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Ich muß vor allem auf einige Mißverständnisse antworten, die sich aus dem zufälligen Umstand ergaben, daß ich aus Zeitmangel in meinem Referat die Darlegung der grundlegenden Ansichten über das Verhältnis des Proletariats zu den bürgerlichen Parteien beinahe um die Hälfte kürzen mußte. Für meine Kritiker war der Umstand besonders günstig, daß ich nicht Zeit hatte, das Verhältnis des Proletariats zu den kleinbürgerlichen Strömungen und speziell zur Bauernschaft eingehender zu beleuchten. Wieviel kühne Schlußfolgerungen sind aus dieser Tatsache gezogen worden! Ich sprach nur über das Verhältnis des Proletariats zur Bourgeoisie, und das stellt nach der Meinung des Genossen Martow einfach die Identifizierung der Rolle des Proletariats und aller anderen Klassen, ausgenommen die Bourgeoisie, in der gegenwärtigen Revolution dar – mit anderen Worten –, das bedeutet jenen »linken Block«, der die klassenmäßige Sonderstellung des Proletariats verwischt und es dem Einfluß des Kleinbürgertums unterordnet – jenen »linken Block«, den die Genossen Bolschewiki verteidigen.
Nach Meinung des Referenten vom Bund Der Allgemeine Jüdische Arbeiterverband in Litauen, Polen und Rußland (Bund) war eine im Oktober 1897 in Wilna gegründete Organisation bürgerlich-nationalistischen Charakters, der vor allem jüdische Handwerker angehörten. ergibt sich daraus, daß ich mich ausschließlich mit der Politik des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie befaßt habe, gerade umgekehrt ganz offensichtlich, daß ich die Rolle der Bauernschaft und den »linken Block« völlig negiere und mich so in direkten Gegensatz zum Standpunkt der Genossen Bolschewiki stelle. Schließlich ging ein anderer Redner des Bundes in der Rücksichtslosigkeit seiner Schlußfolgerungen noch weiter, indem er erklärte, daß es geradezu nach Anarchismus rieche, wenn man vom Proletariat allein als einer revolutionären Klasse spreche. Wie Sie sehen, sind die Schlußfolgerungen ziemlich verschiedenartig und stimmen nur darin überein, daß sie für mich alle gleich vernichtend sein sollen. Eigentlich muß man sich etwas über die Erregung wundern, in die meine Kritiker im Zusammenhang damit geraten sind, daß ich hauptsächlich die Wechselbeziehungen zwischen Proletariat und Bourgeoisie in der gegenwärtigen Revolution beleuchtet habe. Es steht doch außer Zweifel, daß gerade dieses Verhältnis, gerade die Definition vor allem der Haltung des Proletariats gegenüber seinem sozialen Antipoden, gegenüber der Bourgeoisie, den Kern der Frage darstellt, jene Hauptachse der proletarischen Politik ist, um die sich dann sein Verhältnis zu den anderen Klassen und Gruppen, zum Kleinbürgertum, zur Bauernschaft und anderen, herauskristallisiert. Und wenn wir zu der Schlußfolgerung kommen, daß die Bourgeoisie in der gegenwärtigen Revolution nicht die Rolle des Führers der Befreiungsbewegung spielt und sie auch nicht spielen kann, daß sie dem Wesen ihrer Politik nach konterrevolutionär ist, wenn wir demzufolge erklären, daß sich das Proletariat bereits nicht mehr als Hilfstrupp des bürgerlichen Liberalismus betrachten darf, sondern als Vortrupp der revolutionären Bewegung, der seine Politik nicht in Abhängigkeit von den anderen Klassen festlegt, sondern sie ausschließlich von seinen eigenen Klassenaufgaben und -interessen ableitet, wenn wir sagen, daß das Proletariat nicht nur der Steigbügelhalter der Bourgeoisie ist, sondern zu einer selbständigen Politik berufen ist – wenn wir all das sagen, so scheint damit klar ausgedrückt zu sein, daß das bewußte Proletariat jede revolutionäre Bewegung des Volkes ausnutzen und sie seiner Führung und seiner Klassenpolitik unterordnen muß. Speziell in bezug auf die revolutionäre Bauernschaft konnte es bei niemandem Zweifel darüber geben, daß wir ihre Existenz nicht vergessen und die Frage nach dem Verhältnis des Proletariats zu ihr keineswegs mit Stillschweigen übergehen. Die dem Parteitag vor einigen Tagen von den polnischen Genossen, darunter auch von mir, vorgelegten Direktiven für die sozialdemokratische Dumafraktion haben in dieser Frage eine völlig klare und genaue Sprache gesprochen.
