Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Wie es weiter wurde

Mein Hummelshainer Leben begann mit einem Schläfchen, das 36 Stunden währte. Zwar wurde mir nachträglich berichtet, ich sei mittlerweile einmal geweckt worden und wie ein bewußtloser Schemen bei Tisch erschienen, doch war ich gleich nach der Mahlzeit wieder zu Bett gegangen und hatte von alledem nicht die geringste Erinnerung.

Nach so außerordentlicher Erquickung war's denn kein Wunder, daß Hummelshain mir im angenehmsten Rosenlicht erschien, zumal ich die erwünschte Gesellschaft vorfand. Der Quasi-Vetter Hermann, derzeit Primaner zu Kloster Roßleben, hatte wie alle Ferienschüler nicht nur die beste Laune, sondern sogar noch ein paar andere Klosterbrüder, von Wangenheim und von Scheliha, mitgebracht, denen auch nichts weniger abging als das Vermögen, ihr junges Leben zu genießen. Sogar unser alter bewährter Genosse von ehemals, Herr Hannibal Anteportas, derzeit wohlbestallter Page am Rudolstädter Höfchen, war auf Urlaub bei den Eltern und stets mit uns zusammen. Da ertönten denn die Hallen des alten Schlosses, in das man uns logiert, dessengleichen Hof und Garten von jugendlichem Frohsinn, starken Gesängen, wohlgemuten Reden und dem Klirren der Rapiere, die wir fleißig in Bewegung setzten; dazu ward zweimal täglich gebadet und demgemäß gegessen. Kurz, es war ein Ferienleben, wie es im Buche steht.

Endlich wurden jene schönen Tage noch durch eine Wanderung in die Umgegend beschlossen, welche ich mit Hermann allein, und zwar zum Zweck des Wiedersehens mit alten Freunden, Gönnern und Bekannten unternahm. Wir besuchten unter andern in Rudolstadt den genialen Schlachtenmaler Cotta, von dem ich schon früher berichtet, in Katzenhütte unseren ehemaligen Lehrer, den Pastor Bäring, in Jena Frommanns, Köthens und den Studenten Förster, bei dem ich abtrat, während Hermann allein nach Drakendorf vorausging, wo seine Eltern unser warteten.

Unter Försters Ägide sah ich von Stadt und Land so viel, als die kurze Zeit von ein paar Tagen gestatten wollte. Auch hospitierten wir bei einigen Professoren, unter denen mich Fries am meisten interessierte, den ich übrigens schon etwas kannte, da er bei gelegentlicher Durchreise durch Dresden unser Haus besucht hatte. Von der eigentümlichen Richtung dieses Mannes war des öfteren bei uns die Rede.

Fries war von Haus aus Herrnhuter und in Herrnhutischen Anschauungen großgezogen, wie sich denn auch in seinem ganzen Wesen und Gehaben das eigentümlich freundliche und milde Gepräge jener Gemeinde nicht verleugnete, die ihm zeitlebens teuer blieb. Ihre theologische Richtung hatte er freilich längst verlassen. Vor dem Lichte wissenschaftlichen Erkennens war ihm der anerzogene Kinderglaube wie Nebel vor der Morgensonne weggedampft, wenigstens in formeller Hinsicht, denn dem Wesen nach behauptete Fries ihn festzuhalten, und zwar nicht bloß mit dem Herzen, wie der geistverwandte Fachgenoß Jakobi, sondern auch begrifflich wie der spätere Hegel. Es waren ja nur die Tatsachen des Evangeliums, wie auch die Dogmen der Kirche, welche sich ihm zu unwesentlichen Bildern und Formeln der göttlichen Idee verkehrt hatten. Die letztere, als das Wesentliche, wollte er beibehalten, nur anders begründen, als es die Kirche tat. Was freilich von einer so abgezwiebelten Idee noch übrigbleiben konnte, mußte er am besten wissen, indessen glaubte er doch an diesem Reste das Christentum zu haben, das er von Herzen wert hielt. Er verkehrte daher auch gern mit gläubigen Christen, bei denen er sich allezeit zu Hause fühlte, wenn sie ihn nur in seiner Eigentümlichkeit gewähren ließen. Sogar nach Herrnhut zog ihn sein Herz des öfteren zurück, sich an den schönen Gottesdiensten der Gemeinde zu erbauen, an ihren Liebes- und Abendmahlen teilzunehmen.

