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In der Klosterschule

Ein Mann, noch in den Fünfzigern und so leidenschaftlichen Temperaments wie Pietro Antonio, zudem Inhaber eines großen Geschäftshauses und Haupt einer vielköpfigen Familie, konnte, nachdem ihm eine junge Frau im Alter von erst dreißig Jahren so jäh entrissen worden war, auf die Dauer nicht allein die Verantwortung für das ausgedehnte Hauswesen in der Frankfurter Sandgasse und für die Erziehung seiner zahlreichen Kinder übernehmen. Im Begriff, eine neue, dritte Ehe einzugehen, meldete er im Mai 1794 an die älteste von Maximilianes Töchtern, er werde demnächst die drei Jüngsten in die Klosterschule geben; es handelte sich um Kunigunde, genannt Gundel, und » le due piccole«: Lulu und – Bettina.

Man kann sich denken, mit welchen Gefühlen das inzwischen neunjährige Kind dem Augenblick entgegensah, wo es hieß, das heimische alte Patrizierhaus mit seinen vielen teils frohen, teils trüben Erinnerungen zu verlassen. Gewiß überwog die Neugier in dem regsamen phantastischen Köpfchen jede Angst, denn ängstlich ist Bettina zeit ihres Lebens nicht gewesen. Was würde die neue, fremde Umgebung an lockenden unbekannten Eindrücken bringen? Wahrscheinlich mischte sich in die gespannte Erwartung dessen, was da kommen sollte, ein leises Weh des Abschieds von dem geliebten Vater und die noch schmerzhafte Erinnerung an die zu früh verlorene schöne Mutter, ohne daß das kleine Mädchen ahnen konnte, was der bleibende Verlust mütterlicher Fürsorge und Erziehung für seine ganze künftige Entwicklung bedeutete.

Das Pensionat der Ursulinen im kurmainzischen Fritzlar, unweit Kassel und zehn Stunden von Marburg entfernt, nahm etwa 24 Töchter guter Familien auf und stand im besten Ruf der Einfachheit und Natürlichkeit. Bettina erinnerte sich auch in späteren Jahren mit Freude an die Schule der frommen Schwestern der heiligen Ursula, die nach der frommen Legende mit 11 ;000 Jungfrauen die berühmte Wallfahrt nach Rom unternommen haben sollte …

Sooft in späteren Jahren das schlanke braune Kind von einst auf die Fritzlarer Zeit zu reden kommt, geht ihm das Herz über, überstürzen sich ihm die Worte. »Komm laß uns noch einmal die hängenden Gärten, in denen meine Kindheit einheimisch war, durchlaufen; laß Dich durch die Laubengänge geleiten zu dem Glockenturm, wo ich mit leichter Mühe das Seil in Schwung brachte, um zu Tisch oder zum Gebet zu rufen; und abends um sieben Uhr läutete ich dreimal das Angelus, um die Schutzengel zur Nachtwache bei den Schlafenden zu rufen« … »In den Hängenden Gärten der Semiramis, bin ich erzogen worden, ich glattes, braunes, feingegliedertes Rehchen, zart und freundlich zu jedem Liebkosenden, aber unbändig in eigentümlichen Neigungen« …

Man sieht das schlanke, braune Kind, dem alles umher zum Traum, zur Poesie wird; man spürt das Werden und Wachsen des beseligenden Naturgefühls, das ihm ureigen ist. Man entdeckt auch schon ihre gefährlichen, eigenwilligen Neigungen, jene leidenschaftliche, unbändige Schwärmerei einer Phantasie, die sich nicht zügeln läßt, die die Schranken zwischen Schein und Sein, Traum und Wirklichkeit mißachtet und mit der Zeit das Dichten und Erdichten nicht mehr unterscheidet und unterscheiden will: die Poesiewerdung des Lebens hebt an, die absolute romantische Phantasie bereitet ihre allmächtige Herrschaft vor …

Im Kloster erkennt und schätzt man bald das von Liebe für alles Sein überquellende Herz dieses eigengearteten Naturkindes und erwidert Liebe mit Liebe. Jede der kleinen Schülerinnen erhielt ein Amt zugeteilt: das des Sacristans wird Bettina anvertraut und damit die auszeichnende Pflicht, den Kelch, in dem die geweihten Hostien aufbewahrt wurden, zu reinigen und die Kelchtücher zu waschen – ein Amt, das nur dem Liebling unter den jungfräulichen Kindern übertragen wurde.

