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Trotz aller Fährlichkeiten waren wir glücklich in Dresden angelangt, und ein reicher Abschnitt meines Jugendlebens lag hinter mir: die ganze Schulzeit mit ihrem verworrenen Wechsel von Anstalten und Lehrern, weltgeschichtlichen Begebenheiten und kindischen Abenteuern, die schöne Zeit, da man gewissermaßen zwecklos in den Tag lebt und, wie ein Reicher, kaum etwas anderes im Auge hat als den Genuß. Ein neues Leben sollte jetzt beginnen, zwar immer noch ein Schülerleben, aber doch mit deutlicher erkennbaren Zwecken. Wenn ich als kleines Kind Garn wickeln mußte, so wußte ich nicht, warum, und hatte weiter nichts davon, als daß ich nicht faul genannt wurde. Dann kam die Schulzeit mit allen ihren mannigfachen Lernobjekten, mit denen ich mich nur deshalb abmühte, um leidliche Zensuren heimzubringen. Was ich jetzt lernen sollte, war anderer Natur, es sollte mich befähigen, dereinst mein eigenes Brot zu essen und möglicherweise jene Höhen des Ruhmes und der Freiheit zu ersteigen, auf welche Professor Sachse mich hingewiesen hatte. Das schienen edlere Zwecke, und ich freute mich auf die neue Arbeit und ihre Früchte.
Die Königliche Akademie der Künste, an hervorragendster Stelle der Stadt auf der Brühlschen Terrasse gelegen, war seit meiner Kindheit ein Gegenstand der Verehrung und des Verlangens für mich gewesen. Wie oft hatte ich im Vorübergehen nicht aufgeblickt nach diesen hohen Fenstern, hinter denen olympische Gestalten von Göttern und Heroen sichtbar wurden, und hatte die jungen Leute glücklich gepriesen, die berechtigt waren, so frank und frei dort ein und aus zu gehen wie ich in meiner Schule. Jetzt hatten sich auch mir diese Hallen geöffnet, und wer sich gerade auf der Terrasse befand, mochte es mit Augen sehen, wie ich, die Zeichenmappe unter dem Arm, als Berechtigter hineinschritt und niemandem dafür zu danken brauchte. Die vorüberspazierenden Herren und Damen konnten mir dann ordentlich leid tun, daß sie es nicht auch so machen durften.
Ich war vorerst in die unterste Klasse eingetreten, den sogenannten Zeichensaal. So hieß diese Gelegenheit, nicht weil dort Zeichen und Wunder geschahen, und ebensowenig weil dort gezeichnet wurde, denn weiter geschah auf der ganzen Akademie nichts, sondern unser Zeichensaal hieß Zeichensaal, wie etwa Potsdam Potsdam heißt: – weil er keinen anderen Namen hat. Es war dies aber die Elementarklasse der Akademie, welche ihre Schüler bis zu einem gewissen Grade des Richtigsehens und einiger Fertigkeit der Hand im Gebrauch der Kreide fördern sollte. Letzteres war für mich, dem es an sonstiger Vorübung nicht fehlte, die Hauptsache: ich sollte hier schraffieren lernen. Zwar hätte mein Vater, der die Kreide besser als sämtliche Lehrer der Akademie zu handhaben wußte, mir diese Vorklasse ersparen können, wenn er mich selbst in die Schule genommen hätte, aber abgesehen davon, daß ihm hierzu die Geduld fehlen mochte, hielt er es auch für zweckmäßiger, daß ich mich gleich von vornherein in eine Manier einarbeite, von welcher er voraussetzte, daß sie die herrschende in allen Klassen sei. Hierin irrte er indessen, denn gerade im Zeichensaale herrschte nichts weniger vor als eine bestimmte Manier. Es ward nach Handzeichnungen der verschiedensten Meister gearbeitet, welche den Stift auf die verschiedenste Weise gehandhabt hatten, mit geraden, krummen, langen oder kurzen Strichen, wie es jedem genehm gewesen. Dazu hatten einige unterwischt und überschraffiert, andere unterschraffiert und überwischt, noch andere gar nicht gewischt oder gar nicht schraffiert, und immer sah das Ding ganz anders aus.
Diese Mannigfaltigkeit verwirrte mich. Zwar konnte ich mir die Meister wählen, wie ich wollte, aber heute gefiel mir dieser, morgen jener besser, und fast täglich schrieb ich andere Hände ab, ohne mir doch irgendeine zu eigen machen zu können oder dies auch nur zu wollen. Im Grunde begeisterte mich keins dieser Originale, und am liebsten hätte ich gezeichnet wie mein Vater, wenn das so angegangen wäre.
