Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Der Genius der Kunst

Aber auch zu künstlerischen Leistungen regte mich die Schule an. Mehrere Schüler waren nämlich auf den Einfall gekommen, den Geburtstag unseres sehr verehrten Rektors durch ein Schauspiel zu zelebrieren und hatten auch mich zu ihren Beratungen gezogen. Welches Stück wir gewählt hatten, weiß ich nicht mehr, nur erinnere ich mich, daß ein Dieb durchs Fenster steigen mußte. Nun hatten wir zwar kein eigentliches Theater und wollten die Kulissen nur durch spanische Wände herrichten, die meine Mutter liefern sollte; wegen des Diebes war aber doch eine Wand mit einem Fenster nötig, Dinge, die wir uns selber machen mußten, und ein anstelliger Junge, Sohn eines Stubenmalers, namens Lehmann, übernahm die Leitung dieses Werkes. Als Atelier benutzten wir die Klasse nach geschlossener Schule. Die Bänke wurden weggeräumt, und bei dem matten Schein von ein paar mitgebrachten Talglichtern gingen wir mit Holzleisten, Nägeln, Kleister, Leim und Pappe, mit Schneiden, Hämmern und Farbereiben frisch ans Werk. Jeder tat sein Bestes, und wie der Rektor sich endlich freuen würde, war gar nicht auszusprechen. Freilich würde die Überraschung noch größer sein – schlossen wir –, wenn der Gefeierte die schöne Dekoration erst beim Anfange des Stücks zu sehen kriegte, aber dazu war ein Vorhang nötig, und woher den nehmen? «Der wird von Papier zusammengeklebt!» sagte ich und vermaß mich des weiteren zu versprechen, daß, wenn die anderen nur wüßten, wie er anzubringen sei, so wollte ich ihn wohl malen. Ich dachte: wenn der Sohn des Stubenmalers die Wand mit dem Fenster zwingt, so wird der Sohn des Historienmalers wohl auch den Vorhang zwingen.

Mein Vorschlag wurde mit Applaus gelohnt. Lehmann umarmte mich sogar. «Ich male», sagte ich trocken, «den Genius der Kunst, schwebend mit seiner Leier auf himmelblauem Grunde, und Lehmann faßt das Ganze mit einer Wein- oder Hopfengirlande ein, oder wie er will, denn ich verstehe mich nur auf Figuren.» Sogleich skizzierte ich den Schweber auf ein Blatt Papier, Lehmann entwarf etwas wie eine Girlande darum, und diese erste Erfindung übertraf die Erwartung aller, auch meine eigene; ich brannte vor Begierde, sie auszuführen.

Die nächsten Abende fanden uns in voller Arbeit. Wir leimten erst Papiere an Papiere, verkleisterten uns dabei die Hände, die Hosen, Jacken und Haare, und am Ende klebte die ganze Geschichte unlösbar fest am Boden. Es war entsetzlich! Nur in Fetzen brachten wir den Vorhang wieder los und verbrauchten den ganzen Rest des Abends mit Reinigen des Fußbodens. Aber immerhin hatten wir jetzt gelernt, wie man's nicht machen müßte, und das nächste Mal ging's besser. Die Tabula rasa brachten wir wirklich zustande, und es fehlte jetzt nur noch eine Kleinigkeit, der Genius nämlich, den man von meiner Geschicklichkeit erwartete.

Ich überzog nun – wie es der Vater machte – die Skizze mit gelehrten Quadraten, desgleichen auch den Vorhang, und begann mein Werk ins Große aufzuzeichnen. Ich war durchglüht von Schöpferlust und arbeitete mit Begeisterung. Nie habe ich später wieder so kecke und markige Kohlenstriche gemacht. Die anderen umstanden mich staunend, und als nun nach und nach die deutlichsten Umrisse einer lebensgroßen Gestalt erschienen, erquickte mich aufrichtiger Beifall. Nur das Gesicht ließ noch zu wünschen übrig. An dem seinigen, das er verzerrte, zeigte mir einer, wie es sich ausnähme. Ich sagte aber, das gäbe sich bei der Ausführung.

