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Eine Reihe von Delegierten, die unseren Antrag Rosa Luxemburg hatte mit 60 anderen Delegierten einen Antrag eingebracht, in dem gefordert wurde, die Erörterung und Propagierung des politischen Massenstreiks in der Parteipresse und in Versammlungen in die Wege zu leiten. Dieser Antrag wurde mit großer Mehrheit auf dem Parteitag abgelehnt. nicht unterschrieben haben, haben erklärt, daß sie sachlich vollkommen damit übereinstimmen, daß sie aber Bedenken tragen, daß ein Wort in unserem Antrage Mißverständnisse in bestimmten Kreisen der Partei hervorrufen könnte, und zwar das Wort »Propagierung«. Wir sind damit einverstanden, daß dieses Wort im Antrage gestrichen wird. Wir haben unseren Antrag als notwendige Ergänzung zur Resolution des Parteivorstandes eingebracht. Die Vorstandsresolution faßt die preußische Wahlrechtsfrage von der allgemeinen Seite auf. Wir möchten die aktuelle Seite, die politischen Richtlinien für den Kampf mehr hervorheben. Das vermissen wir in der Vorstandsresolution, weil sie bei allem Richtigen, das sie ausspricht, dem nicht genügend gerecht wird, daß wir seit dem preußischen Parteitag in unserem preußischen Wahlrechtskampfe ein gewaltiges Stück vorwärtsgekommen sind. Wir haben seitdem im preußischen Abgeordnetenhause die Posse der Bethmann Hollwegschen Vorlage mit ihrem vollkommenen Bankerott zum Schluß erlebt. Andererseits haben wir Straßendemonstrationen erlebt, wie sie Deutschland und Preußen noch nicht gesehen hat. Dieses Ergebnis, einerseits der Zusammenbruch der parlamentarischen Aktion der Regierung und der bürgerlichen Parteien, andererseits das machtvolle Anschwellen der Massenaktion, hat nicht bloß die Auffassung des preußischen Parteitags in glänzender Weise bestätigt, sondern es hat auch den Losungen, die auf dem Parteitag formuliert worden sind, eine viel konkretere aktuelle Bedeutung gegeben, als es zu Weihnachten der Fall war. Das bezieht sich namentlich auf die Losung des politischen Massenstreiks. Schon der preußische Parteitag hat ihn einstimmig als Mittel empfohlen, das eventuell zur Anwenwendung kommen soll. Auch im Referat und in den Reden ist darauf nachdrücklich hingewiesen worden. Aber die Ereignisse selbst haben dieser Losung Leben und praktische Bedeutung gegeben.
Parteigenossen! Seitdem wir im Frühjahr die machtvollen Massendemonstrationen für das preußische Wahlrecht hatten, ist die Losung des Massenstreiks gewissermaßen in den Vordergrund des Interesses unserer proletarischen Massen getreten. Genauso wie im Jahre 1906 die Hamburger Parteigenossen im Januar bereits einen wohlgelungenen Versuch mit der Anwendung des Massenstreiks als einer politischen Demonstration den Anfang gemacht haben, so haben in diesem Jahre die Genossen in Kiel, die Genossen in Frankfurt und Hanau glänzend abgelaufene Demonstrationsmassenstreiks gemacht, und in einer Reihe anderer Städte, in Breslau, in Halle, im Hessen-nassauischen Agitationsbezirk, im Rheinland, in Bremen haben sich die Parteigenossen in lebhaftester Weise mit der Idee des Massenstreiks befaßt, und dies ist auch in einer lebhaften Diskussion in unserer Parteipresse im Frühling zum Ausdruck gekommen. Das ist ganz selbstverständlich und konnte nicht anders sein. Sobald wir gewaltige Massen im Wahlrechtskampf auf den Plan rufen, sobald wir machtvolle Demonstrationen veranstalten, entsteht sehr bald in den Massen selbst die Frage: Was werden wir weiter machen? Der Auffassung kann sich niemand verschließen, daß wir höchstwahrscheinlich mit der bloßen Demonstration den Zweck unserer Wahlrechtskämpfe nicht erreichen werden. