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Wenn ich nun im vorigen Kapitel meiner Altersgenossen und väterlichen Freunde gedacht habe, zu denen allen ich mit einiger Bewunderung aufschaute, so wird's nun Zeit, auch von einem jüngeren zu berichten, der seinerseits zu mir aufschaute; und nur deshalb habe ich bis dahin meinen lieben Bruder Gerhard ignoriert, weil ich mich seines Eintrittes in die Familie nicht entsinne. Er taucht vielmehr in meiner Erinnerung ganz ohne Anfang auf, war da, wie auch ich da war, und schien sich ganz von selbst zu verstehen wie ein kategorischer Imperativ.
Proportioniert wie Raffaelische Kindergestalten mit starken Gliedern und vollen roten Backen, war er etwa drittehalb Jahr jünger als ich, entwickelte sich aber bei weitem kräftiger und schneller. Als er zehn Monate alt war, entdeckte man zufällig, daß er laufen konnte, und zwar ohne alles vorhergegangene Studium. Ein Fremder, der ihn seiner Größe wegen für zweijährig hielt, setzte ihn, da er ihm auf dem Schoße beschwerlich ward, ohne weiteres auf die Füße, und die erschrockene Mutter, welche glaubte, daß er fallen würde, war nicht wenig erstaunt, den kleinen Stöpsel ganz selbständig fortpilgern zu sehen.
Die Geburt dieses Bruders war übrigens wie der Aufgang eines kriegbringenden Kometen gewesen. Im Mai des Jahres 1806 hatte er das Licht der Welt erblickt, und schon im Oktober desselben Jahres übten die kriegerischen Ereignisse der Zeit den ersten Stoß auf Dresden.
Es war ein schöner Herbsttag, als mein Vater nach seiner Windbüchse langte und mit mir in den Garten ging, um Sperlinge oder anderes vogelfreie Geflügel zu erlegen, was er des öftern tat. Er war ein großer Schütze, nicht weniger mit der Büchse als mit dem Pinsel, denn ob er gleich nur mit Kugeln schoß, fehlte er sein Vögelchen nur selten.
Heute aber wollte sich keines zeigen, daher beschlossen wurde, den Garten zu verlassen und aufs Feld zu gehen, wo man bisweilen Krähen antraf. Still und wild durchschlichen wir die kleine Pforte in der Mauer und spähten ringsumher. Krähen waren nicht da – aber etwas ganz anderes nahm die Aufmerksamkeit in Anspruch. Mein Vater horchte auf; dann streckte er sich nieder auf den Feldrain und schien, mit dem Ohr am Boden, diesem ein Geheimnis abzufragen. Ich machte natürlich alles nach und empfand mehr, als daß ich's hörte, ein Zittern des Bodens, ein seltsames dumpfes Dröhnen, das sich periodisch wiederholte.
«Das sind Kanonen», sagte der Vater, warf die Büchse auf den Rücken und ging mit mir zur Mutter.
Es war eine große, verhängnisvolle Schlacht, deren fernes Grollen wir vernommen hatten: die Schlacht von Jena. Bald kannte man das Resultat in Dresden, und der erschrockenen Bevölkerung ward Plünderung angesagt durch ein im Anmarsch begriffenes Korps von Bayern.
Da hielten meine Eltern sich in ihrer exponierten Wohnung nicht mehr sicher und beeilten sich, inmitten der Altstadt ein anderes Logis zu mieten, welches an der Kreuzkirche gelegen war. Ich war beim Vater, der im neuen Hause die von der Mutter fortwährend expedierten Sachen empfing und ordnete. Da man indessen bei dem allgemeinen Trubel wenig auf mich acht hatte, so konnte es geschehen, daß ich plötzlich fort war.
