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Wenn man die bisherigen Reden in der Debatte zur Frage des politischen Massenstreiks hier gehört hat, muß man sich wirklich an den Kopf fassen und fragen: Leben wir denn tatsächlich im Jahre der glorreichen russischen Revolution, oder stehen wir in der Zeit zehn Jahre vor ihr? (»Sehr richtig!«) Sie lesen tagtäglich in den Zeitungen die Berichte von der Revolution, Sie lesen die Depeschen, aber es scheint, daß Sie keine Augen haben, zu sehen, und keine Ohren, zu hören. Da verlangt man, daß wir sagen, wie werden wir den Generalstreik machen, mit welchen Mitteln, zu welcher Stunde wird der Generalstreik erklärt, habt ihr schon die Magazine für die Lebensmittel? Die Massen werden verhungern. Könnt ihr es auf euer Gewissen nehmen, daß Blut fließt? Ja, alle, die solche Fragen stellen, haben nicht die geringste Fühlung mit der Masse, sonst würden sie sich nicht so weit den Kopf um das Blut der Massen zerbrechen, denn die Verantwortlichkeit ruht gerade nicht bei den Genossen, die diese Fragen stellen. Schmidt sagt, warum sollen wir auf einmal unsere alte bewährte Taktik dem Generalstreik zuliebe aufgeben, warum sollen wir auf einmal diesen politischen Selbstmord begehen? Ja, sieht denn Robert Schmidt nicht, daß die Zeit gekommen ist, die unsere Großmeister Marx und Engels vorausgesehen haben, wo die Evolution in die Revolution umschlägt? Wir sehen die russische Revolution, und wir wären Esel, wenn wir daraus nichts lernten. Da stellt sich Heine hin und fragt Bebel, ja haben Sie auch darüber nachgedacht, daß im Fall des Generalstreiks nicht nur unsere wohlorganisierten Kräfte, sondern auch die unorganisierten Massen auf dem Plan zu erscheinen haben, und haben Sie auch diese Massen im Zügel? Aus diesem einen Wort geht die ganze bürgerliche Auffassung von Heine hervor, das ist eine Schande für einen Sozialdemokraten. (Unruhe.) Die bisherigen Revolutionen, namentlich die von 1848, haben bewiesen, daß man in revolutionären Situationen nicht die Massen im Zügel halten muß, sondern die parlamentarischen Rechtsanwälte, damit sie die Massen und die Revolution nicht verraten. Schmidt hat sich auf das belgische Experiment Am 14. April 1902 begann in Belgien der Massenstreik, an dem sich über 300 000 Arbeiter beteiligten. Er wurde am 20. April vom Generalrat der belgischen Arbeiterpartei abgebrochen, obwohl die Forderungen nach Änderung des Wahlrechts und der damit verbundenen Verfassungsänderung am 18. April von der belgischen Kammer abgelehnt worden waren. und auf den Ausspruch von Vandervelde Emile Vandervelde hatte in der »Neuen Zeit« auf Rosa Luxemburgs Artikel »Das belgische Experiment« geantwortet. Aus dieser Antwort zitierte Robert Schmidt in seiner Diskussionsrede auf dem Parteitag folgende Stelle: »Was vermochten die Tausende von Manifestanten bei all ihrem Mute gegen die Gewehre der Gendarmerie und der Zivilgarde auszurichten, die sich den sechzigtausend Bajonetten der regulären Armee angliederten, einer Armee, die gewiß der Regierung unzuverlässig erschien, deren großer Teil zum mindesten sich jedoch dem Kommando zum Massaker gefügt hätte.« (Emile Vandervelde: Nochmals das belgische Experiment. In: Die Neue Zeit, 20. Jg. 1901/02, Zweiter Band, S. 167.) bezogen; ich glaube, wenn irgend etwas gezeigt hat, daß man eine großartige spontane revolutionäre Massenbewegung durch Kleingeisterei ruinieren kann, so war es dieser Streik, und Vandervelde konnte meiner Kritik gegenüber nicht eine einzige Tatsache anführen, sondern suchte sich durch allgemeine Redensarten herauszureden, als ich ihm nachwies, daß diese ganze großartige Massenstreikbewegung durch das parlamentarische Techtelmechteln mit den Liberalen zugrunde gegangen war. (Bernstein:›Unwahr!‹) Ach, was verstehen Sie davon? (Große Unruhe.) Heine hat das rote blutige Gespenst heraufbeschworen und gesagt, ihm sei das Blut des deutschen Volkes teurer als – das war der Sinn seiner Worte – dem leichtsinnigen Jüngling Bebel. Ich will die persönliche Frage beiseite schieben, wer mehr berufen und mehr befähigt ist, die Verantwortung zu tragen, Bebel oder der vorsichtige, staatsmännische Heine, aber wir sehen doch an der Geschichte, daß alle Revolutionen mit dem Blut des Volkes erkauft sind. Der ganze Unterschied ist, daß bis jetzt das Blut des Volkes für die herrschenden Klassen verspritzt wurde, und jetzt, wo von der Möglichkeit gesprochen wird, ihr Blut für ihre eigene Klasse zu lassen, da kommen vorsichtige sogenannte Sozialdemokraten und sagen, nein, dies Blut ist uns zu teuer. Es handelt sich augenblicklich nicht darum, die Revolution zu proklamieren, es handelt sich nicht einmal darum, den Massenstreik zu proklamieren. Und wenn uns Heine, Schmidt und Frohme zurufen, organisiert die Massen und klärt sie auf, so werden wir ihnen antworten, das tun wir, aber wir wollen es nicht in eurem Sinne! (Zuruf:›Ach! ach!‹) Nicht in dem Sinne der Verkleisterung und Vertuschung der Gegensätze, wie es alle diese Genossen seit Jahr und Tag tun. Nein, nicht die Organisation vor allem, sondern vor allem der revolutionäre Geist der Aufklärung! Das ist noch viel wichtiger. Erinnern Sie sich an die Zeit des Sozialistengesetzes! Man hat unsere Gewerkschaften zertrümmert, und sie sind wie Phönixe aus der Asche emporgestiegen. Ebenso wird es auch künftig in Perioden heftiger Kämpfe sein. Es gilt vor allem, die Massen aufzuklären, und da brauchen wir gar nicht so vorsichtig zu sein, wie die Gewerkschaftsführer in Köln Der fünfte Kongreß der Gewerkschaften Deutschlands fand vom 22. bis 27. Mai 1905 in Köln statt. es gewesen sind. Die Gewerkschaft darf nicht zum Selbstzweck und dadurch zum Hemmschuh für die Bewegungsfreiheit der Arbeiter werden. Lernen Sie einmal aus der russischen Revolution! Die Massen sind in die Revolution getrieben, fast keine Spur von gewerkschaftlicher Organisation, und sie festigen jetzt Schritt für Schritt ihre Organisationen durch den Kampf. Es ist eben eine ganz mechanische, undialektische Auffassung, daß starke Organisationen dem Kampfe immer vorausgehen müssen. Die Organisation wird auch, umgekehrt, selbst im Kampf geboren, zusammen mit der Klassenaufklärung. Gegenüber der ganzen Kleingeisterei müssen wir uns sagen, daß für uns die letzten Worte des Kommunistischen Manifestes nicht nur eine schöne Phrase für Volksversammlungen sind, sondern daß es uns blutiger Ernst ist, wenn wir den Massen zurufen: Die Arbeiter haben nichts zu verlieren als ihre Ketten, aber eine Welt zu gewinnen. (Beifall und Widerspruch.)