»Oben, im obersten und ersten Garten stand die Klosterkirche auf einem Rasenplatz, der am felsigen Boden hinab grünte und mit einem hohen Gang von Trauben umgeben war, der zur Tür der Sacristei führte: In ihrer Türwölbung saß das Kind oft an heißen Sommernachmittagen – links in der Ecke des Kreuzbaues das Bienenhaus unter hohen Taxusbäumen, rechts der kleine Bienengarten, bepflanzt mit duftenden Kräutern und Nelken, aus denen die Bienen Honig saugten.« Abwechselnd sah Bettina in ahnungsvolle Fernen und auf das geschäftige Treiben der Bienen in ihrer Nähe. Wunderliche Gefühle regten sich in der kleinen Brust. »Da saß ich und sah die Bienen von ihren Streifzügen heimkehren; ich sah, wie sie sich im Blumenstaub wälzten und wie sie weiter und weiter flogen in die ungemessene Ferne, wie sie im blauen, sonndurchglänzten Äther verschwebten, und da ging mir mitten in diesen Anwandlungen von Melancholie auch die Ahnung von ungemessenem Glück auf« …

Besonders Vieles und Gewichtiges gibt dem kleinen Tempeldiener der Grüne Donnerstag zu tun. »Alle Blumen, die das frühe Jahr uns gönnt, wurden abgemäht, Schneeglöckchen, Krokus, Maaslieb und das ganze Feld voll Hyazinthen schmücken den weißen Altar, und dann bring ich die Chorhemdchen und zwölf Kinder mit aufgelösten Haaren werden damit bekleidet; sie stellen die zwölf Apostel vor. Nachdem wir mit brennenden blumengeschmückten Kerzen den Altar umwandelt haben, lassen wir uns im Halbkreis nieder, und die alte Äbtissin mit ihrem hohen Stab von Silber, umwallt vom Schleier und langem, schleppendem Chormantel kniet vor uns, um uns die Füße zu waschen. Eine Nonne halt das silberne Becken und gießt Wasser ein, die andere reicht die Linnen zum Abtrocknen; indessen läutet es mit allen Glocken, die Orgel ertönt, zwei Nonnen spielen die Violine, eine den Baß, zwei blasen die Posaune, eine wirbelt die Pauken, alle stimmen mit hohen Tönen die Litanei an: ›Sankt Petrus wir grüßen dich!‹ Dann geht es zum Sankt Paulus und so die Reihe durch werden alle Apostel begrüßt, bis alle Füße gewaschen sind« …

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2. Peter Anton Brentano
Scherenschnitt im Besitz von Frau v. Savigny, München

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3. Maximiliane Brentano geb. La Roche
Scherenschnitt im Besitz von Frau v. Savigny, München

Innig und farbensatt, wie gemalt von einem alten deutschen oder italienischen Meister, ersteht so Bild um Bild und senkt sich in die durstige Seele, die durstigen Sinne der jungen Klosterschülerin. Tiefer noch und eindringlicher als in der Frankfurter Sandgasse wirken Leben und Sterben ihre Eindrücke in den Lebensteppich. Einer alten Nonne, die ihr vor anderen liebgeworden war, legt sie den Cypressenkranz auf den Sarg: »Sie war die Gärtnerin und hatte lange Jahre den Rosmarin gepflegt, den man ihr aufs Grab pflanzte; sie war achtzig Jahre alt, und der Tod berührte sie sanft, während sie Absenker von ihren Lieblingsnelken machte, da hockte sie am Boden und hielt die Pflanzen in der Hand, die sie eben einsenken wollte« … Bettina ist die Vollstreckerin ihres Testaments, denn sie nimmt die Blumen aus der erstarrten Hand, setzt sie in die frischaufgewühlte Erde und begießt sie mit dem letzten Krüglein Wasser, das die gute Schwester Monika am Madleenbrünnchen geholt hatte. »Wie schon wuchsen diese Nelken! Dunkelrot waren sie und groß!« …

