Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Fünfter Teil

1. Die Tabakspfeife

Ich bin hiermit vor einem Abschnitt meines Jugendlebens angelangt, welcher vorzugsweise durch das Bild eines Mannes illustriert ist, dessen fremdartige und doch sympathische Art entschiedenen Einfluß auf meine Entwicklung übte, eines teueren Lehrers und sehr werten Freundes, freilich von sonderbarem Außenwerke und oft verkanntem innerem Werte – doch eines Edelsteins vom reinsten Wasser.

Zu schildern vermögen wir nur, was wir begreifen und verstehen, daher kein Mensch vom andern ein getreues Bild zu entwerfen vermag, ja keiner von sich selbst. Es sind nur Bruchteile, die wir aneinander erkennen, um so geringere, als die uns entgegenstehende Natur die unserige überragt, und solche Bruchstücke können es denn auch nur sein, die sich in meiner Erzählung von den Personen finden, die ich schildere.

Ich war im vergangenen Herbste vierzehn Jahre alt geworden und schien alt genug und ausreichend gelehrt, um kommenden Frühlings die Kreuzschule oder ein auswärtiges Gymnasium zu beziehen. Über die Wahl der Schule war noch nichts entschieden. In jedem Falle sollte ich vorher konfirmiert werden, und meine Mutter sah sich nach einer geeigneten Vorbereitung für mich um. In Dresden wollte sich nichts finden, wohl aber wurden wir durch Freunde, namentlich durch die Gräfin Dohna, auf einen Landgeistlichen namens Roller hingewiesen, der, wie wir jetzt erfuhren, für den einzigen gläubigen Theologen der Umgegend galt. Er war Pfarrherr zu Lausa, einem Dorfe, das zu dem Dohnaschen Gute Hermsdorf gehörte, und sehr empfehlend schien es, daß der regierende Graf zu Stolberg-Wernigerode sich entschlossen hatte, zwei seiner Söhne von weitem herzubringen, um ebenfalls von diesem Manne unterrichtet und konfirmiert zu werden. Mich an so ausgezeichneter Unterweisung teilnehmen zu lassen, schien wünschenswert, und meine Mutter war daher nicht wenig erfreut, als Roller sich bereit erklärte, mich in sein Haus zu nehmen.

So wurde denn mein Köfferchen gepackt, und eines schönen Nachmittags fuhr meine Mutter mit mir hinaus nach Lausa. Ich war in jener Gegend völlig fremd, hatte aber von Menschen und Dingen die günstigste Erwartung, besonders von der Person des Herrn Pastors selbst, den ich mir nach allem, was ich gehört hatte, als einen Heiligen dachte, strahlend und mild, noch liebreicher und sanfter als meinen ehemaligen Lehrer Schulz. Ich freute mich auf die Freiheit, die ich unter dem milden Regiment eines so guten Mannes genießen würde, auf das Landleben, auf Wald und Flur, auf das Dohnasche Haus und den Umgang mit den beiden jungen Grafen.

Wir waren lange durch Tannenwald gefahren, als sich dieser endlich lichtete und das hübsch gelegene Kirchdorf Lausa in einiger Entfernung sehen ließ. Rechts ab vom Wege zeigte sich ein blauer See, der Großteich genannt, umkränzt von Wald und Wiesen, die größte Wasserfläche, die ich bis dahin gesehen hatte. Es lag kein Schnee, die liebe Sonne blickte warm und freundlich über den Tannenhügel, und der Gedanke, an jenen einsamen Gestaden täglich zu spazieren und zu schwärmen, entzückte mich nicht wenig. Mit so angenehmen Voraussetzungen rollte ich im Pfarrhof ein.

Der Pastor Samuel David Roller war ein kleiner, untersetzter Mann, von breiten Schultern, hoher Brust und markigem, sehr starkem Gliederbau. Sein großes, männlich schönes Gesicht, dessen feste Züge aus Stein gehauen schienen, trug den Stempel unwandelbarer Kraft, deren Starrheit jedoch durch einen Zug des Leidens um die dunklen Augen wie durch das lange, glatt gekämmte Haar gemildert wurde, das bis über den Rockkragen fiel. Der Frack von grobem Tuch, kurze Kniehosen und hohe rindslederne Stiefel gaben seiner Erscheinung einen bäuerlichen Anstrich. In straffster Haltung, wie ein Korporal, trat er uns entgegen, verbeugte sich vor meiner Mutter und reichte mir die Hand, die sich wie Büffelhorn anfühlte; dann richtete er mich gerade. Endlich sehr bedächtig redend, legte er mir gleichgültige Fragen vor und entließ mich. Ich sollte zu seinen Schwestern gehen oder in den Garten, bis ich gerufen würde.

