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Der Verlorene Sohn der Poesie

Als » enfant perdu der romantischen Schule«, den Verlorenen Sohn der Poesie, charakterisiert ein moderner Literarhistoriker geistreich den Dichter Clemens Brentano. Der schwäbische Romantiker Justinus Kerner meint von ihm: »Er ist wie ein Kaktus, so schön und so stachlich« … Von ihren Geschwistern stand Bettina der um sieben Jahre ältere Clemens, der begabteste ihrer Brüder, am nächsten. Wie sie fast alle positiven Eigenschaften des Romantischen in sich vereinigt, so der Bruder beinahe auch alle negativen. Man ist versucht, die beiden als Einheit zu denken, um das Positiv des Bildes am Negativ auf seine Echtheit zu prüfen oder umgekehrt …

Der Vater hatte Clemens zum Kaufmann bestimmt. Nur allzubald stellte sich heraus, daß der junge Mann überall mehr daheim war als auf dem harten und nüchternen Boden der Wirklichkeit. Schlimmer noch als für Bettina wirkte sich für ihn der frühe Verlust der Mutter aus. Die Sehnsucht nach der mädchenhaft-anmutigen Mutter begleitet ihn nach seinem eigenen Zeugnis durchs ganze Leben. Ebenso beklagt er später seine einseitige Erziehung vorwiegend durch Frauen … Ohne Verständnis und Liebe aufgewachsen, flüchtet auch er sich in ein Traumland. Goethes Mutter, die »Frau Rat«, die dem Hause Brentano nahestand, trifft wie stets den Nagel auf den Kopf, wenn sie gelegentlich dem Jungen sagt: »Dein Reich ist in den Wolken und nicht von dieser Erde, und so oft es sich mit der Erde berührt, wird's Tränen regnen« … Es hat denn auch bei solchen Berührungen Tränen genug gegeben für ihn selbst und für andere …

Nach dem Tod des Vaters gab der junge Kaufmannslehrling den ihm aufgezwungenen, wesensfremden Beruf auf und wandte sich mit großen Hoffnungen dem Universitätsstudium zu, das er zunächst in Halle begann als Student der Berg- und Kameralwissenschaften. Die Osterferien führten ihn im April 1798 auch nach Offenbach in die vertraute Grillenhütte der Großmutter Laroche, wo er nach Jahren des Getrenntseins die als Kind verlassene Bettina als dreizehnjährigen Backfisch mit der Puppe überraschte …

Zwischen den ähnlich-unähnlichen Geschwistern entwickelte sich eine tiefe, innige Zuneigung. Es war Bettina, die später diesen einzigartigen Jugendbund durch eine Sammlung der geschwisterlichen Briefe verherrlichte.

Einen »armen Pilger« heißt sich Clemens selber einmal gegen Ende seines stürmisch bewegten, wechselreichen Lebens.

Die ewige Pilgerfahrt kann hier nicht auf allen ihren vielen Stationen verfolgt werden. Die trockenen Berg- und Kameralwissenschaften hat er schon in Halle nicht ernstlich betrieben. Für das Sommersemester 1798 zieht es ihn nach Jena, das als Hochburg und Hauptquartier der Romantischen Schule gerade ihn mächtig locken mußte. In der kleinen Universitätsstadt an der Saale und im benachbarten Weimar lebte und wirkte damals alles, was an Denkern und Dichtern die geistige Welt bewegte. Wo anders als, dort sollte ein angehender Dichter von höchstem Selbstgefühl an seinem Platze sein, zumal wenn er bereits das Manuskript eines wildverwegenen großen Romans im Kopfe trägt, der es getrost mit dem vielgepriesenen »Wilhelm Meister« aufzunehmen wagt und wenn er über nahe persönlichste Beziehungen zu Wieland und Goethe verfügt!?

