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Für die Erziehung von Kindern und Blumen ist eine der ersten Bedingungen Stabilität. Ein und derselbe bleibende Standort, ein und dieselbe pflegende Hand verbürgen ihr Gedeihen am besten. Über meiner Jugend aber waltete der Wechsel. Nicht der Wille meiner Eltern, sondern die Unruhe der Zeit trieb mich aus einer Schule in die andere und durch vieler Lehrer Hände, so daß ich der beklagenswerten Blumenstaude eines Kindergärtchens glich, die von der Hast und Ungeduld der kleinen Gärtner jeden Augenblick ausgehoben und versetzt wird.
Des Zeitpunktes, da mein erster Lehrer mich verlassen, erinnere ich mich nicht mehr. Er war Volkmanns nachgezogen, die sich nach Leipzig zurückgewendet hatten. Ein anderer Lehrer, namens Gremberg, hatte ihn abgelöst, doch war dieser wieder verschwunden, nur stumpfe Erinnerung hinterlassend. Endlich vertrauten uns die Eltern einer öffentlichen Anstalt an, dem in der Altstadt gelegenen Haanschen Privatinstitut, das ihnen zwar sehr gerühmt war, sich mir aber gleich in den ersten Wochen durch folgenden Vorfall schlecht empfahl.
Wir hatten lateinische Exerzitien eingereicht, bei deren Rückgabe es sich zeigte, daß meine Arbeit die fehlerfreiste war. Den Lehrer konnte dies insofern befremden, als ich mein Antrittsexamen aus Blödigkeit nicht sonderlich bestanden hatte und demzufolge wahrscheinlich unterschätzt und zu tief gesetzt war. Indem er mich nun scharf fixierte, fragte er, ob ich mir auch von meinem Vater habe hübsch helfen lassen? Die ganze Klasse blickte auf mich hin.
Kinder können, auch wenn sie unschuldig sind, bei dem Gedanken, daß man sie in Verdacht habe, leicht in Verlegenheit geraten, und mir stieg das Blut ins Gesicht, als ich meine alleinige Autorschaft beteuerte. Der Lehrer nahm dies für ein Symptom der Schuld. Wer die Wahrheit spräche, ließ er sich vernehmen, brauchte nicht bis an die Ohren rot zu werden, und die schlechteste Arbeit sei immer besser als eine Lüge. Damit warf er mir mein Heft verächtlich zu.
Mir war es zumute wie der Jungfrau von Orleans im Schiller, da sie sich plötzlich im Verdacht der Hexerei sieht. Mein Selbstbewußtsein ruhte wesentlich auf meiner Ehrlichkeit. Eltern und Geschwister hatten mir bis dahin allezeit aufs Wort geglaubt, und nun sah ich mich plötzlich vor der ganzen Klasse als feigen Lügner angeprangert. Ich war aufs äußerste empört, doch nicht gewillt, mich weiter zu verteidigen. Einerlei, dacht' ich, was der von einem denkt, und fortan soll er an mir den liederlichsten Schüler haben, weil er's nicht besser haben will. Ich wollte meine Arbeiten geflissentlich mit Fehlern spicken und ihm dann sagen, ich hätte das getan und würde es auch weiter tun, weil er einem Lügner ja doch nicht glauben werde, daß er's besser könne. Politische Zwischenfälle verhinderten inzwischen diese Rache.
Als wir eines Tages aus der Schule kamen – es mochte der vierte Mai des Jahres 1813 sein –, gewahrten wir ein befremdliches Rennen und Laufen der Leute auf der Straße. Bald sahen wir Haufen russischer Soldaten, untermischt mit Fuhrwerk jeder Art. Alles eilte von der Altstadt her der Brücke zu. Wie wir diese selbst passieren konnten, begreife ich heute nicht mehr, denn lange Züge von Menschen, Pferden, Wagen und Geschützen drängten sich in buntem Durcheinander drüber hin; die Kosaken ritten selbst auf den Trottoiren.
Zu Hause angekommen, fanden wir den Onkel Georg, ermüdet von dem Ritte und als Augenzeuge von der Lützener Schlacht berichtend. «Geschlagen sind wir nicht», sagte er, «aber wir gehen zurück bis an die Oder.»