Darauf verließ ich die Werkstatt zwar sehr befriedigt von dem, was ich bis dahin geleistet hatte, aber doch mit einiger Besorgnis, die nicht bloß jenem Gesichte galt: ich wußte überhaupt nicht, wie's weiter werden sollte. Wohl konnte ich einen Umriß zeichnen, der mir und meinesgleichen genügte; ihn aber mit Farben, Licht und Schatten, und noch dazu in so bedeutender Größe auszufüllen, das fing mir an, bedenklich zu werden. Indessen war der Hintergrund das nächste, und das Weitere, hoffte ich, würde sich finden. Auch fand sich's wirklich.

Der treffliche Lehmann hatte einen großen Topf voll Farbe gerieben, schöne himmelblaue von erster Qualität, und in Strümpfen auf dem Bilde umherkriechend, begannen wir den Anstrich. Ich umzog die Umrisse, andere füllten, und in Zeit von einer einzigen Stunde war alles radikal verdorben. Unser bis dahin so wohlgeratener Vorhang war mit Falten überzogen wie ein Sturmmeer, welches verknöchernd die Farbe fleckig auftrocknen ließ. Trotz unserer physikalischen Gelehrtheit waren wir mit der Natur des Papiers doch zu unbekannt geblieben.

Mir fiel ordentlich ein Stein vom Herzen und den andern auch; denn so wenig ich mich einer weiteren Ausführung gewachsen fühlte, so wenig wußten jene, wie und wo sie den großen Vorhang befestigen und auf welche Weise sie ihn zum Auf- und Niederrollen bewegen wollten. Es machte mir daher keiner einen Vorwurf, und nach einiger Überlegung wickelten wir unser Tableau zusammen, um es auf dem Schulboden bis zum nächsten Geburtstage zu verwahren. Bis dahin konnten sich wohl Mittel finden, es zu glätten. Die Komödie führten wir ohne Vorhang auf.

Die Kindesmörderin

Nach so mannigfaltigen Bereicherungen meiner Erfahrung sollte ich in jener instruktiven Zeit auch noch mit einem andern Genre des Ruhmes bekannt werden, nämlich mit den Künsten graziöser Gebärdung. Die berühmte Madame Hendel-Schütz war nach Dresden gekommen und erfüllte die Stadt mit Gespräch. Auch bei uns hatte sie Besuch gemacht und meinen Eltern zwei Billetts zu einer Theatervorstellung verehrt. Meine Mutter zwar, deren nüchternem Wesen dergleichen eitle Schaustellungen ebenso zuwider waren als die Person der Schaustellerin selbst, wollte keinen Gebrauch davon machen, der Vater aber ging hin, und damit das Billett nicht umkäme, nahm er auch mich mit.

Da sahen wir denn den wunderbarsten Wechsel von lebenden Bildern, zuletzt die Künstlerin selbst als selige Mutter Gottes unter einer Schar von Engeln gen Himmel fahren. Mein Vater glossierte zwar über ungemalte Gemälde, die überall so reichlich vorhanden seien, daß man sich ihrer gar nicht erwehren könne, dennoch aber ging er nach beendigter Vorstellung mit mir auf die Bühne, um seine höfliche Anerkennung auszusprechen.

In ihren leichten Himmelfahrtsgewändern trat uns die blendend schöne Frau mit prachtvoll langem, aufgelöstem Haar entgegen, umgeben von jungen Mädchen, welche die Engel gemacht hatten. Sie hatte die hübschesten Backfische der Stadt mit sicherem Griffe zusammengerafft und sie in täglicher Übung vorbereitet, was mein Vater eine Magdalenenschule nannte. Ich glaubte nie etwas Schöneres gesehen zu haben als die ganze himmlische Gesellschaft, und ganz verblüfft, wie ich war, stellte mich mein Vater der Himmelskönigin vor.