Ich benutze hier die Gelegenheit, um wenigstens mit einigen Worten diese Fragen näher zu berühren. Das Verhältnis des rechten Flügels unserer Partei zur Frage der Bauernschaft wird – genauso wie das zur Frage der Bourgeoisie – durch das bekannte fertige, vorher gegebene Schema bestimmt, dem die wirklichen Verhältnisse bereits unterliegen. »Für uns Marxisten«, sagt Genosse Plechanow, »ist der werktätige Bauer unter den Verhältnissen der modernen kapitalistischen Warenwirtschaft nicht mehr als eine der Spielarten des unabhängigen kleinen Warenproduzenten, und die unabhängigen kleinen Warenproduzenten werden von uns nicht ohne Grund zum Kleinbürgertum gerechnet.« Daraus ergibt sich, daß der Bauer, ebenso wie der Kleinbürger, ein reaktionäres Element der Gesellschaft ist, und wer ihn für revolutionär hält, idealisiert ihn, unterordnet die selbständige Politik des Proletariats dem Einfluß des Kleinbürgertums.
Die angeführte Argumentation ist wiederum ein klassisches Beispiel für jene berüchtigte metaphysische Denkweise nach der Formel: Ja – ja, nein – nein, und was darüber ist, das ist vom Übel. Die Bourgeoisie ist eine revolutionäre Klasse – und was darüber ist, das ist vom Übel. Die Bauernschaft ist eine reaktionäre Klasse, und was darüber ist, das ist vom Übel. Zweifellos ist die im angeführten Zitat gegebene Einschätzung des Bauern in der bürgerlichen Gesellschaft richtig, sofern es sich um die sogenannten normalen, ruhigen Perioden im Dasein dieser Gesellschaft handelt. Und in diesen Grenzen krankt sie an beträchtlicher Engstirnigkeit und Einseitigkeit. In Deutschland stoßen immer zahlreichere Schichten nicht nur des Landproletariats, sondern auch der Kleinbauern zur Sozialdemokratie und beweisen damit, daß es bis zu einem gewissen Grade trockener und lebloser Schematismus ist, wenn man von der Bauernschaft als einer durchweg einheitlichen Klasse reaktionärer Kleinbürger spricht. Auch in der noch nicht differenzierten Masse der russischen Bauernschaft, die von der gegenwärtigen Revolution in Bewegung gebracht wurde, befinden sich bedeutende Schichten nicht nur unserer zeitweiligen politischen Verbündeten, sondern auch unserer künftigen natürlichen Genossen. Und jetzt schon darauf zu verzichten, sie unserer Führung und unserem Einfluß zu unterordnen, wäre eben ein für den Vortrupp der Revolution unverzeihliches Sektierertum.
Aber vor allem die mechanische Übertragung des Schemas von der Bauernschaft als einer reaktionären kleinbürgerlichen Schicht auf die Rolle der gleichen Bauernschaft in der revolutionären Periode ist zweifelsohne ein Verstoß gegen die historische Dialektik. Die Rolle der Bauernschaft und die Haltung des Proletariats ihr gegenüber wird ebenso wie die Rolle der Bourgeoisie nicht von den subjektiven Wünschen und Bestrebungen dieser Klassen bestimmt, sondern von ihrer objektiven Lage. Die russische Bourgeoisie ist trotz der mündlichen Erklärungen und der gedruckten Programme des Liberalismus eine objektiv reaktionäre Klasse, weil ihre Interessen in der gegenwärtigen sozialen und historischen Situation die möglichst schnelle Liquidierung der revolutionären Bewegung mittels eines faulen Kompromisses mit dem Absolutismus erfordern. Was die Bauernschaft angeht, so ist sie – ungeachtet der ganzen Verworrenheit und der Widersprüchlichkeit ihrer Forderungen, ungeachtet des verschwommenen, in verschiedenen Farben schillernden Charakters ihrer Bestrebungen – in der gegenwärtigen Revolution ein objektiv revolutionärer Faktor, da sie in schärfster Form die Frage einer Umwälzung der Agrarverhältnisse auf die Tagesordnung der Revolution stellt und damit eine Frage aufwirft, die im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft nicht gelöst werden kann, die ihrer Natur nach über die Grenzen dieser Gesellschaft hinausgeht. Es ist sehr gut möglich, daß, sobald sich die Wellen der Revolution glätten, sobald die Bodenfrage schließlich und endlich die eine oder andere Lösung im Geiste des bürgerlichen Privateigentums findet, breite Schichten der russischen Bauernschaft sich in eine offen reaktionäre, kleinbürgerliche Partei ähnlich dem Bayerischen Bauernbund Der Bayerische Bauernbund war 1895 durch Vereinigung verschiedener bayerischer Bauernbünde gegründet worden. Er trug mittel- und kleinbäuerlichen Charakter und erhob agrarische und föderalistische Forderungen. verwandeln. Aber solange die Revolution fortdauert, solange die Bodenfrage nicht geregelt ist, ist sie nicht nur eine politische Klippe für den Absolutismus, sondern auch eine soziale Sphinx für die gesamte russische Bourgeoisie und deshalb ein selbständiges Ferment der Revolution, das ihr in Wechselwirkung mit der städtischen proletarischen Bewegung jenen breiten Schwung gibt, der spontanen Volksbewegungen eigen ist. Daraus entspringt auch jene utopisch-sozialistische Färbung der Bauernbewegung in Rußland, die keineswegs die Frucht einer künstlichen Züchtung und der Demagogie von Seiten der Sozialrevolutionäre ist, sondern alle großen Bauernaufstände der bürgerlichen Gesellschaft begleitet hat. Es genügt, an die Bauernkriege in Deutschland und an den Namen Thomas Müntzer zu erinnern.