Einer, der Brentano gut, fast zu gut kannte, meinte, dessen Persönlichkeit sei interessanter als das beste Buch. Ein treffsicheres weibliches Urteil lautete, nicht er besitze die Phantasie, sondern die Phantasie besitze ihn … Ja, die Phantasie war der Dämon, der alles, was Brentano hieß, in Leben und Dichtung allmächtig beherrschte … »Klein, gewandt und südlichen Ausdrucks mit wunderbar schönen, fast geisterhaften Augen« – so sahen ihn seine Freunde und Bekannten, und empfanden als Grundton seines Wesens eine weiche Sentimentalität, die er selbst gründlich verachtete. Sprunghaft, wechselt er vom tiefsten melancholischen Ernst zur tollsten Lustigkeit und zum unbändigsten Witz. Seine übermächtige Phantasie riß ihn beständig hin, die Poesie ins Leben zu mischen. Man sieht die Parallele zu dem Kobold Bettina auch in der Art, wie er die verborgensten Narrheiten aufspürt und herausfordernd geißelt. Nicht lange litt es den unsteten Studenten in Frankfurt und Offenbach, so lieb und lieber ihm die wiedergewonnene Schwester wurde. Den mündlichen Gedankenaustausch muß fernerhin der regste Briefwechsel und die gründlichste schriftliche Aussprache ersetzen …

Der für sein Menschen- und Dichtertum entscheidende Aufenthalt in Jena dauerte bis zum Frühling 1801. Bedeutungsvoll wurde dort auch noch die Begegnung und Freundschaft mit Savigny, dem späteren großen Rechtslehrer, seinem künftigen Schwager. Auch lernte er bald nach seiner Rückkehr nach Jena dort die Dichterin Sophie Mereau kennen, der der ruhelose, von Leidenschaft zu Leidenschaft getriebene Pilger später eine Ruhestation, ein kurzes Eheglück verdanken sollte.

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4. Sophie La Roche geb. Gutermann

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5. Geburtshaus Bettinas in Frankfurt am Main
Aquarell im Besitz von Frau v. Savigny, München

Bettina bleibt über alle Wirrnisse und Entfernungen hinweg des Bruders Herzvertraute, und auch sie teilt ihm jeden Koboldstreich, jedes klein-große Erleben mit … Eine solche Erscheinung und Natur wie die Brentanos war in ihrer betonten sinnlichen Phantastik ebenso empfänglich für Frauen, wie Frauen für ihn empfänglich sein mußten. Zahllos, zum Teil recht leichtfertig sind seine Liebesabenteuer, zu deren Mitwisserin bis ins einzelne er die kleine Schwester macht, und ihr feines Gefühl läßt sie für den argen Leichtfuß, der nicht immer den Takt und die nötige Würde wahrt, stets das rechte Wort finden. Er dankt ihr für ihr beruhigendes Verständnis, das oft in glücklich-überlegener Schelmerei seine inneren Spannungen löst und klärt. Es hat fast etwas Ergreifendes, wie der Unbeständige und Haltlose die kleine Schwester seiner Liebe versichert: »Liebe Bettina? Ich habe Dich so unendlich lieb, ich fühle immer mehr, wie Du mein Herz genährt und erhalten hast!«

Mit dem Studenten der Rechte, Friedrich Carl von Savigny, dem in Jena gewonnenen neuen Freund, machte der wanderlustige Brentano einige kleinere Reisen, so im Herbst 1800 an den Rhein. Wie häufig unter jungen Menschen hatten sich in diesem Freundespaar rechte Gegensätze zusammengefunden. Clemens in seiner überschäumenden Vitalität und aufgeregten Phantastik suchte gern Anlehnung bei mehr ausgeglichenen, in sich ruhenden Naturen, aber auf der Reise störte ihn doch je länger, je mehr das für ihn allzu stille und verschlossene Wesen seines Begleiters: »Der Savigny, dessen Studiermaschine, wie ich gehofft hatte, wenigstens hier am Rhein nicht immer in Gang sein sollte, ist stumm wie immer, sein Inneres will nicht zu Worte kommen, sondern er marschiert die Natur auf und ab und verdirbt mir alles Genießen.«

Man fühlt die Abneigung des Romantikers gegen den Nichtromantiker, den »Philister«; jene Abneigung, jenes Vorurteil, die auch Bettina teilte. Sie waren freilich auch ein merkwürdiges Gespann: der unrastige, mitteilsame Poet und der ernsthafte, lernbegierige, zielstrebige Jurist, der frühzeitig seine erfolgreiche Laufbahn als akademischer Lehrer beginnen wollte und sollte … Clemens entschädigte sich für die Wortkargheit seines Freundes, indem er nur um so mehr seiner eigenen dichterischen Stimmung und Schau nachhing. Einige schöne Lieder entstanden in diesen Herbstwandertagen …