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß auf die bloßen Kundgebungen des Willens der proletarischen Massen hin die herrschenden Reaktionäre Preußen-Deutschlands freiwillig auf ihr stärkstes Bollwerk verzichten werden, und da entsteht naturgemäß in den Massen der demonstrierenden Proletarier die Frage: Haben wir noch weitere, wirksamere Waffen, wenn sich die Waffe des Demonstrationsstreiks als nicht ausreichend erweist? (»Bravo!«) Haben wir noch Mittel und Wege, um unserem Willen mehr Nachdruck, mehr Wirksamkeit zu verleihen? Da ist es unsere selbstverständliche Pflicht, auf diese Frage den Massen die klare Antwort zu geben: Jawohl, ihr habt noch ein wirksameres Mittel, das ihr nötigenfalls ins Werk setzen könnt, und dieses Mittel ist die Arbeitsverweigerung, das ist der Massenstreik. Und es kommt noch ein weiteres hinzu: Sobald wir Massendemonstrationen veranstalten, sobald diese sich immer steigern, immer gewaltiger werden, wird eine Lage geschaffen, in der nicht nur von uns der Ausgang des Wahlrechtskampfes abhängt, sondern es kommen dann andere Faktoren mit ins Spiel, das Verhalten unserer Gegner. Wir wissen alle, in welcher Weise von der herrschenden Reaktion unseren ersten Massendemonstrationen begegnet worden ist, wir haben in frischer Erinnerung all die Säbelattacken, all die Provokationen der Polizei, wir wissen alle, daß bis jetzt unwiderlegt geblieben ist die Nachricht des »Berliner Tageblatts«, daß bei der großen Demonstration im Tiergarten am 6. März die Kaserne des 1. Feldartillerie-Regiments in ein Kriegslager verwandelt worden ist, daß man nur auf einen Vorwand lauerte, um die friedlich und ruhig demonstrierenden Massen in ihrem eigenen Blute zu ersticken. Wir haben es bis jetzt fertiggebracht, diese Drohungen ohne Wirksamkeit bleiben zu lassen. Wir haben es erreicht, daß die Polizei ihre Säbel wieder in die Plempe steckte. Aber wer bürgt uns dafür, daß wir nicht in Zukunft mit neuen Provokationen zu rechnen haben, wenn wir wieder die Massen auf den Plan rufen? Im Gegenteil, die ganze Unberechenbarkeit, Kopflosigkeit und Schrullenhaftigkeit des herrschenden politischen Systems in Deutschland macht es uns zur Pflicht, als ernste Politiker damit zu rechnen, daß wir auf alle Eventualitäten beim preußischen Wahlrechtskampfe bereit sein müssen. (»Sehr richtig!«) Und da müssen wir den Massen, die wir zur Demonstration auf die Straße rufen, von vornherein die klare, ruhige Sicherheit geben: Ihr seid nicht wehrlos den frivolen Provokationen der säbelfuchtelnden Reaktion preisgegeben, wir haben ein Mittel, um im äußersten Falle auf die Provokation zu antworten, und dieses Mittel ist wiederum die Arbeitsverweigerung, der politische Massenstreik. Parteigenossen! Gegenwärtig erleben wir eine Pause im Wahlrechtskampf, deshalb ist gewissermaßen die Aktualität aller dieser Fragen, aller dieser Losungen ein wenig zurückgetreten. Aber ich hoffe, wir werden bald ein machtvolles Wiederaufleben des preußischen Wahlrechtskampfes erleben. Ich hoffe und erwarte, daß unser Referent in seinem Schlußwort den machtvollen Ruf ertönen läßt, den ich bis jetzt noch in seinem Referat Das Referat und Schlußwort zur Wahlrechtsdebatte hatte Hermann Borgmann gehalten. vermißt habe, und daß bei der ersten möglichen Gelegenheit der preußische Wahlrechtskampf noch machtvoller als bisher auflodert. Sobald dies geschehen wird, werden alle diese Fragen in ihrer ganzen Lebendigkeit ebenso vor uns stehen, wie sie im vergangenen Frühling gestanden sind. Wir wissen alle, daß in den leitenden Kreisen unserer Partei und namentlich unserer Gewerkschaften eine starke Abneigung