Aber gerade weil die Bauernbewegungen utopisch und ihrer Natur nach ausweglos sind, sind sie vollkommen unfähig, eine selbständige Rolle zu spielen, und ordnen sich in jeder historischen Situation der Führung anderer, aktiverer und entschiedenerer Klassen unter. In Frankreich unterstützte die revolutionäre städtische Bourgeoisie energisch die Aufstände der Bauernschaft, der sogenannten Jacquerie. Der größte französische Bauernaufstand während der Feudalzeit, die sogenannte Jacquerie, brach im Mai 1358 aus. Der Aufstand war gegen den Adel gerichtet und hatte kein ausgeprägtes Programm. Er wurde im Juni 1358 niedergeschlagen. Wenn in Deutschland im Mittelalter die Führung der Bauernkriege nicht in die Hände der fortgeschrittenen Bourgeoisie, sondern in die Hände des reaktionären oppositionellen niederen Kleinadels geriet, so geschah das deshalb, weil die deutsche Bourgeoisie – infolge der historischen Rückständigkeit Deutschlands – die erste Phase ihrer Klassenemanzipation nur in der kümmerlichen ideologischen Form der religiösen Reformation verwirklichte und weil sie infolge ihrer Schwäche, anstatt die Bauernkriege zu begrüßen, vor ihnen erschrak und sich der Reaktion in die Arme warf, so wie sich jetzt der sowohl durch die proletarische als auch durch die Bauernbewegung erschreckte russische Liberalismus der Reaktion in die Arme wirft. Es ist klar, daß die politische Führung der chaotischen Bewegung der Bauernschaft und deren Beeinflussung jetzt in Rußland die natürliche historische Aufgabe des bewußten Proletariats ist.
Und wenn es auf diese Rolle aus Angst um die Reinheit seines sozialistischen Programms verzichtete, so würde es wiederum auf dem Niveau einer doktrinären Sekte stehen, aber nicht auf der Höhe des natürlichen historischen Führers der gesamten Masse besitzloser Opfer der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, der es der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus zufolge ist. Erinnern wir uns an die Stelle bei Marx, wo er davon spricht, daß das Proletariat berufen ist, der Kämpfer für alle Besitzlosen zu sein.
Wenden wir uns aber wieder der Frage des Verhältnisses zur Bourgeoisie zu. Ich werde natürlich nicht ernstlich auf die Einwände und die Kritik von seiten des Bundes antworten. Die gesamte politische Weisheit des Bundes läuft, wie sich herausstellt, auf eine außerordentlich einfache These hinaus: die guten Seiten einer jeden Situation ausnutzen, ohne von irgendwelchen festen und bestimmten Prinzipien auszugehen. Von dieser kleinen politischen Weisheit möchten sich die Genossen vom Bund sowohl in dem Verhältnis zu den Fraktionen innerhalb unserer Partei als auch zu den verschiedenen Klassen in der russischen Revolution leiten lassen. In den innerparteilichen Beziehungen läuft diese Opposition eigentlich nicht auf die Rolle eines selbständigen politischen Zentrums hinaus, sondern auf eine Politik, die bereits von vornherein auf das Bestehen zweier verschiedener Fraktionen berechnet ist. Auf den weiten Ozean der russischen Revolution übertragen, führt sie zu äußerst jämmerlichen Ergebnissen. Hier reduziert sich die von den Vertretern des Bundes verteidigte Politik auf die längst bekannte klassische Losung der deutschen Opportunisten: zur Politik »von Fall zu Fall« oder, wenn Sie wollen, von einem Fallen zum anderen. (Beifall.) Diese deutlich zutage getretene Physiognomie des Bundes ist wichtig und interessant nicht sosehr für die Einschätzung seiner selbst als vielmehr deshalb, weil der Bund durch sein Bündnis und die Unterstützung der Menschewiki auf diesem Parteitag der Tendenz der Politik der Genossen Menschewiki Nachdruck verleiht.