Diese Schwestern mochten irgendwo vorhanden sein, aber den Garten sah ich vor mir und ging hinein. Ein sonderbarer Mann! dachte ich, der freilich meinem Ideale von einem Heiligen wenig gleichkam. Ich war zweifelhaft, ob er mir gefallen sollte, und mit sehr gemischter Empfindung durchstöberte ich den weitläufigen, noch sehr winterlichen Garten.

Siehe! da langte ein Fliederzweig nach meiner Mütze, hätte sie mir fast vom Kopfe gerissen. Halt! dachte ich, riß ihn ab und schnitt mit meinem Taschenmesser ein Stück davon, um aus langer Weile das Mark herauszuschälen.

Aber nein, es konnte auch ein Pfeifenköpfchen daraus werden! Voll plötzlichen Interesses schnitzte ich es so sauber aus, als ich vermochte, steckte ein Schilfrohr dran, das ich am Ententümpel fand, und gefiel mir darin, kalt zu rauchen, bis man mich ins Haus rief.

Ich fand die ganze Pfarrgenossenschaft beisammen, der ich nun vorgestellt wurde. Der Junggeselle Roller hauste mit drei unverheirateten Schwestern und einem Bruder, sämtlich älter als er. Die Schwestern waren wie ehrbare Bäuerinnen gekleidet, denen sie auch im Wesen und Benehmen glichen. Luise und Charitas teilten sich in die materielle Pflege des Bruder Pastor, indem sie der Haus- und Feldwirtschaft vorstanden, während die kränkliche, aber sehr lebhafte Marianne seine Interessen pflegte und ihn durch ihre Munterkeit erheiterte. Sie unterstützte ihn in seinen Liebhabereien, hielt seine mancherlei Sammlungen in Ordnung, liebte und lobte seine Blumen und machte die Honneurs im Hause. Mir kamen sie alle freundlich entgegen, selbst die kleine, windschiefe Gestalt des Bruder Jonathan, der sehr wider seine Neigung zu meiner und meiner Mutter Begrüßung herbeigeschleift und uns unter dem Prädikate eines Ökonomen präsentiert ward. In der Tat war er gelernter Schneider, hatte aber sein Handwerk wegen Leibesschwäche aufgegeben. Jetzt verrichtete er allerlei Dienste im Hause, tat Botengänge und war wie der Papst servus servorum, oder mit anderen Worten Hausknecht. Endlich hatte ich noch drei Mägden die Hand zu reichen, nachdem sie sich die ihrigen gehörig an den Schürzen abgerieben hatten. Sie wurden unter der Benennung von Hauskindern herbeigerufen und unmittelbar nach der Begrüßung wieder weggescheucht. Die älteste, etwas verwachsene, führte, wie die jedesmalige Großmagd des Hauses, den Namen Rhode aus der Apostelgeschichte, weil eine ihrer Vorgängerinnen den Grafen Dohna, als dieser eines Abends spät zur Pfarre kam, während man ihn doch verreist glaubte, für ein Gespenst gehalten hatte. Die jüngste, Christiane, war von ihrem vierten Jahre unheilbar taub gewesen, und als Roller sie nach dem Tode ihrer Mutter aus Barmherzigkeit zu sich nahm, hatte sie sogar die Sprache vergessen. Doch war es seinen Bemühungen gelungen, sie nicht allein notdürftig sprechen, sondern auch die Rede anderer mit den Augen absehen zu lehren. Sie schrieb und las geläufig, war in der Religion unterrichtet, konfirmiert und hing mit schwärmerischer Verehrung an ihrem Lehrer. Nach der naiven Art der Taubstummen begrüßte sie mich mit besonderer Emphase, drückte meine Hand ans Herz und schrie mir mit weit aufgerissenem Munde zu, sie werde meine Stiefel putzen und meinen Rock ausklopfen.