«Besser, ihr wäret geschlagen», erwiderte mein Vater, «und gingt bis an den Rhein vor.» Oh, es war recht trostlos, die Armeen weichen zu sehen, bei deren Fahnen die Freiheit war, um von neuem französischer Botmäßigkeit zu verfallen! In Eilmärschen warfen sich die Russen durch die Stadt, und der hölzerne Neubau der Brücke flammte im Angesicht des nachdrängenden Feindes auf. Die Altstadt Dresden war wieder in Napoleons Hand.
In Neustadt blieb von Russen nichts zurück als eine reitende Batterie nebst einer Schwadron Husaren und dem Onkel Georg. Letzterer hatte sein Hauptquartier bei uns aufgeschlagen und sagte, daß man die Elbe noch drei Tage halten werde. Da sah ich denn den Krieg recht ans der Nähe.
Die russischen Kanonen standen auf der Klosterwiese, von wo aus sie den Strom beherrschten und die Bresche in der Brücke bestrichen. Von drüben herüber feuerten die Franzosen, und ihre Geschosse pfiffen die Straße entlang. Sogar schlug eine Büchsenkugel durch eins unserer Fenster. Da dieses nicht in der Schußlinie lag, so mußte sie von irgendeinem Gegenstande, etwa von einem Ast der Linden vor dem Hause, abgeworfen sein. Sie war gegen die Rückwand des Zimmers geschleudert und von da auf das Bett meiner Mutter gefallen, das diese soeben verlassen hatte. Die Kugel war formlos, abgeplattet, zackig und mit Holzteilchen behangen und mochte auf ihrem weiten Wege von mindestens tausend Schritten schon mancherlei Beschädigung erlitten, vielleicht auch angerichtet haben.
Der Eindringling ward sehr genau betrachtet, und ich erinnere mich, daß unser Hauswirt, durch den Augenschein verleitet, die Ansicht geltend machte, dies mörderische Projektil sei nicht nur mit kleinen Widerhaken versehen, sondern auch, um die Wunde zu verunreinigen, mit Sägespänen gefüllt gewesen. Wozu der Haß im Kriege führen könne, sei gar nicht zu ermessen, sagte er.
Wenn ich mich nun in unsere damalige Lage zurückversetze, so kann ich nicht begreifen, wie mein guter Vater auf den Gedanken verfallen konnte, den Onkel mit uns Kindern zu den Kanonen auf der Klosterwiese zu begleiten. Wir sahen hier die russische Batterie aus nächster Nähe feuern, bis sehr unerwartet auch von gegenüber ein Geschütz aufkrachte, welches in demselben Augenblick erst angelangt sein mochte. Wir hörten das Sausen der Stückkugel, die, an uns vorüberfahrend, in die Mauer des Hübelschen Gartens einschlug.
«Sehen die Esel denn nicht, daß hier Menschen stehen?» sagte mein Vater, nahm uns Kinder bei den Händen und eilte mit uns fort, so schnell er konnte.
Zu Hause angelangt, entschädigte uns indessen ein großartiges Schauspiel, das wir aus den Bodenfenstern gefahrlos übersehen konnten. Napoleon wollte unterhalb Dresdens den Übergang erzwingen; aber die Russen hielten fest und schossen ihm mehrere Brücken in den Grund. Es war eine rasende Kanonade: keine Schüsse mehr, ein einziger unablässig rollender Donner. Der ganze Westen hüllte sich in Pulverdampf.
Ein Erlebnis jagte nun das andere. Am nächsten Morgen sahen mein Bruder und ich die auf der Klosterwiese postiert gewesenen Kanonen nebst den Husaren, also unsere ganze Besatzung, im schlanken Trabe abziehen. Der Onkel saß am Flügel und phantasierte. Ich schrie ihm zu, daß alles fliehe, aber er hatte keine Ohren für mich. Seit längerer Zeit mochte er kein Instrument angetroffen haben und schien jetzt ganz vertieft in musikalische Reminiszenzen und Gedanken. Ich konnte seine Ruhe nicht begreifen und lief zu meinem Vater; der aber kramte und packte in einer Kiste und wollte auch nichts von mir wissen. Da begegnete ich dem Stiefelputzer, der eben Brot vom Bäcker brachte. Aus purer Menschlichkeit hatte der Alte dies Geschäft der Köchin abgenommen wegen der Kugeln, die einem auf der Straße wie Bremsen zu begegnen pflegten.
