft erhalten können, beweist, daß die Zeiten der ruhigen, ungetrübten Herrschaft des Absolutismus für immer vorbei sind. Und wenn heute in Rußland der Galgen und das Kriegsgericht in Permanenz übergegangen sind, so ist das ein Beweis, daß unter der Decke auch die Revolution, der Aufruhr in Permanenz bestehen. Die wertvollste, die dauernde Frucht jener Kämpfe und namentlich jener zahlreichen stürmischen Massenstreiks sind nicht geschriebene Verfassungsmanifeste, die wieder zerrissen und zurückgenommen werden können, sondern es ist das Erwachen des Proletariats, es ist die Klassensammlung, es ist die Aufklärung, es ist die Aufrüttelung der Massen. Und diese Resultate lassen sich durch keine Galgen und keine Kriegsgerichte aus der Welt schaffen. Diese Resultate sind uns auch Gewähr dafür, daß die Revolution in Rußland nur zeitweilig niedergeworfen ist, daß früher oder später die erdrückten Flammen wieder in die Höhe schießen und das gesamte morsche Gebäude zusammenbrechen wird. Über diese Tatsachen sollten doch auch die preußischen Machthaber einmal nachdenken; sie sollten des Momentes eingedenk sein, wo am 30. Oktober 1905 derjenige, den sie als den mächtigsten Beschützer der internationalen Reaktion anbeteten, vor der einfachen Macht der verschränkten Arme des Proletariats im Staube lag, und sie sollten sich sagen, daß einmal auch in Preußen, auch in Deutschland der Moment kommen muß, wo die Reaktion vor der Macht eines proletarischen Massenstreiks im Staube liegen wird. (Stürmischer Beifall.)

Man sagt manchmal: Sind wir denn überhaupt in Deutschland in der Lage, an ein solches Kampfmittel wie den Massenstreik in absehbarer Zukunft zu denken, da wir doch große Scharen von Arbeitern haben, die nicht in unserem Lager sind, die sich von unseren direkten Gegnern, namentlich vom Zentrum, am Narrenseil führen lassen? Aber, werte Anwesende, wir haben gar keinen Grund, auch in dieser Hinsicht pessimistisch in die Zukunft zu blicken. Nicht ewig wird die Blindheit dieser genasführten Proletarier dauern, und ich sage Ihnen, wenn es ein Mittel gibt, um bei diesen irregeleiteten proletarischen Massen des Zentrums und der anderen bürgerlichen Parteien den Klasseninstinkt, das Klassenbewußtsein plötzlich, wie über Nacht, aufflammen zu lassen, so ist es eine große, kühne Massenaktion des sozialdemokratischen Proletariats. Denn mögen die kleinen Kniffe und Schliche der jesuitischen Verdummungspolitik für den grauen Alltag, für das parlamentarische Getriebe ausreichen – wenn Momente kommen, wo die Entscheidung über große Fragen, über große Probleme des politischen und sozialen Lebens aus den Parlamenten heraus auf die Straße gezerrt wird, aus den Parlamenten, wo glattzüngige Herren einen Dunst um die Dinge zu verbreiten wissen, in dem sich einfache Leute nicht gleich zurechtfinden, wenn die Dinge auf die Straße gezerrt werden und in großen Auseinandersetzungen zwischen den Massen des Proletariats und seinen Gegnern zum Austrag kommen, dann erwacht in jedem Proletarier der Klasseninstinkt mit elementarer Gewalt, dann fühlen auch die christlichen Arbeiter, daß sie Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut sind. Erinnern wir uns der Beispiele, die wir in wirtschaftlichen Kämpfen erlebt haben. Kurz vor dem Ausbruch des denkwürdigen Streiks im Ruhrgebiet gab es nicht nur Leute draußen, sondern Genossen in unserem eigenen Lager, die so pessimistisch über den Zustand der Geister in jenen Schichten dachten, daß sie sagten, noch Jahrzehnte müßten vergehen, bis in diesen schwarzen Winkel einmal das Licht durchdringen wird. Und kaum waren jene Ansichten ausgesprochen, als wir das Schauspiel des gewaltigen Aufruhrs der Bergarbeiter im Ruhrrevier erlebten. Und was geschah? Da standen neben unseren Zentralverbänden die christlichen Verbände im Kampfe. In diesem Moment haben wir in Deutschland eine gewaltige Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit im Baugewerbe, und auch hier stehen neben unseren Zentralverbänden die christlichen Verbände im Kampfe und zum Kampfe gerüstet. Noch ein kleines Beispiel aus den jüngsten Tagen. Sie wissen, daß im jetzigen Wahlrechtskampfe die Kieler Genossen gleich Ihnen einen halbtägigen Demonstrationsmassenstreik veranstaltet haben, aus dem infolge der Aussperrungstaktik der Gegner ein dreitägiger geworden ist. Und was hat sich dabei herausgestellt? Gleich bei dieser ersten Probe ist durch die Aktion der sozialdemokratischen Arbeiterschaft ein Trupp der gegnerischen Arbeiter mit in den Strudel des Kampfes hineingezogen worden: die Hirsch-Dunckerschen Arbeiter der kaiserlichen »Germania«-Werft haben sich unseren Genossen im Demonstrationsstreik angeschlossen. Und so, werte Anwesende, wird es bei jeder wichtigen Auseinandersetzung zwischen dem Proletariat und zwischen seinen Feinden sein, ob auf wirtschaftlichem, ob auf politischem Gebiet; denn wenn es zu großen entscheidenden Kämpfen kommt, da zeigt es sich, daß es nicht graue Theorie, sondern lebendige Wirklichkeit ist, daß das gesamte Proletariat ins Lager des Klassenkampfes gehört. Der Zentrumsturm mag lange stehen und der Klassenaufklärung des Proletariats zum Schein trotzen – wenn er je sicher wackelt, so ist es in einer großen, scharfen Massenaktion wie bei einem politischen Massenstreik der Arbeiter. Und hat er erst einmal gewackelt, dann stürzt er auch bald in Trümmer zusammen.