Doch aber sollte ich schraffieren lernen! Da war ich denn bisweilen ratlos, und die Aufgabe türmte sich wie ein Gebirge vor mir auf, das während des Ersteigens immer höher wird und das ich dennoch schneller zu überwinden hatte als alle übrigen, denn das bäte er sich aus, hatte mir der Vater gesagt, daß ich in einem halben Jahre die ganze Akademie überflügelt haben müsse. War das auch Spaß, so verstand ich doch die Meinung, daß etwas Tüchtiges von mir erwartet werde, und quälte mich rechtschaffen von früh bis spät mit der verwünschten Aufgabe des Schraffierens, das endlich sogar meine Träume vergiftete.
Warum, dachte ich, muß doch das erste gleich das schwerste sein? Denn wie kinderleicht das letzte, das Malen, von der Hand ging, konnte ich in meines Vaters Werkstatt täglich mit Augen sehen. Als ich noch unter Eduards lautem Beifall meine Kartons entwarf, Propheten und dergleichen, hielt ich das Zeichnen für eine angebotene Kraft, für ein Naturgeschenk, das nicht erlernt, nur geübt zu werden brauche, und jetzt war ich oft so mutlos, daß ich, wenn ich von der Brühlschen Terrasse in den Zeichensaal einschwenkte, die glücklich vorüberspazierenden Leute um ihr Unvermögen, mir zu folgen, fast beneiden konnte.
Inzwischen mochten meine Lehrer nachsichtiger urteilen als ich selbst oder weniger, als ich erwartet hatte, auf die technische Fertigkeit des Schraffierens geben – genug, ganz wider Erwarten ward ich schon zu Michaelis, und noch dazu mit einem kalligraphischen Belobigungsschreiben in folio, in die zweite Klasse, den Gipssaal, aufbefördert. Nur ein freigesprochener Lehrjunge mag ermessen, was ich empfand; denn nun erst war ich vollberechtigter akademischer Bürger und stand den Schülern der oberen Klassen gleich, jenen stolzen Jünglingen, die, mit Zeichenschülern keine Gemeinschaft haltend, mich vordem keines Blickes gewürdigt hatten. In der Freude meines Herzens zerschnitt ich das Belobigungsschreiben zu Fidibus, wie sie nicht jeder aufzuweisen hatte, und zündete meine Sonntagspfeife mit der eigenhändigen Unterschrift Sr. Exzellenz des königlichen Intendanten aller Kunstinstitute, des Grafen von Vitzthum, an.
Leichtsinnig freilich war es, das Schwerere so jubelnd zu ergreifen, wo schon das Leichtere zu schwer gewesen war; aber ich dachte, nach Gips, der keine Striche vorschreibt, werde sich das Schraffieren vielleicht von selber machen. Und siehe da: es machte sich, denn im Gipssaale ward gar nicht schraffiert; dies Genre der Behandlung war hier völlig antiquiert.
Von meinen Mitschülern ward ich sogleich in die Schule genommen und will gern bekennen, daß ich ihnen das meiste von dem später im Gipssaal Erlernten zu danken hatte, denn die mit der Korrektur betrauten Professoren bekümmerten sich nur wenig um uns – ob aus Bequemlichkeit, oder weil sie uns als unverbesserliche Besserwisser bereits aufgegeben hatten, kann ich nicht sagen. Wir waren freilich nicht ganz unberührt geblieben von jenem aufsässigen Geiste, der damals Wissenschaft und Kunst zu neuem Leben weckte, von dem Geiste der Treue und des nüchternen Aufmerkens auf das, was die Objekte wirklich zeigten, während die Mehrzahl unserer Lehrer weniger, was sie sahen, als was sie wußten, darzustellen suchten. Wie einer sich die Formen angewöhnt, so wurden sie ohne sonderliche Rücksicht auf die Eigentümlichkeiten des Originals in unsere Zeichnungen einkorrigiert und ebenso blindlings Licht und Schatten bloß nach allgemeinen Rundungsprinzipien hinzugetan. Der gefürchtetste dieser Korrektoren, Professor Pochmann, ging sogar so weit, in Gipszeichnungen schwarze Augäpfel und dunkelhaarige Locken mit beleckter Naturkreide auf unauslöschliche Weise einzugraben, indem er uns überließ, dergleichen malträtierte, aller weiteren Ausführung unfähig gewordene Blätter wegzuwerfen. Wir sahen uns daher genötigt, vor Eintritt des Herrn Professors unsere Zeichnungen zu verstecken und bloße Scheinarbeiten bereitzuhalten, an denen die Wut der Korrektoren sich ohne Schaden auslassen konnte.