«Ja» – rief Madonna –, «das ist des Meisters Sohn!» breitete mir die Arme entgegen und schloß mich an ihr Herz. So habe ich denn, ebenso wie ich in aller Unschuld einen Ritt mit den berühmten Totenköpfen machte, auch die Umarmungen jener schönsten Frau gekostet. Ich war aber spröde wie ein Käfer und sehr zufrieden, als sie mich wieder losließ. Ich wischte mir den Mund mit der Kehrseite der Hand und starrte die hellen, jugendlichen Engel an, die mir viel besser gefielen.

Inzwischen suchte die gütige Künstlerin den Vater wegen Abwesenheit seiner Frau, die er entschuldigt hatte, zu beruhigen. Wenn ihre Freunde nicht zu ihr kämen, sagte sie, so käme doch sie zu ihnen, und gewiß sollte die Mutter nichts verlieren, da sie sich ein Vergnügen daraus machen werde, bei ihr in ihren eigenen Zimmern eine Vorstellung zu geben; und recht viel liebe, gute Menschen möge mein Vater dazu laden. Dieser deprezierte mit Eloquenz; da er aber nur Bescheidenheitsgründe hatte, so blieb endlich nichts anderes übrig, als die seinem Hause angebotene Ehre anzunehmen.

Auf dem Rückweg sagte er, die Mutter werde gewiß verreisen, wenn sie's höre. Er brachte ihr sie Neuigkeit mit zartester Schonung bei, alles ihrem eigenen Ermessen anheimstellend. Sie kam ihm aber aufs freundlichste entgegen und richtete ihre Zimmer für den Kultus jener fremdartigen Priesterin ein. Das nötige Arrangement ward bald getroffen. Unter einem Kronleuchter von Argentschen Lampen – eine neue Erfindung damals – ward ein erhöhtes Podium errichtet und mit Teppichen belegt, der grünseidene Vorhang vor dem großen Raffaelischen Bilde aber sorglich zugezogen, um einen ruhigen Hintergrund zu gewinnen, und vielleicht auch, daß die heiligen Augen des Christuskindes den Spuk nicht sähen. Zahlreiche Stühle wurden geordnet und ein Büfett durch Schirme versteckt. Die geladenen Freunde fanden sich zahlreich ein, und mit besonderer Auszeichnung ward die von ihrem Manne, dem Professor Schütz, begleitete Künstlerin empfangen; doch bat meine Mutter dringend, bei der beabsichtigten Vorstellung von jeder Mitwirkung ihrer Kinder absehen zu wollen. Zögernd und bedauernd gab Madame Hendel-Schütz nach.

Als die herrliche Gestalt das Podium bestieg, war alles Auge, und nun begannen die wunderbaren, so berühmt gewordenen Gewandwandlungen, an denen mein Vater sich aufrichtig ergötzte. Alle weiblichen Kostüme des klassischen Altertums, priesterliche und profane, vornehme und geringe, ägyptische, griechische, römische wechselten schnell vor unseren Augen in den Attitüden bekannter antiker Bildwerke, und immer war die Künstlerin höchst reizend. Jede Stellung, jeder Faltenwurf stand ihr wohl an, und selbst meine Mutter schien ihr mit wachsendem Interesse zuzusehen. Ich hing mit trunkenem Blicke an der götterartigen Erscheinung.

Da öffnete sich geräuschlos die Außentür, an der ich lehnte, so daß ich fast gefallen wäre, und herein trat, von weiten Reisen kommend, ein sehr lieber Freund unseres Hauses. Es war dies ein Privatgelehrter, namens Prztschstnowski, seines Zeichens Mineralog und Geolog und nebenbei ein großer Kunst- und Kinderfreund. Der Unaussprechlichkeit seines eigentlichen Namens wegen wurde er Prestanowski genannt, im vertraulichen Verkehr auch nur Prestano. Als er die große Gesellschaft und die befaltete Marionette auf dem Tritt sah, malte sich das dümmste Erstaunen auf seinem Gesicht; da ich ihm aber eine Erklärung zuflüstern wollte, hielt er mir den Mund zu und schlüpfte ungesehen hinter den Reihen der Zuschauer weg, sich im Büfett verbergend. Ich folgte leise nach und sagte ihm von der berühmten Person, die sich hier sehen lasse, aber er war nicht wegzubringen. Er blieb in seinem Versteck, fing an zu essen und behauptete, man sei am besten blind, wo so verrücktes Zeug vorgehe.

