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Märchen und Wirklichkeit.
Poesie und Wahrheit

»Als der Briefwechsel Goethes mit einem Kinde erschien, war die Nation wie von einem glänzenden Meteor freudig überrascht« … Mit diesem Satz begann 1887 ein (damals noch lebender) Freund Bettinas und Zeuge ihres unerhörten Bucherfolges seine ihrem Andenken gewidmete Schrift. Dreiunddreißig Jahre später begleitete der Herausgeber ihrer Sämtlichen Werke die Veröffentlichung mit den Worten: »Es zeugt von einer gewissen Belesenheit, wenn der Eine oder Andere in ihrem Buche ›Goethes Briefwechsel mit einem Kinde‹ geblättert hat.« …

Mehr als je lockt und lohnt es, im Angesicht des zweihundertsten Geburtstages Goethes einem Urteils- und Geschmackswandel, der sich damals mit fast jäher Schnelligkeit vollzog, prüfend nachzugehen – um so mehr, als nachgerade nicht mehr nur das betroffene Buch, sondern sogar seine Urheberin von der Vergessenheit, ja Verschollenheit bedroht ist …

 

Wir sind gewohnt, die Entwicklung unserer Literatur in mehr oder minder feststehenden und unabänderlichen Epochen zu denken. Bettina von Arnim, geborene Brentano, läßt mit ihrem Mädchennamen wie ihrem Frauennamen den Gattungsbegriff »Romantik« aufklingen. Gleichwohl nimmt mit beinahe ebenso gutem Recht wie die Romantik auch das ihr nachfolgende »Junge Deutschland« das »Kind« Bettina für sich in Anspruch. Das gilt ebensowohl für die äußeren Lebensdaten wie für die innere Beschaffenheit des Lebenswerkes. Da Bettina ihren meteorhaften Ruhm durchaus ihrem Hauptwerk, »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde«, verdankt, kann einstweilen der Zweifel Über ihre literarhistorische Zuordnung – ohnehin eine Frage zweiten Ranges – nur eine der großen Schwierigkeiten andeuten, denen sich die Aufgabe gegenübersieht, ihre Persönlichkeit und ihr Werk in klaren und sicheren Linien anschaulich zu machen …

Was ist Romantik?

Zunächst ein geläufiger Schulbegriff, der die um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert zuerst in Jena auftretenden Älteren Romantiker, die Gebrüder Schlegel und ihre dichterischen Trabanten, sowie die Philosophen Fichte und Schelling zu einem mehr oder weniger festen Kreis zusammenschließt. Es würde zu weit führen und am Ende doch unmöglich sein, in gebotener Kürze Lehre und Wesen dieser Romantischen Schule auf eine erschöpfende Formel zu bringen. Es genüge daher die einfachere und primitivere Frage:

Was ist romantisch?

In diesem seit Ende des 17. Jahrhunderts langsam in Deutschland aufkommenden und später eingebürgerten Fremdwort schwingt eine Vielzahl und Vielfalt mehr gefühlsbetonter als verstandesmäßiger Inhalte: eine Empfindung unbegrenzter poetischer Fernen, träumerischer Stimmungen, die bald in lockende Vergangenheiten, bald in ungewisse Zukünfte schweifen; Wehmut um verlorene Paradiese und um im Unendlichen verdämmernde Wunschgebilde. Alles in allem: romantisch heißt ein Gemütszustand, in dem das Gefühl und die Phantasie das Vernünftige übertönt, das Irrationale das Rationale überwiegt – ein Zwischenzustand zwischen Wirklichkeit und Traum, zwischen Wahrheit und Dichtung.

Nicht zufällig besitzen wir, neunzig Jahre nach ihrem Tode, noch immer keine im strengen Sinne wissenschaftliche Biographie der Bettina. Wer es unternimmt, den Werdegang ihres Lebens und Schaffens zu schildern, ist vor die Aufgabe gestellt, sich immer wieder zwischen Wahrheit und Dichtung zu entscheiden, aus ihren poesievollen, phantastischen Werken die Wirklichkeit herauszuschälen – aus Werken, denen jede historische Zuverlässigkeit abgeht, so daß der begeisterten und berechtigten Zustimmung die ebenso schroffe und unberechtigte Ablehnung schon der Mitwelt auf dem Fuß folgte …

 

»Dichtung und Wahrheit« hat schon Goethe seine Selbstbiographie überschrieben und die Dichtung vor die Wahrheit gestellt mit dem stillschweigenden Vorbehalt, daß ihm, dem Dichter, die mitdichtende Phantasie die strenge Wahrheit und Wirklichkeit ergänzen und nachbessern dürfe und müsse. Nachbessern, wohlverstanden, in jenem höheren, echteren Sinne, deren gerade die dichterische Phantasie fähig ist, indem sie die nackte und unvollkommene Sprache der bloßen Tatsachen verdichtet und damit auf eine höhere, weil künstlerische Ebene erhebt und eine innere Wahrheit schafft, die der nüchternen Wirklichkeit vorzuziehen, weil überlegen wäre. Ganz anders Bettina! Ihr, der Romantikerin, gilt die Dichterin von vornherein und grundsätzlich als die Erste und Einzige, die jede Erscheinung des wirklichen Lebens nicht nur nachdichtet, sondern überhaupt erst schafft und dichterisch verklärt! … Sie will nie und nirgendwo die möglichst getreue Chronistin ihrer selbst und ihrer Erlebnisse sein; sie erzählt, ihre eigene Schehezerade, Märchen über Märchen, wirkt und webt auf Schritt und Tritt und unablässig an der Poesiewerdung des Lebens, will als solche Märchenerzählerin geglaubt und verstanden werden!

Das Kind, allein und vornehmlich, lebt unter lauter Wundern, ist unbedingter Herrscher in einer Wunderwelt. Wer es unternimmt, nicht der gemeinen und alltäglichen Wirklichkeit und Wahrheit zu folgen und nachzuspüren, sondern mit gutem Glauben und Willen in eine Märchenwelt einzutreten, darf hoffen, Bettina zu begreifen und begreiflich zu machen, die innere, höhere Wahrheit ihrer Person und ihrer Werke zu erfassen … Solche kindlich Gläubigen sind ihr die Guten! »Dies Buch ist für die Guten und nicht für die Bösen«, heißt es bedeutsam und wegweisend in der Vorrede zu ihrem Hauptwerk, dem »Briefwechsel mit einem Kinde«. Hier ist, wie sie selber fühlt und weiß, ihre dichterische Größe, ihre Grenze und Gefahr. So sehr fühlt Bettina sich als Alleinherrscherin in ihrer Welt, dem Reiche der Phantasie, daß sie sich schon in jungen Jahren nach dem Zepter umsah, mit dem sie als Alleinherrscherin diese ihre Welt regieren möchte.

Ein Motto zum Westöstlichen Diwan ihres Herrn und Meisters Goethe darf mit besonderem Recht über dem Zugang zu ihren sämtlichen Briefromanen als den vornehmlichen Quellen ihres Seins und Schaffens stehen:

»Wer den Dichter will verstehen,
Muß in Dichters Lande gehen« …


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