Meinen lieben Vater setzte solche Richtung in einiges Erstaunen. Er konnte nicht begreifen, wo die Sache herkommen sollte, wenn die Ursache fehlte, und war der Ansicht, daß, wenn die heilige Geschichte wirklich geschehen sei, so sei sie wahr, und zwar nach Form und Inhalt: wo nicht, nach beiden Seiten falsch. Gegen solche Alternative mochten etwa die Äsopischen Fabeln ins Feld geführt werden, wie alle Mythen der alten Welt, obgleich sich in beiden auch nichts anderes als die profanste Erfahrungsweisheit offenbart. Aber es schien, daß Fries nicht rechten und jedem die Ansicht gönnen wollte, die ihn befriedigte, oder daß es sich ihm, wenigstens in unserem Hause, nur darum handle, den Vater von der Gleichheit ihrer gegenseitigem Glaubensrichtung zu überzeugen. Die Fassung mochte verschieden sein: der Edelstein blieb doch derselbe. Ob die Evangelisten die Idee, um die sich's handelte, in Geschichten, die Kirche in Dogmen und Gebräuchen, die Kunst in Bildern, die Philosophie endlich in Begriffen zu erfassen und darzustellen strebe, das tangiere oder verändere die Idee selbst nicht im geringsten, und ganz dasselbe, was mein Vater male, das sei auch das, was er, der Philosoph, im Hörsaal demonstriere. Es habe ein jeder seine eigene Sprache.

Von solchen Reden war mein Vater zwar nicht sonderlich erbaut gewesen und noch weniger die Mutter, doch sagte er dieser später: «Der Fries wird doch noch einmal Christ.» Er hielt den jedenfalls sehr liebenswürdigen Mann von Herzen wert.

Ich hörte Fries damals in Jena von der Würde männlichen Charakters reden, die ich denn auch sogleich in mir verspürte, und war nahezu entzückt von seinem Vortrag. Wie gut, dachte ich, haben es doch die Studenten! Es geht wahrhaftig nichts darüber, so überaus behaglich auf bequemer Bank zu sitzen, sich von geistvoller und gelehrten Männern bestens unterhalten und wie ein leeres Faß mit aller Weisheit füllen zu lassen. Von der schweren Not, die mancher hat, sein Faß nachher gehörig zu verspunden, wußte ich freilich nichts.

Aber noch einen weit berühmteren Mann, als Fries es war, ja den gefeiertsten in Deutschland, hätte ich damals sehen und auch reden hören können, wenn ich gewollt hätte, nämlich den Dichterkaiser Goethe, der sich zufällig in Jena aufhielt. Frommanns hatten mich recht eigens auf ihn eingeladen wie auf die größte Delikatesse, die man einem nicht ganz dummen Menschen vorsetzen konnte. Ich muß aber doch zu dumm gewesen sein, oder vielleicht war ich auch nur zu blöde, in Reisekleidern vor dem Minister zu erscheinen – kurz, ich entwich entsetzt nach Drakendorf, von wo ich mit der ganzen Ziegesarschen Familie nach Hummelshain zurückkam.

Der Krüppel von Hohenstein

Mit jener Episode war mein Urlaub erschöpft, und ich rüstete zum Rückzug. Aber nicht wieder über Leipzig wollte ich gehen, sondern durchs Erzgebirge, und nicht etwa, weil diese Gegend ein besonderes Interesse für mich gehabt hätte, sondern nur um den Versuch zu machen, dort einen Mann aufzufinden, von dem neuerdings bei uns sehr viel die Rede gewesen war.

An den Loschwitzer Sonntagen hatte die Mutter uns ein Buch von Schubert vorgelesen, das unter dem Titel «Altes und Neues» allerlei erbauliche Züge aus dem Glaubensleben gottesfürchtiger Menschen mitteilte. Darin geschieht denn auch eines frommen Mannes aus dem Volke Erwähnung, seines Zeichens ein Leineweber, mit Namen Steffan, den Schubert persönlich kannte, da er in seiner Vaterstadt Hohenstein lebte. Dieser Mensch war alt und arm und krank. Er hatte somit alles, was man gewöhnlich am meisten scheut, und zwar in reichem Maße, denn sein Alter war beträchtlich, seine Armut bettelarm und seine Krankheit unheilbar. Nichtsdestoweniger war er ein glückseliger Mensch, und daß er das in Wahrheit sein konnte, machte ihn nicht weniger interessant, weil es ein Beleg für die beseligende Kraft des Christentums zu sein schien, das er bekannte.