dagegen besteht, daß man die Frage des Massenstreiks namentlich während des Wahlrechtskampfes öffentlich erörtert. Die Befürchtungen ergeben sich aus der Auffassung, als ob es genügen würde, vom Massenstreik in Versammlungen und in der Presse zu reden, damit ein Massenstreik über Nacht ausbricht, ob er gelegen oder ungelegen kommt. Diese Auffassung geht dahin, daß man die Erörterung der Frage des Massenstreiks, die Propaganda des Massenstreiks gewissermaßen als ein Spielen mit dem Feuer auffaßt. Parteigenossen, es ist notwendig, es ist die höchste Zeit, daß sich alle bei uns darüber klarwerden, daß diese Auffassung vom Massenstreik total verfehlt ist, und eine der Aufgaben unseres Antrages ist, über diese Auffassung volle Klarheit zu schaffen, die Befürchtungen, als ob die Erörterung der Frage des Massenstreiks allein künstlich – gelegen oder ungelegen – den Massenstreik provozieren könnte, zu beseitigen. Diese Auffassung müssen wir überwinden, wie die anarchistische Auffassung vom Generalstreik, der jene entspricht, längst begraben ist. Ein politischer Massenstreik ist nicht eine Erscheinung, die man künstlich dadurch heraufbeschwören könnte, daß man von ihr redet oder diese Waffe propagiert. Ein politischer Massenstreik kann nur entstehen aus historischen Bedingungen; aus der Reife der politischen und wirtschaftlichen Situation kann sich ein Massenstreik ergeben, und wenn irgend etwas Ihnen beweist, daß man ins unendliche vom Massenstreik reden kann, ohne den geringsten praktischen Erfolg, wenn die Bedingungen zu seiner Verwirklichung fehlen, so ist es die Geschichte der Idee des Generalstreiks selbst. Sie wissen, daß die Anarchisten vom Schlage Domela Nieuwenhuis' Siehe Anm. 91. jahrzehntelang den Generalstreik anpriesen als eine Panazee gegen alle Übel der bestehenden Gesellschaftsordnung und gegen den Krieg, als ein Mittel zur Herbeiführung der sozialen Revolution binnen 24 Stunden. Und heutzutage, wer führt den Generalstreik mehr im Munde als die französischen Syndikalisten anarchistischer Observanz? Das Hausieren mit der Generalstreiksidee durch Nieuwenhuis hat nicht ein Jota an ernsten Erfolgen zu verzeichnen, kein Mensch hat sich darum gekümmert. Und das Land, wo der Generalstreik am wenigsten in der Praxis hervorgetreten ist, ist heute Frankreich, wo die Syndikalisten ihn stets im Munde führen.
So beweist die Geschichte dieser Idee selbst, daß nicht das Propagieren, die Erörterung, das Anpreisen des Massenstreiks künstlich den Massenstreik hervorrufen kann, sondern einzig und allein die Reife der historischen und wirtschaftlichen Bedingungen. Erst im letzten Jahrzehnt, seitdem wir den machtvollen Zusammenschluß des Kapitals zu Kartellen, die Aussperrungspolitik, die beispiellose Verschärfung der Klassengegensätze haben, zeigt es sich, daß in einem Lande nach dem anderen Massenstreiks ausbrechen, nicht, weil sie einst von Anarchisten propagiert wurden, sondern weil die historischen Bedingungen sie erforderten.
Für uns im preußischen Wahlrechtskampf ergibt sich die Losung des Massenstreiks aus der einfachen Tatsache, daß das Proletariat einzig und allein auf sich, auf seine eigene Kraft angewiesen ist, um diesem Kampfe zum Siege zu verhelfen. Als schärfste Form der selbständigen politischen Aktion des Proletariats ist der Massenstreik bei uns in Preußen-Deutschland zugleich ein Produkt der Verschärfung der Klassengegensätze, des Verfalls des bürgerlichen Liberalismus, der bürgerlichen Demokratie, des Zusammenschlusses aller bürgerlichen Parteien gegen uns, ein Produkt der ganzen geschichtlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte.