Mein Vater glaubte, ich sei nach Hause gelaufen, und als er mich dort nicht vorfand, beauftragte er die Packträger, mich zu suchen, durchrannte in seiner Besorgnis auch selbst die Stadt nach allen Richtungen. In der Tat mag seine Verlegenheit nicht ganz gering gewesen sein. Ich konnte Schaden nehmen, der Umzug geriet ins Stocken, und Hannibal stand vor den Toren. Wenn er daher gesonnen war, mich mit ein paar tüchtigen Ohrfeigen zu begrüßen, so war das wohl erklärlich. Als er mich aber endlich auf dem Neumarkt fand, und zwar laut singend und vor Entzücken über das Durcheinander von Vieh und Menschen in die Hände klatschend, fing er an zu lachen und hatte mir die Desertion verziehen.
Es war indes nichts weniger als ungünstig gewesen, daß unser Umzug sich durch diesen Zwischenfall verzögert hatte, da er überhaupt nun unnütz wurde. Der Kurfürst hatte sich mittlerweile beeilt, in Napoleons Bundesgenossenschaft einzutreten, und die erwartete bayerische Kavallerie zog friedlich ein.
Mir schenkte damals Onkel Lais eine als bayerischen Ulanen kostümierte Puppe, gar vollständig und schön mit der ganzen Armatur. Mein Vater aber erlaubte mir, diesen Balg zu töten als einen Franzosenfreund und lieh mir dazu seinen Stocksäbel, mit dem er auch zerhauen wurde. Unendlich viele Kleie strömte zu meiner Verwunderung aus den Wunden. Solche Begebenheit ist gefeiert worden auf einem lebensgroßen, mich und meinen unvordenklichen Bruder darstellenden Bilde, welches mein Vater in jener Zeit malte und ich noch besitze. Der Bruder ist sitzend auf einem Kissen abgebildet, ein ausgestopftes Lämmchen, das sein Entzücken war, an die Brust drückend. Ich dagegen stehe hinter ihm, entschlossen, den Bayern mit einem ungeheuren Säbel abzutun.
Es schien, als ob mein guter Vater damals durch doppelt angestrengten Fleiß die Unruhe zu beschwichtigen gesucht hätte, die ihm das Schicksal seines deutschen Vaterlandes machte, denn fast gleichzeitig mit jenem Familienbilde führte er noch mehrere große akademische Stücke aus, deren allgemeine Anerkennung ihn in die erste Reihe der Künstler seiner Zeit stellte. Als Richtmaß und Regulatoren für seinen Geschmack benutzte er die ungewöhnlich reichen Dresdner Sammlungen, in denen er seine Augen häufig stärkte, und wo er Natur brauchte, bediente er sich eines schönen jungen Mannes von den Gardegrenadieren, den ich ebenfalls zu meinen nächsten Freunden zählte. Er hieß Talkenberg, und weil er sich gescheit und anhänglich zeigte, wurde er, soweit sein Dienst es gestattete, auch zu andern Dingen verwendet und gab den Aufwärter in unserem Hause ab.
Mir gefiel dieser Mars sehr wohl wegen seines freundlichen Gesichtes, seiner scharlachroten Uniform und blank geputzten Waffen, so daß ich mich stets freute, wenn ich ihm zum Behufe des Spazierengehens anvertraut ward. Er nahm mich dann gesellig bei der Hand und, neben ihm hertrabend wie eine Bachstelze neben einem Reiher, war ich stolz auf meinen herrlichen Begleiter, der mir lustige Geschichten erzählte, mich Steine werfen lehrte und Sperlinge mit Salz beschleichen. Weniger schmeichelhaft war seine Neigung, sich auf die Finger zu spucken und Katzenwäsche mit mir anzustellen, wenn er mich an Händen oder Gesicht beschmutzt sah. Da ich dies aber Leno klagte, in die er sehr verliebt war, nahm sie ihn dergestalt ins Gebet, daß er in sich schlug und fortan von solchem Laster abstand.
