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Es war einmal ein Kind …

»Es war einmal ein Kind, das hatte viele Geschwister – eine Lulu und eine Meline, die waren jünger, die Andern waren alle viel älter. Das Kind hat alle Geschwister zusammengezählt, da warens dreizehn und der Peter vierzehn, und die Therese und die Marie fünfzehn, sechzehn, und dann noch mehr, die hat es aber nicht gekannt, denn sie waren schon tot; es waren gewiß zwanzig Geschwister, vielleicht waren es gar noch mehr. Der Bruder Peter ist gestorben wie das Kind drei Jahre alt war, von dem weiß es aber noch sehr viel. Er hatte schwarze Augen, die ein blendend Feuer von sich strahlten, in die hat das Kind oft sich ganz verloren vor tiefem Hineinschauen.

Der Peter trug das Kind oft auf einen kleinen Turm auf dem Haus, da futterte der Peter allerlei Gefieder, Tauben und eine Glucke mit jungen Hühnern, da saß das Kind mit ihm, da dichtete er ihm Märchen vor. Das waren Stunden, die glitzern wunderschön aus der frühesten Kindheit herüber« …

So beginnt Bettina das Märchen der eigenen Kindheit, das sie ihrem um sieben Jahre älteren Lieblingsbruder Clemens erzählt …

Anna Elisabeth Brentano wurde am 4. April 1785 zu Frankfurt am Main geboren als Tochter des Großkaufmanns und kurtrierischen Rats Pietro Antonio Brentano und seiner zweiten Frau Maximiliane, geborenen Laroche. Sie bewohnten mit ihrer kinderreichen Familie das weiträumige Haus zum »Goldenen Kopf« in der Großen Sandgasse. Der wohlhabende Kaufherr war – wie schon sein Name verrät – italienischer Herkunft und stammte aus Tremezzo am Comer See. Bettinas Rufname war Bettine und ist in der italienischen Koseform Bettina, die wohl der Vater für seinen besonderen Liebling gebrauchte, in die Literatur eingegangen. Viele zärtliche Kindergeschichten weiß sie von dem sehr kleinen, weil etwas mißwachsenen Brüderlein Peter, ihrem bevorzugten Spielgefährten zu berichten, der sie am Weihnachtstag heimlich zum Gottesdienst mitnahm, wobei der große Bärenmuff die kleinen Kirchgänger so gründlich verdeckte und versteckte, daß man nicht Kopf noch Hand gewahrte, und die Leute, die nur die vier Beinchen trappeln sahen, sich wunderten über das »kuriose Rauchwerk, das so allein über die Straße lief« … Nicht nur Schabernack trieb der winzige Peter mit ihr. Er sollte auch das erste schmerzliche Leid über das empfindsame Herz des Schwesterchens bringen. Auf einer der gemeinsamen kindlichen Entdeckungsfahrten stürzte er lebensgefährlich von einer Wendeltreppe. »Da trug man den Peter ins Bett, das Kind sah den liebenden Bruder nicht wieder« … Noch manchmal sehnte es sich nach dem Bruder, saß des Abends in einem Eckchen, wo das Licht nicht hindrang. Da sah es in der Dämmerung seine dunklen Augen es anleuchten …

Der Vater hatte das Kind sehr lieb, vielleicht lieber als die anderen Geschwister. Seinem Schmeicheln konnte er nicht widerstehen … Nachmittags, wenn er schlief und keiner Lärm oder Störung wagte, lief das Kind ins Zimmer, »warf sich auf den schlummernden Vater, wälzte sich übermütig hin und her, wickelte sich zu ihm in den weiten Schlafrock und schlief ermüdet auf seiner Brust ein. Er lehnte es dann sanft beiseite und überließ ihm den Platz, er ward nicht müde der Geduld« … Auch viele andere »Lieblichkeiten« erwies Pietro Antonio seiner Bettina. Beim Spazierenfahren ließ er auf der Blumenwiese halten, bis der Strauß groß genug war, »das Kind wollte gern alle Blumen brechen« … Die Freude am Brechen aller Blumen blieb dem Kind Bettina treu durchs ganze Leben …

Viel Schönes noch und Lustiges webte sich in des Kindes Lebensteppich. Aber auch der Schmerz soll sich erneuen: durch das Sterben einer vornehmen, fremden Frau, die der Kleinen viele Spielsachen gegeben und sie noch an ihr Krankenlager hatte kommen lassen. »Was ist das – Tod? Begraben? Nicht mehr sein?« fragte wieder und wieder das kleine, feinempfindende Seelchen. Hätte es doch wieder vergessen können, was das heißt: »von der Erde scheiden! –« Aber der nächste Frühling, vom Tod an der Hand geführt, kommt und geleitet ihm die schönste Mutter ins Grab. »Da ist Zerstörung im Haus« …

Der nach kurzem Glück zum zweitenmal verwitwete Vater ist der Verzweiflung nahe. Alles scheut seinen Schmerz. Während die Geschwister fliehen, bleibt nur das Kind bei ihm und hält ihn fest bei der Hand. Von ihm läßt er sich durch die dunklen Zimmer führen bis vor das Bild der Mutter. So bringt ihm das Kind Kraft und er wieder ihm. »Werde doch auch so gut wie Deine Mutter« tröstet in gebrochenem Deutsch der italienische Vater …


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