Auf diese Präsentationen folgte der Abschied von meiner Mutter, mit welcher ich am liebsten wieder nach Dresden zurückgefahren wäre, da ich an meinen sämtlichen neuen Hausgenossen, sowohl an den Brüdern als an den Schwestern und nicht minder an den sogenannten Hauskindern, nur sehr wenig Geschmack fand. Ich stellte mich aber getrost und folgte den schwerfälligen Schritten des Pastors die Holztreppe hinauf in sein Studierzimmer, wo ich mich, während jener seinen Rock wechselte, als künftiger Mitbewohner zu orientieren suchte.

Dies Studierzimmer war ein längliches Gemach mit zwei Fenstern in der Front und einem im Giebel. Von dem letzteren zog sich durch das halbe Zimmer eine schmale, mit Wachstuch überzogene Tafel, während der untere Raum für beliebige Zwecke frei blieb. Ein kleines Schreibepult, ein Spiegeltisch ohne Spiegel mit einer Stutzuhr, ein Bücherbrett, mehrere Stühle und ein Sofa bildeten das übrige Mobiliar. Über dem Sofa hing ein Immortellenkranz, der ein lebensgroßes Brustbild einschloß, von Roller selbst in Pastell gemalt. Es stellte seine verstorbene Mutter dar, erdfahl, mit halbgeschlossenen Augen und einer großen, widerwärtigen Haube.

Roller beleuchtete dies Kunstwerk mit seiner blechernen Küchenlampe und sah mich forschend an. Da ich nichts äußerte, sagte er in seiner langsamen Weise: «Nun, mein Sohn! Wenn es dir nicht gefällt – ich kann auch Tadel ertragen!»

Ich erwiderte, es möchte wohl recht ähnlich sein.

Roller lachte hart, setzte die Lampe auf den Wachstuchtisch und sagte: «Es ist schon gut!» Er hatte augenscheinlich Lob erwartet, worüber ich mich nicht genug verwundern konnte.

Darauf bemerkte er mein selbstgemachtes Tabakspfeifchen, das ich noch immer in der Hand hielt. Er nahm es mir ab und schien im Anschauen verloren, worüber ich abermals verwundert war, da dergleichen Allotria bei mir zu Hause nicht beachtet wurden. Für Roller aber hatte alles Ding Interesse, selbst das geringste, und fast mit gleicher Aufmerksamkeit konnte er ein wirkliches Kunstwerk wie auch ein paar neue Stiefel prüfen und betrachten bis ins Detail. So zerlegte er denn auch mein Pfeifchen in seine Teile, die er seiner Kurzsichtigkeit wegen einzeln zum Auge führte und schweigend der genauesten Besichtigung unterwarf.

Dieses stumme Examen dauerte so lange, daß ich wegen des Endurteils besorgt ward. Aber nein! mein Pastor schien befriedigt. Ob ich denn schon rauche, fragte er sanft. Ich verneinte, fügte aber hinzu, daß ich sehr große Lust dazu hätte.

«Diese Lust», erwiderte Roller, «liegt in der männlichen Natur, soweit sie nämlich unverderbt ist. Nur Weichlinge und Schwachköpfe verleugnen sie und halten die Pfeife für ein unreines Tier, was jüdisch ist und nichts beweist; denn als Petrus einmal auf dem Dache saß wie ein Sperling, hatte er eine große Offenbarung. Ein Tuch voll unreifen Gewürmes schwebte zu ihm nieder, und es geschahe eine Stimme aus den Wolken, die sprach: ‹Schlachte und iß!› So stopfe denn, mein Sohn, und zünde an!»

Mit diesen Worten schob er mir den bleiernen Tabakskasten zu, und wer war glücklicher als ich? Es war der erste Augenblick in diesem Hause, zu dem ich hätte sagen mögen: bleibe! du bist so schön! wenn ich nicht vielmehr gewünscht hätte, daß er schon vorüber wäre und die Pfeife brenne.

Während ich nun stopfte, bereitete mein Pastor alles zur ersten Lektion vor, die sogleich beginnen sollte. Der öffentliche Unterricht hatte nämlich schon vor vierzehn Tagen angefangen, und ich mußte privatim nachgefördert werden. Zwei Kammern mündeten in das Studierzimmer. Die eine war Schlafstube, die andere, mit Büchern, Naturalien, Kuriositäten und allerlei Trödel angefüllt, hieß das Museum. Dahinein war Roller jetzt gegangen, um, wie er sagte, die notwendigsten Requisiten herauszuholen. Ich dachte, es würde eine Bibel sein; aber statt dessen kam er mit einem alten unüberzogenen Schafspelz zurück, den er sorgfältig vor dem Ofen ausbreitete, das Fell nach oben. Er habe ihn vom Nachtwächter gekauft, sagte er, für einen Taler, und jener von den Kosaken für fünf Groschen und vier Pfennig; doch könne ihn der König tragen, wenn er wolle.