«In einer Viertelstunde», sagte er, «sind sie da. Sie haben schon ein Schiff im Wasser, und der Russe gibt Fersengeld.»
Nun rannte ich wieder zu dem Onkel, der sich, als gäbe es gar keine Franzosen, immer noch in sanften Harmonien wiegte. «Sie haben schon ein Schiff im Wasser, Onkel!» schrie ich, «und werden dich gewiß noch fangen!» Indem trat auch sein Reitknecht ein und rapportierte. Da endlich stand der Onkel auf, schnallte den Säbel um und eilte fort; ich lief mit ihm die Treppe hinunter. Im Hofe standen seine Pferde, er schwang sich auf, und dahin flog er wie auf Sturmes Flügeln.
Meine Mutter, die in der Wirtschaft beschäftigt gewesen, war durch die Nachricht von dem plötzlichen Aufbruch ihres Vetters fast verletzt. Sie öffnete das Fenster und bog sich weit hinaus. Der Onkel war nicht mehr zu sehen.
Da plötzlich, es konnten keine fünf Minuten vergangen sein, da stürmten in rasender Karriere die zurückkehrende Batterie nebst Onkel und Husaren wie ein rasches Traumbild unter unseren Fenstern weg, und gleich darauf hörten wir wieder den Donner der Geschütze. Es folgte Schuß auf Schuß, und mitten auf der Elbe versank ein großes Schiff. Man sprach von 300 Franzosen, die ihr Leben dabei eingebüßt hätten.
«Heute halten wir uns noch», sagte eine Stunde später der Onkel Georg, «aber morgen müßt ihr euch für die Franzosen einrichten.»
Mit dieser Einrichtung waren übrigens alle Hände im Hause schon sehr beschäftigt, denn man erwartete Plünderung, und jeder war bemüht, sein Hab und Gut zu bergen. Auch war unsere Wohnung zu heimlichen Verstecken wie geboren, denn sie enthielt nicht weniger als vier dunkle Piecen, so angelegt, daß, wenn man Zeit behielt, ein Paar Tapetentüren zu verkleiden, niemand ihre Existenz so leicht erraten konnte. Da hinein hatten meine Eltern ihre wertvollsten Sachen gerettet, und auch wir Kinder hatten unseren Kram dazugelegt. Namentlich war die kleine Schwester sehr beruhigt, ihre geliebte Puppe Salli, einen fast lebensgroßen Balg, in Sicherheit zu wissen. So mochten die Plünderer denn kommen, die Schwester hätte nichts verraten.
Es war am Morgen des 10. Mai, als die russischen Kanonen ihre letzten Adieus nach der Altstadt sandten, und bald darauf bestand die ganze russische Besatzung unserer Neustadt wieder einmal nur aus dem Onkel Georg und seinem Reitknecht. Er war abermals allein zurückgeblieben, vielleicht um den Genuß verwandtschaftlichen Beisammenseins soweit als möglich auszudehnen. Unterdessen bauten die Franzosen, die keine Schiffe mehr ins Wasser ließen, sehr eifrig an der Brücke. In kürzester Frist konnten sie erwartet werden.
Unter solchen Umständen imprimieren sich die Erlebnisse. Mein Vater und der Onkel schritten Arm in Arm durchs Zimmer, die nächste Zukunft besprechend, die Mutter saß schreibend an ihrem Pult. Sie wollte ihrem Vetter einige Zeilen der Empfehlung an Graf Dohnas mitgeben nach Hermsdorf, das er passieren mußte. Wir Kinder aber verließen das Fenster nicht, beharrlich ausschauend, ob sich noch keine Franzosen auf der Brücke zeigten. Dort saß Napoleon, wie wir wußten, in einem Pfeiler, mit der Uhr in der Hand die Zimmerleute treibend.