So aufgefaßt, auf eine solche Basis gestellt, bedeutet die Erörterung des Massenstreiks nicht das künstliche Hervorzaubern eines Massenstreiks ohne Grund und ohne die Bedingungen der Wirksamkeit, sondern sie ist ein hervorragendes Aufklärungsmittel für die Massen, ein hervorragendes Mittel der politischen Erziehung und der Vertiefung der politischen Auffassung der proletarischen Massen. (»Sehr richtig!«)
Nicht als ein wundertätiges Mittel, das nur aus der Tasche gezogen zu werden braucht, um uns sichere Siege zu bringen, wollen wir den Massenstreik erörtern und seine Idee verbreiten, im Gegenteil, wir haben allen Grund, der Masse klaren Wein einzuschenken – darin bin ich mit Borgmann ganz einverstanden, der das als Argument gegen unseren Antrag vorbringen zu müssen glaubte –, daß wir nicht auf einen Hieb einen solchen Kampf wie den preußischen Wahlrechtskampf siegreich beenden können. Wir müssen die Massen darauf vorbereiten, daß nur in einer langen Reihe schwerer, opferreicher Kämpfe der Sieg errungen werden kann. Aber gerade dadurch, daß wir sie auf die ganze Schwere des bevorstehenden Kampfes im Zusammenhang mit der Erörterung des Massenstreiks hinweisen, erfüllen wir gegenüber der Arbeiterklasse nicht nur ein Werk der politischen Aufklärung, sondern auch der moralischen und sittlichen Erziehung, indem wir an den höchsten Idealismus, an die Opferwilligkeit appellieren. Wenn Sie das alles zusammennehmen, müssen Sie zugeben, daß die Propagierung des Massenstreiks, so aufgefaßt, ein gut Stück Erziehung der Massen zum Sozialismus darstellt. (»Sehr richtig!«) Ebenso hinfällig wie die Befürchtung, als ob ein Massenstreik, bloß weil man davon redet, unzeitig ausbrechen könnte, ist die Ansicht, daß mit der Propagierung bereits die Festlegung auf einen Termin gegeben ist. Wer kann bestimmen, wann wir in Preußen-Deutschland einen politischen Massenstreik machen müssen? Darüber bestimmen doch nicht wir allein. Ein politischer Massenstreik kann vielleicht über ein, zwei, über drei Jahre, er kann aber möglicherweise auch schon nach den nächsten paar Wahlrechtsdemonstrationen notwendig werden, denn außer unserer Taktik kommt doch die Taktik der Gegner, das Verhalten der Reaktion, die allgemeine Stimmung, die wirtschaftliche Lage in Betracht. Steht die Sache aber so, können wir nicht festlegen, wann und wie der Massenstreik zustande kommt, müssen wir zugeben, daß er möglicherweise schon in sehr kurzer Zeit notwendig werden kann, so ergibt sich daraus die klare Pflicht, die Massen auf ihre Aufgaben vorzubereiten und dafür zu sorgen, daß, wenn die Situation reif ist, sie nicht bloß unter dem Affekt, in der Erbitterung zur Waffe des Massenstreiks greifen, sondern als eine politisch geschulte, scharf überlegende Armee von Klassenkämpfern unter Führung der Sozialdemokratie ins Feld ziehen. (»Bravo!«) Eine solche historische Erscheinung wie der politische Massenstreik läßt sich nicht auf Kommando hervorrufen, sie läßt sich aber auch nicht auf Kommando abbestellen, wenn die Zeit dafür reif ist. (»Sehr wahr!«) Wenn wir es unterlassen, die Massen durch eine eingehende Erörterung des politischen Massenstreiks im Zusammenhang mit der historischen und politischen Entwicklung vorzubereiten, dann werden wir nur erreichen, daß gegebenenfalls die Massen sich nicht unter unserer Führung, sondern in chaotischer Verwirrung in den Massenstreik stürzen. Nicht wir, sondern die Massen sind berufen zu entscheiden, wann die Zeit reif ist, und unsere Pflicht ist es, ihnen die geistigen Waffen zu geben, die klare Einsicht in die Tragweite des Kampfes, in die Größe der Aufgaben und in die damit verbundenen Opfer. Denn hier, wie in jedem anderen politischen Kampfe, heißt es: Bereit sein ist alles. (Lebhafter Beifall.)