Genosse Plechanow hat mir den Vorwurf gemacht, daß ich in gewisser Beziehung den verflüchtigten, über den Wolken schwebenden Marxismus darstelle. Genosse Plechanow, der sogar dann liebenswürdig ist, wenn das nicht seine Absicht ist, hat mir in diesem Fall wirklich ein Kompliment gemacht. Um sich im Verlauf der Ereignisse zu orientieren, muß der Marxist die Verhältnisse überschauen, nicht indem er in den Tiefen der täglichen und stündlichen Konjunktur herumkriecht, sondern von einer bestimmten theoretischen Höhe aus. Und die Warte, von der aus der Verlauf der russischen Revolution zu betrachten ist, ist die internationale Entwicklung der bürgerlichen Klassengesellschaft und der von ihr erreichte Reifegrad. Genosse Plechanow und seine Freunde haben mir bittere Vorwürfe darüber gemacht, daß ich für die gegenwärtige Revolution so verlockende und glänzende Perspektiven entwerfe, als stünden dem russischen Proletariat lauter unbegrenzte Siege bevor. Das ist völlig unrichtig. Meine Kritiker unterschieben mir in diesem Falle die mir vollkommen fremde Auffassung, das Proletariat könne und dürfe seine Kampftaktik nur unter der Bedingung in vollem Ausmaß und mit aller Entschiedenheit entfalten, daß ihm von vornherein lauter Siege garantiert sind. Ich finde im Gegenteil, daß der Führer schlecht und die Armee armselig sind, die eine Schlacht nur dann aufnehmen, wenn sie den Sieg von vornherein in der Tasche haben. Im Gegenteil: Ich gedenke dem russischen Proletariat nicht eine Reihe sicherer Siege zu prophezeien, sondern ich glaube eher, daß, wenn die Arbeiterklasse, getreu ihrer historischen Aufgabe, ihre Kampftaktik entsprechend den sich immer stärker entfaltenden Widersprüchen und den sich ständig erweiternden Perspektiven der Revolution immer weiter ausdehnen und immer entschlossener durchführen wird, sie in sehr komplizierte Situationen voller Schwierigkeiten geraten kann. Mehr noch: Ich glaube sogar, daß auf die russische Arbeiterklasse, wenn sie sich auf der Höhe ihrer Aufgaben erweisen wird, das heißt durch ihre Aktionen den Verlauf der revolutionären Ereignisse bis an die äußerste, durch die objektive Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse gegebene Grenze heranführen wird, daß auf sie an dieser Grenze fast unvermeidlich eine große vorübergehende Niederlage wartet. Aber ich meine, daß das russische Proletariat den Mut und die Entschlossenheit besitzen muß, um all dem entgegenzutreten, was ihm die geschichtliche Entwicklung zugedacht hat, daß es nötigenfalls, auch wenn es Opfer kostet, in dieser Revolution der Weltarmee des Proletariats gegenüber die Rolle jenes Vortrupps spielen muß, der neue Widersprüche, neue Aufgaben und neue Wege des Klassenkampfes entdeckt, die Rolle, die das französische Proletariat im 19. Jahrhundert gespielt hat. Ich meine, daß sich das russische Proletariat in seiner Taktik überhaupt nicht von Berechnungen über Niederlage oder Sieg leiten lassen darf, sondern sie ausschließlich aus seinen historischen Klassenaufgaben ableiten muß, eingedenk dessen, daß Niederlagen des Proletariats, die aus dem revolutionären Schwung seines Klassenkampfes hervorgehen, nur lokale und vorübergehende Erscheinungsformen seiner weltumspannenden Vorwärtsbewegung in ihrer Gesamtheit genommen sind, daß diese Niederlagen unvermeidliche historische Stufen sind, die zum Endsieg des Sozialismus führen. (Beifall.)