Der Liberalismus in Deutschland stirbt seit 60 Jahren mit jedem Tage in einem langen, greisenhaften Siechtum dahin. Das Zentrum bewahrt sich äußerlich eine unvergängliche Kraft. Dafür wird es aber auf einmal wie ein verwitterter Fels zusammenbrechen; denn sein Fundament ist die Arbeiterschaft, und die Arbeiterschaft gehört von Natur ins Lager der Sozialdemokratie. Ist es aber mit der Macht des Zentrums vorbei, ist das Proletariat in Deutschland geeinigt und kampfbereit, dann gibt es keine Macht, die sich uns auf die Dauer widersetzen kann.

Freilich, den Herrschenden bleibt dann noch die Ultima ratio, das letzte Zufluchtsmittel der Reaktion: die brutale Gewalt. Und wir haben keinen Grund anzunehmen, daß, wenn wir unsererseits schärfere Mittel im Kampfe in Anwendung bringen, uns dann von gegnerischer Seite nicht mit den äußersten Mitteln der Gewalt begegnet würde. Wir haben ja so einen kleinen Vorgeschmack in Gestalt des Polizeisäbels bei den ersten Demonstrationen im gegenwärtigen Wahlrechtskampfe bekommen. Doch war uns nicht bloß der Polizeisäbel zugedacht. Die bürgerliche Presse hat uns ja über die Vorbereitungen, die man in Berlin gegen die Demonstration des 6. März ins Werk gesetzt hatte, die folgenden genauen Nachrichten gebracht. Das »Berliner Tageblatt« schrieb:

»Wie wir erfahren, war am 6. März, dem Sonntag, an dem der Wahlrechtsspaziergang im Tiergarten und im Treptower Park stattfand, die Kaserne des 1. Garde-Feldartillerie-Regiments in der Kruppstraße in ein förmliches Kriegslager verwandelt worden. Auf dem Kasernenhofe waren am Sonntagnachmittag Geschütze und Munitionswagen, mit scharfer Munition versehen, zum Ausrücken fertig aufgefahren; die Pferde standen gesattelt in den Ställen bereit, um jeden Moment angespannt zu werden. Von der Südkaserne wurden Mannschaften zum Munitionsempfang nach der Nordkaserne kommandiert; die Mannschaften wurden dann mit scharfer Revolvermunition versehen.« (Stürmische Pfuirufe.)