«Da kommt schon einer», rief mein Bruder, und alles sprang ans Fenster. Von der Elbseite her jagte ein einzelner Reiter die Straße herauf und saß vor unserem Hause ab. Ob Feind oder Freund – wer konnte es wissen. Aber da ging auch schon die Türe auf, und herein trat ein trefflich schöner Mann von ritterlichem Aussehen. Ähnlich den Braunschweiger Husaren, war er ganz schwarz gekleidet, trug eine breite eiserne Kette um den Hals und ein Schwert an der Seite. Ich glaubte einen Helden aus der Ehrenzeit des weiland Deutschen Reiches zu sehen, und empfangen ward er, als wäre er ein solcher. Er wurde Graf Gröben genannt und war, wie ich später erfahren, derselbe Gröben, der schon Anno neun im Verein mit dem Grafen Dörnberg den hessischen Aufstand leitete. Wie er sich zu uns gefunden und ob er überhaupt meine Eltern oder den Onkel schon früher kannte, weiß ich nicht; ich hörte nur, daß er, seit Tagen von den Seinigen versprengt, soeben durch die Elbe geschwommen sei. Bei dieser Gelegenheit war nach ihm geschossen worden, auch war sein Pferd verwundet, und er selbst mochte der Erquickung wohl bedürftig sein, welche die Mutter ihm eilig reichte.
Doch war eigentlich er es, der die übrigen erquickte, denn sein ganzes Wesen trug das Gepräge ungebeugten Mutes, und seine Worte waren die eines gottbegeisterten Propheten, der die Ketten seines Volkes fallen sieht und Gott im voraus preist. Ein herrlicher Mensch, dem unser aller Herzen zuflogen.
Als der Graf etwas gegessen und es zum Abschied kam, stand er noch lange vor dem Bilde der Heiligen Jungfrau, die mit seliger Ruhe auf ihn niederblickte, und konnte sich an dem Anblicke dieses stillen Friedensangesichtes nicht satt sehen, bis mein Vater ihn hinwegzog. Wir gingen alle mit hinab in den Hof. Die Pferde standen am Röhrbrunnen; das des Grafen blutete und schien müde; als es aber seinen Reiter fühlte, warf das edle Tier den Kopf auf und trug ihn an der Seite seines Kameraden ungefährdet nach dem benachbarten Hermsdorf, wo beide Kriegsgenossen, gastlich empfangen, noch einen schönen Friedenstag verlebten. Uns aber war es zumute, als hätten die Engel Gottes uns verlassen.
Kaum waren unsere Freunde fort, so schloß sich der «Gottessegen» gleich einer Zitadelle. Die eisernen Fensterläden des Erdgeschosses wie die schweren Flügel der Haustüre wurden eingeriegelt und letztere überdem noch von innen mit starken Balken gesperrt. Das kleine Pförtchen in der Gartenmauer, das auf die einsame Ränitzgasse führt, konnte im Notfall zur Flucht dienen. Man dachte sich die Franzosen sehr erbost wegen des jubelnden Empfanges, den die Kosaken in der Neustadt gefunden hatten.
Etwa zehn Minuten nach Abzug unserer letzten Beschützer sahen wir aus der Ferne das Aufblitzen und Funkeln der französischen Bajonette. Es hatte von unserem Fenster aus den Anschein, als ob sich ein breiter Lichtstrom von der Brücke in die Neustadt wälze, die denn auch in wenigen Minuten von Franzosen überschwemmt war. Wir waren in die Botmäßigkeit Napoleons zurückgesunken.
Unsere Besorgnisse wegen Plünderung erwiesen sich übrigens als eitel. Die Franzosen hielten gute Ordnung und zogen weiter, wie sie kamen, den Russen auf der Bautzener Straße folgend. Andere Regimenter rückten freilich nach, und die Stadt blieb überfüllt mit Militär. Dresden ward zum Waffenplatz und zur Basis aller weiteren Operationen Napoleons, und da bei so bewandten Umständen an eine baldige Wiederkehr eines ruhigen Verkehrens auf den Straßen nicht zu denken war, ein Sieg der Verbündeten auch die Neustadt von der Altstadt abermals getrennt hätte, so mußte für uns Kinder von der entlegenen Haanschen Schule abgesehen werden. Die Eltern nahmen uns dort wieder weg, und ich sagte diesem Institute gern Valet.