Steffan hatte sich nach Schuberts Relation bis in ein vorgerücktes Alter als Junggesell verhalten – da starb sein Jugendfreund, ein anderer Weber und verheirateter Mann, und nahm ihm sterbend das Versprechen ab, für seine Hinterbliebenen zu sorgen. Um dem nachzukommen, heiratete Steffan die Witwe, deren Aussteuer nur in zwei kleinen Mädchen bestand, von denen das jüngste taubstumm war. Aber Steffan baute auf die Hilfe seines Gottes, die er denn auch bald, und zwar in ganz außerordentlicher Weise, nötig hatte und erfahren sollte. Der sonst kerngesunde Mann erkrankte, ward unausgesetzt von empfindlichen Schmerzen gepeinigt und endlich dergestalt gelähmt, daß er weder stehen noch gehen und daher das Bett nicht mehr verlassen konnte. Da war's denn aus mit der Weberei, und auch die Frau konnte nichts mehr verdienen, da sie weder den Mann noch die taubstumme Tochter aus den Augen lassen durfte. Die Familie schien dem Verderben preisgegeben.

Nun aber trat die wunderbarste Hilfe ein, von welcher Schubert in seinem Buche eine ganze Reihe auffallender Beispiele herzählt. Obgleich dem armen Kranken als Betriebskapital nichts anderes als die vierte Bitte geblieben war, so reichte diese doch zu aller Notdurft aus, denn es ward ihm stets zu rechter Zeit, und zwar meist von unbekannten Händen, das Nötigste ins Haus getragen. Es war zwar nur das Nötigste, aber ein Mehreres hatte Steffan auch früher nicht gekannt, und jetzt war er fast überwältigt von der Fülle des Guten, das ihm so unverdient von allen Seiten zufloß.

Von diesem Manne, wie daß ich ihn aufzusuchen dachte, hatte ich in Hummelshain gesprochen, und da ich nun Abschied nahm, steckte mir die Tante noch ein Sümmchen Geld zu «für den Leineweber», wenn ich's nicht selber brauche. Das war eine Freude! Denn ich war allerdings so abgebrannt, daß ich keinen Groschen missen konnte. Nun brauchte ich nicht mit leeren Händen zu erscheinen.

Nach mehreren heißen Tagemärschen langte ich eines Abends in Hohenstein an. Ob mein Heiliger wohl noch leben würde, dachte ich, und ob Schubert auch den rechten Namen oder vielleicht aus Schonung nur den Taufnamen angegeben habe. Da stand gleich bei den ersten Häusern eine Gruppe Nachbarn, die ich nach Steffan fragen konnte; aber dieses Namens gab es mehrere. Der meinige, sagte ich, sei sehr arm, und das waren sie ebenfalls alle. Da ich endlich den Gesuchten als alt und an den Beinen gelähmt bezeichnete, bemerkte ein herzutretender Arbeiter: das passe schon auf einen, den er kenne, einen alten Betbruder; aber bei der Art würde ich wohl nichts zu suchen haben. Ich aber suchte gerade bei der Art etwas, war hocherfreut und ließ mir die Wohnung des Betbruders beschreiben, die, am andern Ende des Bergstädtchens gelegen, nicht leicht zu verfehlen war.

Vor der Türe des etwas windschiefen Hauses fand ich eine Frau, die kleingemachtes Holz eintrug und mich auf meine Frage nach dem Leineweber Steffan etwas verwundert die Treppe hinaufwies. Hier trat ich in ein ärmliches Zimmer, dessen wesentlichstes Ameublement in ein paar Betten bestand. In dem einen lag ein auffallend schöner alter Mann, der sich mittelst eines um das Fußende geschlungenen Seils, das er wie einen Zügel in der Hand hatte, aufrechthielt, und um ihn standen eine Menge Kinder, die er zu unterrichten schien. Er sah mich fragend an.

Ich sagte, ich hätte einen Auftrag an den Webermeister Steffan.

«So heiße ich», erwiderte er; «aber wenn's nicht allzu eilig ist, so verzeihen Sie ein wenig: meine Schule wird gleich aus sein.»

So ist er also mittlerweile Schulmeister geworden, dachte ich – wenn's nur der rechte Steffan ist! Ich setzte mich nun still in eine Ecke, und jener fuhr in seiner Sache fort. Er fragte den Kindern die Gebote ab und sprach zwischendurch zu ihnen so einfach und mit so rührend warmer Liebe, daß es auch mir zu Herzen ging. Ich konnte nicht länger zweifeln, ob ich in diesem Stübchen recht sei.

Inzwischen wurden die Kleinen bald entlassen, und auf den Wink des Alten trat ich ehrfurchtsvoll ans Bett, auf das er sich ermüdet zurückgelassen hatte. Am liebsten hätte ich gleich damit begonnen, mir seinen Segen auszubitten, und war ganz verlegen, ihm statt dessen ein klägliches Almosen einhändigen zu sollen.