Bald nach dieser mir erwiesenen Wohltat schied das gute Mädchen für Niemalswiedersehen aus unserem Hause. Meine Mutter hatte sie einst von ihrem Vater als Leibeigene zum Geburtsgeschenk erhalten, sie sorgfältig für ihren Stand erzogen und sie immer als zur Familie gehörig betrachtet, wie denn überhaupt in angestammter Leibeigenschaft ein Band zu liegen scheint, das leiblicher Verwandtschaft ähnelt. Es ging ihr wohl bei uns, und gesetzt, dies wäre nicht der Fall gewesen, so war sie in Sachsen immer in der Lage, sich loszuketten, denn sie stand hier unter dem Schutz eines Gesetzes, das von Sklaverei nichts wußte. Auch fehlte es ihr keineswegs an Freunden, die jeden Augenblick geneigt waren, Gut und Blut mit ihr zu teilen, da nicht allein Talkenberg ihr den Hof machte (was wenig sagen wollte), sondern auch ein paar achtbare Handwerker, die für unser Haus arbeiteten, keinen Anstand nahmen, wiederholt um sie zu werben.
Wunderlicherweise aber schlug sie alles aus und hatte nur den einen und einzigsten Gedanken, nach Estland zurückzukehren, wo sie wieder Sklavin geworden wäre und nicht einmal mehr Angehörige hatte, denn sie war als elternlose Waise auf den Harmschen Hof gekommen. Leno war eben heimwehkrank geworden und drohte jener aller Vernunft spottenden Sehnsucht zu erliegen, die um so heftiger ist, je weniger Grund sie hat, indem sie vorzugsweise die Bewohner wilder und unfruchtbarer Gegenden anpackt. Nicht nur Schweizer, auch Finnen, Lappen, Kamtschadalen und Eskimos, das sind die Leute, die bei uns im Mittelpunkte der Zivilisation vor Heimweh sterben, während Deutsche in den rohsten Ländern prosperieren. So zeichnen sich auch die Esten durch eine krankhafte Abhängigkeit von den Einflüssen ihres abgelegenen Landes aus, das, etwa wie Dänemark für die Dänen, für sie die Welt ist oder das All und daher auch gar keinen Namen hat. Der Este nennt sein Land ganz einfach «Me», das heißt überhaupt Land, hier das Land der Länder, so wie die Bibel auch keinen anderen Namen hat als das Buch, weil sie das Buch der Bücher ist.
Nun war mein Vater zwar nur für kurze Zeit nach Deutschland gekommen, und obgleich sein Aufenthalt sich unerwartet verlängert hatte, war doch die Idee, demnächst zurückzukehren, nichts weniger als aufgegeben. Die Eltern lebten in Dresden gewissermaßen auf reisendem Fuße, und von der Rückreise war stets die Rede. Ja, mein Vater hatte sogar schon seinen strohgelben Wagen durch den auf der Seegasse wohnenden – als Astronom wie als Wagenbauer gleichberühmten – Sattlermeister Eule vergrößern und in eine viersitzige Karosse umwandeln lassen, um für die anwachsende Familie Raum zu schaffen. Da nötigte ihn der Krieg in Preußen, die projektierte Reise wieder aufs Ungewisse hinauszuschieben.
Leno, mit dem Bohrwurm ihres Heimwehs am Herzen, hatte eben wie wir anderen den neuen, jetzt dotterfarbigen Wagen in Augenschein genommen und geprüft. Sie hatte sich auf den Bock geschwungen und mit dem ganzen Gesicht geleuchtet, als blicke sie schon ins Land der Länder. Aber als meine Mutter ihr nun ankündigen mußte, daß so bald nichts aus der Reise werden könne, war sie in ihrem Gemüt und Wesen wie zerbrochen und machte ernstlich Sorge. Der armen Mutter selbst mochte es kaum weniger schmerzlich sein, ihren liebsten Wünschen zu entsagen; aber sie schickte sich in die Notwendigkeit und fand für ihre Leno einen Ausweg.