So, werte Anwesende, gedachte man unseren Demonstrationen zu begegnen. Wir kennen ja die Plötzlichkeiten und Unberechenbarkeiten des herrschenden Zickzackkurses genug, um zu wissen, daß vielleicht doch noch ein Moment kommen wird, wo wieder die Kaserne des 1. Garde-Feldartillerie-Regiments in ein Kriegslager verwandelt wird. Allein, werte Anwesende, wenn man auf jener Seite dachte, uns mit solchen Mitteln etwa einen Schritt vom Wege abbringen zu können, so hat man sich gründlich geirrt. Gerade wir Sozialdemokraten haben allen Grund, mit völliger Seelenruhe einem solchen Treffen entgegenzublicken. In dem Moment, wo in Berlin die gesattelten Pferde aus der Nordkaserne ausrücken und die geladenen Kanonen losdonnern, da gibt es in ganz Deutschland ein solches Echo, daß den Herrschenden Hören und Sehen vergehen wird. (Stürmischer, minutenlanger Beifall.) Es liegt in der Tat eine eigene Ironie darin, daß diese herrschende Gesellschaft von uns erwartet, wir würden vor Angst um das Leben vom Kampfe ablassen um alles, was das Leben erst lebenswert macht, dieselbe Gesellschaft, die uns ja gelehrt hat, wie leicht man ein Proletarierleben einschätzt, wo es sich nicht etwa um Ideale der Zukunft, um die Sache der Menschheit handelt, sondern um niedrige kapitalistische Profitinteressen. In der Schlacht bei Sedan sind bekanntlich auf deutscher Seite 3022 Tote und 5909 Verwundete gefallen – eine beträchtliche Zahl. Und es waren doch hauptsächlich Proletarierknochen, die da auf dem Schlachtfelde bleichten. Aber was bedeuten diese Ziffern im Vergleich mit der Zahl der Opfer, die die Fron für das Kapital jahraus, jahrein in Deutschland fordert!? Die offizielle Statistik zeigt für das Jahr 1909 an angemeldeten Betriebsunfällen in Deutschland die furchtbare Zahl von 653 000! Wenn man aber bloß die tödlichen Unfälle aufzählt für die Zeit, seit wir die Versicherungsgesetze haben und bis zum Schluß des Jahrhunderts, also von 1884 bis 1900, so sind bloß in diesen 16 Jahren 99 000 Tote auf dem Schlachtfelde der Arbeit gefallen! Und diese Gesellschaft erwartet, wir würden aus Angst vor Lebensopfern von dem einmal eingeschlagenen Wege, vom Kampfe um unsere elementarsten politischen Rechte, zurückweichen! Ja, wenn sich weltgeschichtliche Bewegungen durch so plumpe Mittel in ihrem siegreichen Vordringen hemmen ließen! Wir brauchen nur nach Frankreich, nach dem großen Experimentierfeld der modernen Revolution zu blicken. Wievielmal hat man dort das aufstrebende Proletariat, den Sozialismus, im Blute zu ertränken versucht! In der furchtbaren Junischlächterei des Jahres 1848 sollte der Ruf des Proletariats nach der »sozialen Republik« erstickt werden. Aber 22 Jahre später wehte die Fahne des Sozialismus wieder siegreich in der Kommune von Paris. Dann kam die Rache für den Kommuneaufstand, die grausame Metzelei im Mai 1870. Zehntausende von Toten und Lebenden wurden in einer gemeinsamen Grube verscharrt, auf dem großen Pariser Friedhof Père Lachaise. Ein großer, nackter, abgetretener Rasen am äußersten Ende des Friedhofes, eine nackte Mauer, an der heute ein paar einfache rote Kränze hängen, ausgebleicht vom Regen wie von Tränenströmen verwaschen, das war alles, was von der Pariser Kommune im ersten Augenblick geblieben war. Die siegestrunkene Bourgeoisie nicht bloß Frankreichs, sondern auch Deutschlands, ja der ganzen Welt jubelte und glaubte, sie habe den Samen des Sozialismus tief unter diesen Rasen gestampft. Aber gerade auf dem Grabe der Kommune hat das internationale Proletariat den Bruderbund geschlossen, den nichts in der Welt mehr brechen kann; aus dem Grabe der Kommune ist nach einem Jahrzehnt der Sozialismus mit zehnfacher Kraft wiedererstanden. Und wie war's in Deutschland unter dem Bismarckschen Sozialistengesetz? Wie haben im ersten Moment unsere Organisationen ausgesehen? Die Gewerkschaften zerschmettert, die Parteiorganisationen in Trümmer geschlagen, die Presse vernichtet. Wie frohlockten die herrschenden Klassen über die geächtete, gehetzte, verleumdete Schar der Sozialdemokraten! Aber nach elf Jahren und elf Monaten, da standen wir kräftiger als je und hatten rote Backen bekommen; Herr Bismarck aber lag zerschmettert am Boden.