«Was haben Sie mir denn zu sagen?» redete Steffan mich jetzt an, indem er mir freundlich die Hand reichte. Ich sagte, eine Dame aus Thüringen, woher ich käme, hätte mir etwas für ihn mitgegeben. Ob ich ihm damit recht käme, wisse ich nicht, aber abgeben müsse ich's, und damit legte ich das Geld der Tante auf die Bettdecke. Es waren drei harte Taler.

Steffan erwiderte nichts. Er faltete die Hände, und eine Träne nach der andern ging aus seinen Augen. Als aber nun seine Frau eintrat, dieselbe, die mich unten zurechtgewiesen, sagte er mit leiser Stimme: «Sieh doch da, die ganze Miete!»

Ich konnte es nicht hindern, daß jene mir die Hände küßte, obgleich ich nicht der Geber war; sie löste sich fast auf in Dankbarkeit, und ich erfuhr nun, daß schon am nächsten Tage die Exekution wegen rückständiger Miete erfolgen sollte, die von mir überbrachte Summe die Schuld aber bei Heller und Pfennig decke. Nicht mehr und nicht weniger war es, es hatten gerade drei Taler gefehlt, wegen deren Geringfügigkeit ich mich dem ehrwürdigen Manne gegenüber geschämt hatte. Nun hatten sie dennoch ausgereicht, ihn vor Plünderung zu schützen.

Ich mußte jetzt berichten, wie es zugegangen, daß meine Tante von der Not eines so weit entfernten kleinen Mannes Kenntnis gehabt, und sprach natürlich von Schuberts Buche. Steffan richtete sich verwundert auf. Er konnte sich nicht gleich darein finden, daß von ihm, dem Hohensteiner Weber, etwas in Büchern stehe, ebensowenig als Schubert es sich gedacht haben mochte, daß jener etwas davon erfahren würde. Indessen kannte Steffan die Eigentümlichkeit seines alten Freundes und sagte endlich mit besonderem Tone: «Der liebe, gute Schubert! Aber unser Vater im Himmel hat wunderliche Kinder und wunderbare Wege!»

Letzteres wußte Steffan nicht erst seit heute abend; er hatte viel erfahren und sprach gerne davon, auf wie merkwürdige Art ihm oft die wunderbarste Unterstützung zugekommen, und immer ohne sein eigenes Zutun, denn er hatte nie gebettelt, außer an jener Schwelle, an welcher alle Christen, große und kleine, täglich zu betteln angewiesen sind. «Noch heute», sagte er, «wer konnte wissen, daß wir den letzten Span verbrannt? – da fährt ein fremder Fuhrmann vor und ladet ein ganzes Fuder kleingespaltenen Holzes ab. Daß meine Frau beteuert, wir hätten nichts bestellt und könnten nichts bezahlen, ist in den Wind gesprochen. (Wenn's bei dem lahmen Steffan ist, so ist's schon recht!), und damit fährt mein Fuhrmann ab und will keinen Dank mitnehmen. Dann aber kommen Sie, mein junger Freund, vom Thüringer Walde her, um unsere Miete zu bezahlen! Und so ist's nun die ganzen zehn Jahre her gegangen, seit ich mich nicht vom Bette rühre. Wer bin ich, Herr, daß du meiner so gedenkst! Du hast es nie am Öl und Mehle fehlen lassen, obgleich ich müßig liege wie ein Brachfeld.»

Aber die Schule, dachte ich, die muß doch ihre Früchte tragen. Als ich ihn indessen hieran erinnerte, sagte er, dafür habe er auch zu danken, daß die Kleinen gerne zu ihm kämen, arme Fabrikkinder, die den Tag über für ihren Unterhalt arbeiten müßten und die Schule nicht besuchen könnten. Da kämen denn ihrer einige am Feierabend zu ihm, und er unterweise sie im Lesen, Schreiben und im Katechismus. Das sei seine Freude und Erquickung.

So wurde denn dieser Ärmste noch der Wohltäter vieler armen Kinder, die ohne ihn verwildert wären. Vielleicht mußte er gerade darum leiblich krank sein, damit er den Samen geistiger Gesundheit in die Seelen dieser Kleinen streue, welche somit möglicherweise noch einen Vorzug vor denen hatten, welche die Ortsschule besuchten, denn dort wurde, wenigstens nach Steffans Ansicht, kein Christentum gelehrt, vielmehr nur Anweisung gegeben, nach dem Vorbild edelmütiger Tiere, wie Löwen, Elefanten und dergleichen, recht zu tun und nichts zu fürchten.


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