Schon im Winter habilitierte sich Savigny in Marburg, wohin ihm Clemens folgte. Im Mai 1801 ist Brentano in Göttingen und lernt dort Achim von Arnim kennen. Diesmal sind es zwei gleichgestimmte Seelen, die sich begegnen und für immer nahetreten. Die geliebte Schwester und der aufrechte, männlich-schöne Freund, – Bettina und Achim – erfüllten für die nächsten Jahre Herz und Kopf des dreiundzwanzigjährigen Clemens, der darauf drängt, auch Bettina in den Freundschaftsbund mit Arnim einzuschließen und bald schon treten auch die Schwester und der Freund miteinander in brieflichen Verkehr, dem im Juni das erste persönliche Kennenlernen in Frankfurt folgte. Achim und Clemens fahren miteinander rheinab bis Koblenz. Die Schilderung, die Bettina von den zwei fahrenden Studenten und Poeten gibt, mutet an wie das unmittelbarste Leben und ist ein Kabinettstück ihrer bildhaft-anschaulichen Erzählungskunst: »Arnim, so schlampig in seinem weiten Überrock, die Naht am Ärmel aufgetrennt, mit dem Ziegenhainer, die Mütze mit halb abgerissenem Futter, das neben heraussah.« Daneben Clemens: »So fein und elegant, mit rotem Mützchen über den tausend schwarzen Locken, mit dem dünnsten Röhrchen, einen lockenden Tabaksbeutel aus der Tasche« … Arnim schreibt über diese Fahrt: »In einen alten Mantel gehüllt, ohne Plan mit einem Freunde und einem Buche umherirrend, im Gesange der Schiffer von tausend neuen Anklängen der Poesie berauscht, ohne Tag und Nacht zu sondern, frei von Sturm und Ungewitter, so möchte ich wohl noch einmal leben; das Leben war frisch angebrochen wie die echte Quelle des rheinischen Weines« …

»Der Clemens wird allemal ein Narr, wenn er an den Rhein kommt!« neckt Bettina den Bruder, als er ihr wieder einmal von seinen nicht abreißenden Liebesabenteuern berichtet … Nicht bloß Brentanos »Narrheit« gedeiht in der beschwingten, prickelnden rheinischen Atmosphäre, der er ja auch durch seine Geburt in Ehrenbreitstein zugehörte, – auch sein Schaffen erhält davon mächtigen Antrieb … Der Lyriker Brentano gab sein Bestes im sangbaren Lied und in der Ballade. In beiden trifft er oft unvergleichlich den Volkston, so etwa in den »Lustigen Musikanten« und in dem köstlichen Gedicht:

Singet leise, leise, leise
Singt ein flüsternd Wiegenlied,

Von dem Monde lernt die Weise,
der so still am Himmel zieht.

Singt ein Lied so süß gelinde
Wie die Quelle auf den Kieseln

Wie die Bienen um die Linde
Summen, murmeln, flüstern, rieseln.

Wie sein Leben, bleibt auch sein dichterisches Schaffen weithin in Anläufen und Fragmenten stecken. Es ist das Verdienst Arnims, daß er die natürlichen, genialen Anlagen seines Freundes erkannte und nutzbar machte, indem er ihn zur steten und ernsthaften Mitarbeit an der Volksliedersammlung »Des Knaben Wunderhorn« gewann und damit vom Fluch der »fliegenden Geistreichigkeit« erlöste … Auch Bettina wirkte mit an dieser Sammlung, die für die Entwicklung der Deutschen Poesie unschätzbar werden sollte.

In den zwischen Clemens und Bettina gewechselten Briefen nimmt die Sorge um die Erziehung der heranwachsenden Schwester einen breiten Raum ein. Clemens, der die Gefahren seiner eigenen Natur kennt und diese auch in der Schwester wiederzufinden fürchtet, ist immer wieder liebevoll bemüht, sie zur Ordnung anzuhalten, ihre Fahrigkeit und Zerstreutheit zu bekämpfen, sie zu gründlichem Lernen anzuregen. In Übereinstimmung mit der Großmutter Laroche wird für Bettina ein Erziehungsplan aufgestellt. Sie, die schon immer keinerlei Zwang leiden wollte, wehrt sich wie ein unbändiges Füllen gegen die guten Lehren des Bruders, die sie meint als »Moralpredigten« und Philisterhaftigkeiten abtun zu können: »Du und ich sind außer aller Ordnung«, antwortet ihr wachsendes Selbstgefühl auf seine gutgemeinten Ratschläge.