Und so wird es unseren Gegnern auch in Zukunft immer ergehen. Ich sprach hier von dem Aufstreben des sozialistischen Proletariats, von dem unüberwindlichen, siegreichen Vormarsch des Sozialismus. Denn, werte Anwesende, was ist für uns in der Tat der gegenwärtige preußische Wahlrechtskampf anderes als bloß eine Etappe im sozialistischen Kampfe, als bloß ein Schritt vorwärts auf unserem historischen Wege zum sozialistischen Endziele? Wahrhaftig, wenn wir unseren Kampf um das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht in Preußen führen, so haben wir das klare Bewußtsein, daß wir uns dabei in der Rolle von Leuten befinden, die durch eine Ironie der Geschichte dazu verurteilt sind, nicht bloß eigene Schulden, sondern auch fremde Schulden zahlen zu müssen. Denn es ist nicht unsere historische Mission, sondern es war die historische Mission der liberalen Bourgeoisie, dafür zu sorgen, daß wir im 20. Jahrhundert nicht nötig hätten, mit den Überresten des Mittelalters in Preußen zu kämpfen. Unsere eigene Mission, der historische Beruf des Proletariats, ist, dahin zu streben, daß wir den gesamten bürgerlichen Staat mit all seinen bürgerlich-parlamentarischen Herrlichkeiten aus den Angeln heben und den Sozialismus verwirklichen, daß wir durch die Überführung aller Produktionsmittel in das Gemeineigentum der ganzen Gesellschaft die kapitalistische Anarchie durch eine planmäßige Wirtschaftsorganisation ersetzen und damit die Ausbeutung, die Knechtschaft in jeglicher Gestalt aus der Welt schaffen. Zu diesem Zweck kämpfen wir auch um das gleiche Wahlrecht in Preußen, um die Proletariermassen ökonomisch und politisch zu heben, um sie zu schulen, um sie zusammenzuschließen, um dem Augenblick entgegenzueilen, wo die Arbeiterklasse stark und aufgeklärt genug sein wird, um die gesamte politische Macht im Staate in die Hände zu nehmen und den Sozialismus zu verwirklichen. Dazu brauchen wir Waffen, dazu schmieden wir Schwerter. Und ein Schwert in diesem Sinne soll uns auch das gleiche Wahlrecht in Preußen sein. Gerade darin liegt aber die Gewähr für die historische Notwendigkeit und Sicherheit unseres Sieges im preußischen Wahlrechtskampf, daß er nur eine Schlacht unseres sozialistischen Klassenkampfes ist.