Meine Eltern verkehrten damals häufig mit einer livländischen Familie von Löwenstern, die ein Landhaus in Brießnitz bewohnte. Wenn wir bei ihnen waren, gab es immer allerlei Lustbarkeiten, kleine Elbfahrten, Illumination des Gartens, Feuerwerk und dergleichen Dinge, die ganz meinen Beifall hatten. Meiner nahmen sich dann besonders die Töchter des Hauses an, schöne junge Mädchen, die mich mit Süßigkeiten stopften und mit mir spielten. Mit ihnen entsinne ich mich eines Abends ein seltenes Phänomen gesehen zu haben. Es war schon dunkel, als wir vor der Terrasse des Hauses, tief unter uns auf den Elbwiesen, kleine herumschlüpfende Lichter bemerkten, sechs Flämmchen, die bisweilen paarweise, dann wieder auseinanderfahrend, lustig umherschweiften, und zwar mit einer Schnelligkeit wie laufende Menschen. Das seien Irrlichter, sagten die Mädchen, die sähen sie hier öfter. Sie erklärten mir auch die Sache, so gut sie konnten, und sprachen von «fixer Luft», über welchen Ausdruck ich sehr lachen mußte; doch begriff ich schon, daß fixe Luft etwas Apartes sein müsse. Wenn wir uns nicht täuschten, sind dies die ersten und letzten Irrlichter gewesen, die mir in meinem Leben vorgekommen sind.
Löwensterns nun sahen sich genötigt, trotz Krieg und Kriegsgeschrei nach Wolmarshoff, ihrem Stammsitz in Livland, zurückzugehen, und da Frau von Löwenstern zufälligerweise in Verlegenheit um eine Jungfer war, so lag es nah', ihr Leno anzubieten. Meine Mutter wollte diese jedoch nur als freies Mädchen in fremde Hände geben und überraschte sie daher bei ihrem Abzug mit einem in aller Form Rechtens ausgestellten Freibrief.
Daß es Fälle gibt, wo die Erfüllung unserer heißesten Wünsche uns doch aufs schmerzlichste berührt, hätt' ich hier lernen können, denn das arme Mädchen weinte bitterlich, als es unser Haus verließ, und ich und meine Mutter weinten auch. Talkenberg aber begleitete sie, ihre Effekten tragend, zu ihrer neuen Herrschaft. Hier nahm er Gelegenheit, sie bis zu ihrer Abreise noch ab und zu zu sehen, dann aber ging er hin, betrank sich und schmetterte ingrimmig, wie er war, dem Posten an der Hauptwache eine faule Birne ins Gesicht, wofür er zu meinem Leidwesen Stockprügel und Arrest erhielt. Leno fand übrigens ihr Glück in ihrer Heimat. Sie blieb nur kurze Zeit bei Löwensterns und heiratete dann einen wohlhabenden deutschen Bürgersmann in dem Städtchen Wolmar, mit dem sie ein zufriedenes Leben führte.
Die gerichtliche Ausfertigung des obengenannten Freibriefs hatte meine Eltern in Berührung mit einem Manne gebracht, der bald nebst seiner ganzen Familie zu den besten Freunden unseres Hauses zählte. Dies war der Hofrat Näke, Chef des Dresdner Justizamtes, ein guter, treuer Mensch und sehr geachteter Beamter. Von ihm erzählte man sich folgendes:
Näke stand in früheren Jahren als Justitiarius in Freiberg, war lange Junggesell geblieben und wegen der amtlichen Erfahrungen, die er in Ehesachen gemacht, bei dem Entschlusse angelangt, auch Junggesell zu bleiben. Wie ist es möglich – mochte er denken –, sich für sein ganzes Leben blindlings an ein Ding zu ketten, das man nicht kennt, genau genommen niemals gesehen hat; denn daß die Liebe blind macht, wußten schon die Heiden. Und bliebe man denn wenigstens noch blind; aber zur Unzeit gehen einem doch die Augen auf, und man findet sein Täubchen als Geier wieder, der einem die Leber abfrißt.