Der Widerwille Bettinas gegen alle Versuche, ihren vielseitigen, phantastisch-bewegten Geist durch planvolle Bildung zu ordnen und zu bereichern, war zutiefst in ihrer eigenwilligen, überheblichen kleinen Person begründet.

In den Naturen der Geschwister lagen von Anfang an starke Gegensätze. Sie wurden wohl durch den Gleichklang einer innigen Liebe überbrückt, meldeten sich aber doch von Zeit zu Zeit … Die Gegensätze verstärkten sich noch, ja führten zu leiser Entfremdung, als sich der Bruder im Jahr 1803 nach langen Kämpfen und Schwierigkeiten mit der Dichterin Sophie Mereau verheiratete. Die Trauung des jungen Paars fand in Marburg statt, wohin Clemens seinem Freunde Savigny gefolgt war, der, kaum zum Doktor der Rechte promoviert, dort bereits als außerordentlicher Universitätsprofessor wirkte.

In der Ehe mit Sophie Mereau waren Clemens, dem von quälender Unrast Gepeitschten, einige wenige Jahre des Glücks beschieden, die ihren Höhepunkt erreichten, als ihm ein Knabe geboren wurde, der freilich nicht lange am Leben blieb.

Als Verfasserin lyrischer Gedichte und eines Briefromans gehört die Mereau zu dem großen Kreis auch dichtender Frauen um die Jahrhundertwende, ohne sich von ihnen durch eine stärkere persönliche Note abzuheben. In der melancholischen Färbung ihrer Gedichte gehört sie in die Nähe der Günderode, ist aber noch um einige Grade blässer.

Als um dieselbe Zeit die »Musenalmanache« in Mode kamen, waren ihre Mitarbeiter wie ihre Leser vorzugsweise Damen. Offenbar schenkte Schiller der Mereau ein gewisses literarisches Interesse; denn sie erscheint als Mitarbeiterin an dem berühmten Schillerschen Musenalmanach (1790 bis 1800). 1803 zeichnet sie sogar als Herausgeberin des altberühmten »Göttinger Musenalmanachs«. Schiller suchte sie auch gelegentlich als Übersetzerin für den »Cid« des Corneille zu gewinnen.

Mit diesen wenigen Daten ist ihre Bedeutung und Geltung als Schriftstellerin ausreichend gekennzeichnet.

Was für Clemens die geliebte Frau war und noch werden sollte, faßte er einmal in die hochgestimmten Worte: »Ihre Liebreize, ihr Lebensmut, ihre Herzensgüte sind so groß, daß sie ewig abblühen wird, nie abgeblüht hat. So werde ich denn alle natürlichen Dinge bald haben, die auch Goethe begehrte und wie will ich dichten!« Man spürt, daß Brentano auf dem Gipfel seiner Lebensgefühle stand und auch für sein Schaffen das höchste Ziel fast greifbar vor sich sah.

Noch ein zweites Ereignis konnte nicht ohne nachhaltigen Eindruck auf Bettina bleiben: Im Jahr 1804 heiratete Friedrich Karl von Savigny ihre Schwester Kunigunde (Gundel) und wurde dadurch mit dem Hause Brentano so nahe verbunden, wie es Clemens schon lange vorschwebte.

Es war nur natürlich, daß bei aller Liebe Bettinas zu dem Bruder seine Ehe mit Sophie Mereau die schon vorbereitete leise Entfremdung fühlbarer werden ließ. Die Freundschaft mit Clemens hatte jahrelang all ihr Denken und ihr ganzes Herz ausgefüllt. Nun er nicht mehr ihr ganz allein gehört, ist der Zeitpunkt da, wo sie einen Ersatz braucht für den beglückenden Gleichklang mit dem Bruder. Unbedingt, wie sie in all ihren Forderungen und Ansprüchen an die Menschen ist, verlangt ihr ganzes Wesen leidenschaftlich nach einer Seele, die ihre eigenen Empfindungen und Gedanken teilt und spiegelt. Die Epoche der Mädchenfreundschaft, die in der Entwicklung der weiblichen Psyche so oft der Liebe zum Mann vorangeht, war gekommen.


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