Die Vorstellung nahm unterdessen ihren ungestörten Fortgang. Als Sibylle imitierte die Künstlerin ein bekanntes Bild meines Vaters. Dann streckte sie sich nieder auf die Estrade, und unter ihren weiten Schleiern schienen die mächtigen Glieder einer Löwin zu schwellen: sie stellte eine Sphinx dar. Die Sphinx aber ward zur Jammergestalt einer büßenden Magdalena mit langem, aufgelöstem Haar, und diese erhob sich dann als Mater dolorosa, um sich endlich in eine heitere, strahlend schöne Himmelskönigin zu verklären. Ein Zuck und Ruck in den Gewändern, und die Verwandlung war stets vollständig vollbracht.

Gleich beim Eintritt hatte Madame Hendel-Schütz gefragt, warum das herrliche Marienbild verhangen sei, und nun, indem sie sich selbst zur Himmelskönigin wandelte, wußte sie ihre Drapierung so zu werfen – oder war es Zufall? –, daß sie den Vorhang auseinander trieb und das hohe, stille, schneeweiße Gesicht der Raffaelischen Maria über dem ihrigen hinwegschaute wie der Mond aus Wolken über einem Küchenfeuer. Das Raffaelische Gesicht war nur fingiert, das andere wirklich und wirklich schön – doch aber war dies etwas, was man sehen mußte, um sich des Unterschiedes zwischen Wahrheit und Manier recht vollbewußt zu werden. Ich begriff jetzt plötzlich etwas von dem Zorn des Trefflichen, der hinter dem Schirm saß, und selbst Professor Schütz schien so gestört, daß er herbeischlich und hinter dem Rücken seiner Frau den Vorhang leise wieder zuzog.

Nun aber geschah das Überraschendste. Die Züge der Aktrice verdunkelten sich, ihr Auge stierte. ihr Haar geriet in Unordnung, die schwereren Gewänder fielen ihr vom Leibe, und in wüstem, liederlichem Aufzug schien sie heißen Gewissenskampf zu kämpfen. Sie kniete nieder, wollte beten, aber der Himmel war verschlossen, die Hölle siegte. Da plötzlich schoß sie wie ein Lämmergeier herab auf meine kleine Schwester, packte sie, riß sie mit festem Griff vom Schoß der Mutter und sprang zurück mit ihrem Raube. In ihrem Gesichte malte sich Wahnsinn und Verzweiflung, ein Dolch blitzte auf, und das vor Schrecken halbtote Kind hing den Kopf zuunterst über dem nackten fleischigen Arm der Kindesmörderin. Das alles war das Werk von ein paar Augenblicken und diese Darstellung vielleicht die glänzendste und beste; aber meiner Mutter war's doch außer allem Spaße. Erschrocken sprang sie auf und nahm ihr Kind sanft aus den Händen der Furie zurück.

Mit solchem Knalleffekte war die Schaustellung beendet, es ward ein Butterbrot gegeben, und Prestano ging zur freudigsten Überraschung seiner Freunde ungeschädigt an Leib und Seele hinter dem Schirm hervor.

Die Folge von diesen Vorgängen war natürlich, daß ich und mein Bruder alles nachmachten. Wir übten uns in Gebärdung und Drapierung und waren bald imstande, unseren Freunden eine Vorstellung zu geben, an welcher selbst Prestano nichts auszusetzen hatte. Madonnen und Magdalenen ließen wir weg, die Sphinx aber gelang nicht übel, und ganz vortrefflich war mein dicker Bruder als Sibylle. Plötzlich sprang er jedoch aus seinen Schleiern, fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Haare, und mittelst eines räuberischen Sprunges der Schwester, die als kleinste Zuschauerin voransaß, die Puppe Salli entreißend, übertraf er sich selbst als Kindesmörderin. Ich glaube nicht, daß die Kleine bei dieser Szene weniger empfand als vordem ihre Mutter; auch schalt sie den Bruder laut und ernstlich, besonders weil er in der Tat der Puppe eins versetzt hatte.


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