Der Tod und das Begräbnis der befreundeten Schwester Gärtnerin, die ihr manche Gartenkunst gelehrt hatte, kam der Sacristanin Bettina so natürlich vor und »so behaglich«, daß er ihr keine Tränen entlockte. Anders der symbolische Tod einer jungen Novize, deren feierlicher Einkleidung sie beiwohnte im Chorhemdchen und einen Kranz von Rosen auf dem Kopf. Es war eine Französin, eine Gräfin d'Antelot. »Diese schöne Frau war mit vielen andern hohen Damen und Kavalieren, die Ordensbänder und Sterne hatten, aus Frankreich in unser Kloster gekommen.« Die schöne Gräfin blieb allein im Kloster zurück, während der glänzende Schwarm der übrigen Emigranten weiterzog. – »Emigranten!« Das große Welttheater wirft seinen grellen, unheimlichen Brandschein in die stille, fromme, blumenduftende Klosterwelt. Von jenseits des Rheins murrt der Donner der Französischen Revolution mit ihren blutigen Schrecken, von denen das Kind Bettina noch nichts weiß! – Die Gräfin d'Antelot wandelte viel im Garten und erregte da die Aufmerksamkeit und Teilnahme der aufgeweckten, frühreifen Schülerin. »Sie trug einen blitzenden Ring am Finger, den sie küßte, wenn sie in der dunklen Allee allein war. Da las sie ihre Briefe mit leiser Stimme und trocknete mit einem feinen weißen Tuch die weinenden Augen. Ich belauschte sie, ich liebte sie und weinte heimlich mit.« So wurde Bettina die neugierige Zeugin eines kleinen Romans: Einmal trat ein schöner Mann in glänzender Uniform mit ihr in den Garten. Sie sprachen zärtlich miteinander. »Der Mann hatte einen schwarzen Bart, er war größer als sie, er hielt sie in seinen Armen und sah aus sie herab, und seine glänzenden Tränen blieben in seinem schwarzen Bart hängen; das sah ich, denn ich saß in der dunklen Laube, an deren Eingang sie standen. Er seufzte tief und laut, er drückte sie ans Herz und sie küßte die glänzenden Tränen im schwarzen Bart auf« … Die aufregende, rührende Liebesscene wirkte noch lange in der Kleinen nach und sollte erst später einen unerwarteten Abschluß finden, der für das Kind Bettina höchst bezeichnend ist. Die junge schöne Frau aus Frankreich, deren Freund für immer von ihr Abschied genommen hatte – sei es, daß er bald nach jener leidenschaftlichen Gartenscene auf dem Schlachtfeld blieb oder in der Heimat unter das Fallbeil geriet –, ließ sich dem Himmel anverloben. Bettina war es, der das Amt zufiel, die langen goldenen Flechten der angehenden jungen Nonne auf goldenem Teller in der Klosterkirche zum Altar zu tragen. Im Chorhemdchen, einen Kranz Rosen auf dem Kopf, mit brennender Kerze, so schritt sie als Geleitengel unter dem Geläut aller Glocken vor der in alle üppige Pracht gekleideten jugendlichen Braut Christi einher. Die feierliche Handlung ergriff die kleine Bettina so tief, daß sie laut aufschluchzte …

Auch nach der Einkleidung der jungen Nonne wich ihr Bettina nicht von der Seite. Am Abend, als sie allein in ihrer Zelle saß, kniete das Kind vor ihr, noch den verwelkten Rosenkranz auf dem Kopf. Die schöne Französin fragte, warum es am Morgen in der Kirche geweint, als man ihr die Haare abschnitt. Und Bettina fragte nach kurzem Stillschweigen, zu ihrem Ohr gebeugt mit verschmitztem Lächeln und leise: » Madame, est ce que Jésus Christ a aussi une barbe noire?« … Man kann sich die bestürzte Verwirrung der jungen Braut Christi ausmalen. Das Kind, wohl selber so betroffen über seinen unzeitigen Fürwitz, hatte den Kobold, der ihm immer im Nacken saß, unüberlegt herausfahren lassen. Wie schon damals so zeitlebens wohnte das Weinen und das mutwillige Lachen dicht beieinander in seinem beweglichen Herzen.

Der übermütige, herausfordernde Kobold und die beflügelte Elfe, die sich mit den Bienen auf jede Blume und Blüte setzte und in unbegrenzte Traumfernen verschwebte, wuchsen mit ihr heran und ersehnten in der ahnungsvollen ungemessenen Traumferne ein ungemessenes Glück …


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