Nun trug sich's zu, daß dieser Ehrenmann an einem Weihnachtsabend aus der Kirche kam. Ein kalter Schneesturm tobte durch die Gassen Freibergs, daß man kaum aus den Augen sehen, kaum atmen konnte, daher sich Näke fest in seinen Pelz gewickelt hatte. Wie er nun dem Unwetter entgegen gedankenlos so vor sich hinkämpfte, mochte es sich zutragen, daß sein Blick für einen Augenblick vom Schnee und Eise frei ward: kurz, er bemerkte ein kleines, notdürftig gekleidetes Mädchen, das, vom Sturm um und um gedreht, sich in hilflosester Lage befand. Das Kind hatte, sein Gesangbüchelchen unterm Arme, die Hände in die Schürze gewickelt und schien sich vergebens anzustrengen, gegen die Gewalt des Wetters standzuhalten. Hunderte von Kirchgängern wirbelten teilnahmslos vorüber; unser Freund aber, der trotz seiner abgeschmackten Ehestandsbegriffe doch ein gutes Herz hatte, griff zu, schlug seinen Pelz um die Kleine und führte sie halb, halb trug er sie nach der entlegenen Wohnung, die sie ihm angab. Das Mägdlein war vom Frost so durchgeschüttelt, daß sie kaum reden konnte, doch fühlte Näke ihren Dank auf seiner Hand, die sie mit Inbrunst küßte.
Das arme Würmchen! am heiligen Abend so zu frieren! – Der menschenfreundliche Beamte schickte ihr auf der Stelle zum Weihnachtsangebinde einen Mantel und einen Stollen. Da kam sie denn am andern Morgen, sich zu bedanken – ein überraschend hübsches Mädchen – und war so zutraulich, so niedlich und bescheiden, daß Näke, der sich in eine längere Unterhaltung mit ihr eingelassen, den Vorsatz faßte, sich der elternlosen Waise, die bei unbemittelten Verwandten an allem Mangel litt, tatkräftig anzunehmen. Er setzte sich mit jenen in Vernehmen, und man gestattete es mit Freuden, daß er sein Pflegetöchterchen in einem anständigen, ihm befreundeten Hause unterbrachte und jede weitere Sorge auf sich nahm. Von jetzt an sah sie Näke täglich, leitete selbst ihren Unterricht und schloß die Kleine, welche mit unbegrenzter Liebe und Verehrung an ihrem Wohltäter hing, dermaßen in sein Herz, daß ihm der Gedanke unerträglich wurde, jemals wieder von ihr getrennt zu werden.
Dazu gab es aber nur ein einziges Mittel, und er ergriff es. Als das Töchterchen herangewachsen war, schlug Näke seine Junggesellenweisheit in die Schanze und machte sie zu seiner Frau. Es hat ihn das auch niemals gereut, denn nun wurde sie erst recht zum Stern seines Lebens und lehrte ihn die Möglichkeit von guten Ehen.
Als meine Eltern mit ihm bekannt wurden, war Näke bereits ein Greis, seine Frau aber in noch rüstigen Jahren und immer noch recht hübsch, obgleich sie fünf zum größeren Teile schon erwachsene Kinder hatte, zwei Töchter und drei Söhne. Der Umstand endlich, daß der zweite, sehr talentvolle Sohn, mit Namen Heinrich, sich zum Maler bildete, vermehrte noch die Beziehungen des Näkeschen Hauses zu dem unseren.
Überhaupt mochte die damalige Periode in geselliger Beziehung eine der angenehmsten im Leben meiner Eltern sein. Ohne Zwang und Gene verkehrten sie auf herzliche Weise mit den vorzüglichsten und interessantesten Leuten, meist Fremden, die sich zu jener Zeit in Dresden aufhielten, und wie würdig sie eines solchen Umgangs waren, beweist der Umstand, daß fast alle, mit denen sie in Berührung kamen, ihnen auch fürs Leben Freunde blieben.
Ich nenne hier den bekannten Adam Müller, der damals im Verein mit Schubert und Böttiger die schöne Welt mit tiefsinnigen Vorlesungen erbaute, – den liebenswerten Theologen Köthe, Schuberts intimsten Freund, den geistreichen Rühle von Lilienstern, – die Geologen Moritz von Engelhard und Karl von Raumer und den störrigen Wanderer Seume, der zwar eigentlich in Leipzig wohnte, den Weg von da nach Dresden aber als Spaziergang ansah und schneller als die Post zu Fuß durchschritt.