Werte Anwesende! Wir haben, so habe ich eingangs erwähnt, den ersten Sieg im Kampfe erfochten, indem wir das Recht auf die Straße, auf die Massendemonstrationen durchgesetzt haben. Es ist nun das erste Gebot jeder echten Kampftaktik und der revolutionären Taktik, jede Position, die man dem Gegner entrissen hat, sofort bis auf den letzten Fußbreit zu besetzen, um die ganze Schlachtlinie vorwärts zu rücken. Deshalb wollen wir nicht das errungene Recht auf die Straße, etwa wie artige Kinder ein Geschenk, mit Zurückhaltung und Vorsicht benutzen, sondern wir wollen es bis zum äußersten ausnutzen als unser gutes, ertrotztes Recht. Schon harrt unser die nächste Gelegenheit, wo wir in ganz Preußen zeigen können, daß wir für das wirklich errungene neue Recht auch politisch reif sind. Die nächste Gelegenheit, von der ich spreche, ist die Maifeier. Parteigenossen! Obwohl die Maifeier in diesem Jahre auf einen Sonntag fällt und wir sie nicht durch die Arbeitsruhe feiern können, so müssen wir gerade, dank der allgemeinen Erregung der Geister, dank der Aufrüttelung der breiten Schichten des Proletariats und dank dem neuerrungenen Recht auf die Straße, die Möglichkeit ergreifen, die Maifeier aus der Versumpfung herauszureißen, in die sie in den letzten Jahren leider geraten ist. Wir haben die Pflicht, die Maifeier in diesem Jahre zu einer so machtvollen Demonstration der Massen zu gestalten wie noch nie zuvor. (Stürmischer Beifall.) Ich habe vorhin erwähnt, daß wir in den bisherigen Demonstrationen für das freie Wahlrecht in Preußen neben uns hier und da bürgerliche Demokraten auftreten sahen, die sich dank der Aktion des Proletariats wenigstens als Vertreter einer ausgestorbenen Rasse der Welt präsentieren konnten. Am 1. Mai werden bürgerliche Demokraten nicht neben uns demonstrieren. Nun, wir trösten uns damit, daß an diesem Tage zuverlässigere, natürliche Bundesgenossen unser harren: die klassenbewußten Proletarier des ganzen Deutschen Reiches und das Proletariat der Welt. Durch die Vereinigung unseres Wahlrechtskampfes mit den Losungen des 1. Mai, mit dem Achtstundentag, dem Weltfrieden, dem internationalen Sozialismus, bekommt die preußische Wahlrechtsbewegung erst den richtigen Rahmen eines sozialistischen Klassenkampfes, und damit wird unser preußisches Wahlrechtsfähnlein an ein größeres Banner, an das Banner der internationalen Sozialdemokratie, geheftet.

Werte Anwesende! Es ist jetzt unsere Aufgabe, jede Gelegenheit zu benutzen, um die große Masse des Proletariats in Bewegung zu setzen, um sie zur Aktion anzufeuern. Große Massenaktionen wie die Massenstreiks lassen sich nicht auf Kommando künstlich hervorrufen; sie lassen sich aber auch zum Glück nicht künstlich verhindern, wenn die Verhältnisse dafür reif sind. Wir müssen heute unablässig in den breitesten Schichten des Proletariats die volle Aufklärung über die Sachlage verbreiten, das Bewußtsein der eigenen Macht in den Massen wecken, die Kampfenergie stärken und den Samen des Sozialismus mit vollen Händen ausstreuen. Das Weitere überlassen wir getrost dem Gang der Dinge, mit dem sicheren Gefühl, daß uns die Geschichte in die Hände arbeitet und daß wir Sozialdemokraten in diesem Kampfe, wie bei jeder Etappe auf unserem Vormarsch zum Sozialismus, Sieger bleiben werden – trotz alledem! (Stürmischer Beifall.)


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