Hierauf untersuchte Roller meine Pfeife, fand sie zu lose gestopft und drückte den Tabak fester ein. «So wenig als möglich Luft», belehrte er, «damit die Saugwerkzeuge sich mit aller Kraft dagegen legen und das edle Gut nicht zu schnell abbrennt.» Dann zündete auch er sich eine Pfeife an.

Endlich waren alle Vorbereitungen beendet. Der Pastor blies die Lampe aus und öffnete die Ofentüre, aus welcher ein mächtiger Feuerschein hervorbrach, dessen rote Glut dem alten Fell des Pelzes das Ansehen eines goldenen Vlieses gab. Wir aber streckten uns darauf nieder wie ein paar Seehunde, ein alter und ein junger, die sich am Strande sonnen, und in dieser Situation empfing ich rauchend meinen ersten Katechumenenunterricht.

Roller begann mit einem Examen. Er fragte mich nach dem ersten Gebot: ich kannte es nicht. Ich wußte auch vom ersten Glaubensartikel nichts, hatte nie davon gehört, und selbst das Vaterunser war mir fremd. Endlich mußte ich sogar die sehr allgemeine Frage nach dem, was ich denn eigentlich wisse, unbeantwortet lassen, teils weil vielleicht der Hochgenuß des Rauchens mich zu sehr in Anspruch nahm, besonders aber, weil ich in der Tat gar nichts zu wissen glaubte. Meine bisherigen Lehrer hatten mir nichts Positives gegeben, sie hatten mein Gedächtnis leer gelassen, und auch meine Mutter hatte mehr das Herz als den Kopf bedacht. Von Katechismus und Gesangbuch hatte ich nie Notiz genommen und war ganz formlos.

Stadtkinder, sagte Roller entschuldigend, wüßten freilich in der Regel wenig und die kleinsten Bauernmädchen in seiner Schule mehr als ich. Zwar sähe er, daß ich kein Wilder oder Anthropophage sei, sonst würde er nicht so ruhig bei mir auf dem Fell liegen, aber viel gelehrter sei ich auch nicht. Doch, fügte er hinzu, das schade wenig, da er dennoch einen Grund in mir legen wolle, an dem sich Welt und Teufel zuschanden kratzen sollten. Nach solcher Einleitung ging er sogleich ans Werk, sagte mir die Gebote mit der Lutherschen Erklärung vor und ließ sie mich wörtlich nachsprechen. Da schien es mir denn, daß ich dennoch mehr wisse, als ich gedacht hatte, denn ich kannte den Inhalt sämtlicher Gebote, nur nicht dem Wortlaute nach und nicht nach der Reihe.

«Ist es nicht genug», sagte ich, «wenn ich den Sinn weiß? Auf die Worte kommt's ja nicht an!» Aber Roller erwiderte: «Hier liege ich, und da liegst du! Wenn du's besser weißt, so unterweise mich. – Aber», fuhr er auf, «was ist denn das mit deiner Pfeife?»

Ich blickte nieder – mein Pfeifenkopf war eine glühende Kohle. Ich hatte den Tabak aufgeraucht und, ohne es zu merken, den Fliederkopf dazu. Roller nahm mir die Brandstätte ab und warf sie in den Ofen.

Ob mir's nicht übel sei? – aber ich war kerngesund.

«Dergleichen!» sagte Roller ganz verwundert, «dergleichen! dergleichen!» zündete die Lampe an, ging ins Museum und kam mit einer niedlichen kleinen Tabakspfeife zurück, die er mir spendete, weil ich – wie er sagte – zum Raucher geboren sei. Zu meinem Entzücken fügte er hinzu, ich könne rauchen, soviel ich wolle. Dann ergriff er seinen vier Fuß langen, aus einer fast armsdicken Weinrebe geschnittenen Stab und wanderte nach dem eine halbe Stunde entlegenen Hermsdorf zu Dohnas, wo er mit Ausnahme der Dienstage und Sonnabende jeden Abend zuzubringen pflegte. Mich aber schickte er mit meiner Pfeife hinunter zu seinen Geschwistern.


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