Außer diesen sehr bekannten Männern erinnere ich mich noch mancherlei anderer, weniger namhafter Freunde aus jener Zeit, unter denen ich hier nur noch zweier gedenken will: des Bildhauers Ulrich, der durch ein sonderbares Abenteuer unvergeßlich wurde, und des durch abenteuerliche Sonderbarkeiten aller Art bemerkenswerten Philosophen Dr. Wetzel.
Ulrich, der des Abends viel in unserem Hause war und gern etwas über die Zeit blieb, hatte die Unart an sich, wenn er zur Nachtzeit durch die öden Straßen ging, sein Liedchen, wie ein Gassenjunge, vor sich hin zu pfeifen, und zwar so vernehmlich, daß die anwohnenden Leute aus dem Schlafe fuhren. Da er nun eines Abends spät von uns nach Hause schlenderte und, nach seiner Gewohnheit überlaut pfeifend, die Schloßgasse passierte, geschah es, daß ihm, sehr unvermutet, eine mondsüchtige Person auf den Kopf fiel, oder vielmehr in seine unwillkürlich ausgebreiteten Arme, und ihn zu Boden riß. Es sei gewesen, erzählte er, als er andern Tages krank lag, als wenn einer von einer Bombe getroffen werde, nur mit dem Unterschiede, daß diese nicht krepiert wäre, und er auch nicht. Das unglückliche Mädchen hatte, ganz harmlos nachtwandelnd, oben an den Dachrinnen herumgespukt und war durch den Lärm, den Ulrich mit seinem Pfeifen machte, erwacht und herabgestürzt.
Was endlich den Philosophen Wetzel anlangt, der, wenn ich nicht irre, durch Schubert eingeführt war, so erregten seine Eigentümlichkeiten meiner guten Mutter mancherlei Bedenken. Das Studium des Altdeutschen war damals sehr in Aufnahme gekommen, und Wetzel hielt es für nötig, unsere moderne Sprache, die er ausgeartet fand, möglichst auf ihre geschichtlichen Anfänge zurückzubiegen. Es sei an der Zeit, fand er, den eigentümlichen Genius des vaterländischen Idioms wieder freizumachen, und hierin müsse jeder anderen mit gutem Beispiel vorgehen. Er drückte sich daher oft so urdeutsch aus als von Tronje Hagen oder der Spielmann Volker und wollte auch anderen die moderne Redeweise nicht leicht gestatten. Da jemand zum Beispiel von der Sonne sprach, fuhr er sogleich dazwischen: dies heroische Gestirn heiße ursprünglich und nach reiner Redeweise «Sunno» und sei männlichen Geschlechtes; es zum Weibe zu machen sei unverantwortlich, und man müsse sagen: der Sunno scheint. – Nicht weniger befremdlich war es der Mutter, daß Wetzel seine würdige Frau nie anders nannte als «Henne» und sein niedliches Töchterchen «Forelle». Er dagegen behauptete, unsere gewöhnlichen Taufnamen seien gar zu albern und hätten nicht die geringste Bedeutung. Unter Amalie, Charlotte, Luise, Franz und Balthasar, und wie die Leute alle hießen, könne sich kein Mensch was denken. Namen müßten das Ding bezeichnen, gewissermaßen abmalen, und wenn er seine Frau nenne, so hätte jedermann damit ein treues Bild ihres Wesens und ihrer Beschäftigungen, wie denn auch seine Tochter eine veritable Forelle sei. Meine Mutter fand das alles, von dem Sunno bis zur Forelle, nicht wenig abgeschmackt und stand deshalb in einem fortwährenden kleinen Kriege mit dem gelehrten Herrn, während es dem duldsameren Vater zweifelhaft blieb, ob man nicht jedem volle Freiheit lassen dürfe, sich nach Belieben auszudrücken und seine Kinder zu benennen, wie ihm es gefiele.