Unter solchen Umständen war es nur löblich, wenn wir den Mangel fördersamen Unterrichts durch gegenseitige Aushilfe zu ersetzen suchten. Von allen hergebrachten Regeln abstrahierend, wollten wir nur machen, was wir wirklich sahen; und was einer etwa nicht sah, sah doch der andere. So konnte sich mittelst des Einflusses einzelner Talente eine eigentümliche Manier des Zeichnens ausbilden, welche ihre Vorzüge hatte, freilich aber durch allzu mechanisches Verfahren in den entgegengesetzten Fehler der älteren Schule verfiel. Anstatt nämlich mit der Anlage des Ganzen zu beginnen und von diesem zum Einzelnen abzusteigen, machten wir es umgekehrt. Mit irgendeinem hervorragenden Punkte, etwa der Nase, wurde angefangen und dieser Teil mit Hilfe des Senkels, gedachter Winkel und jeder am Originale möglichen Messung vorerst im Umrisse vollendet. Nachdem die Nachbarn solchen Anfang kritisch durchgesehen und approbiert hatten, fand man, von hier aus weitersenkelnd, -winkelnd und -messend, die zunächstliegenden Teile, und so kam endlich, zwar sehr langsam, aber sicher, der detaillierteste, bis auf jede einzelne Locke genau vermessene Umriß des ganzen Kopfes zustande. Die weitere Ausführung wurde auf ähnliche Weise beschafft, die Umrisse der Schatten und Halbschatten genau bezeichnet und dann, von den tiefsten Schwärzen ausgehend, mit einem in Kreidestaub getauchten Lederwischer wie mit einem Pinsel ausgefüllt. Ein so angelegter Kopf glich, weil die verschiedenen Schattentöne, obschon in ihrem ganzen Werte, doch ohne Verbindung nebeneinander standen, einer reinlichen Mosaikarbeit und tat aus der Ferne schon seine Wirkung. Mit ungemeiner Lust legte man dann die letzte Hand an, glich die Härten aus und hatte ein Werk geschaffen, dessen Naturtreue überraschte.
Diese Art zu zeichnen hatte, abgesehen von der rein objektiven Weise des Verfahrens, noch den Nebenvorteil, daß die Arbeit sich nie verwirrte, in jedem Stadium gut aussah und allezeit die volle Arbeitslust erhielt; sie hatte aber den Nachteil, daß sie nur auf tote Gegenstände anzuwenden war, daher wir uns ziemlich ratlos finden mußten, wenn uns statt eines Gipsabgusses das lebendige Leben entgegentrat. Wir lernten nicht auffassen, sondern nur nachschreiben, und indem wir grundsätzlich nicht schraffierten, weil keine Striche im Gips zu sehen, sondern uns ausschließlich nur des Wischers bedienten, gelangten wir nur unvollständig und langsam zu einigem Formverständnis. Die spärlichen Warnungen der Professoren blieben ebenso unberücksichtigt als ihre Korrekturen, und da wir in der Tat auf unsere Weise etwas leisteten, so ließ man uns gewähren.
Übrigens wurde angestrengt gearbeitet, trotz mancherlei Allotrien, die mit Singen, Balgen und anderer Kurzweil unterliefen, und nur sehr wenige waren es, die sich erlaubten, die volle Arbeitszeit nicht einzuhalten. Diese währte von sieben Uhr früh bis abends sieben, mit Ausnahme der Mittagsstunden, und wurde, wie's die Jahreszeit hergab, bei Tages- und Lampenlicht allein mit Handhabung der Kohle und des Wischers ausgefüllt. Die einzige Veränderung in diesem Einerlei der Tätigkeit lag in dem Wechsel der Gegenstände und des Lokales, da nicht allein die Sammlungen der Akademie, sondern auch die sehr viel reicheren der Mengsschen Abgüsse und des Antikenkabinettes zu benutzen waren. Für praktische Übung des Auges und der Hand war somit wohl gesorgt; wissenschaftliche Unterweisung dagegen fehlte gänzlich, mit Ausnahme eines einzigen Kollegs, welches der Direktor der chirurgischen Akademie, Professor Seiler, von Zeit zu Zeit im anatomischen Theater eigens für Maler las. Dieser am Kadaver selbst vollzogene Unterricht aber war dafür auch vom entschiedensten Interesse, da die mancherlei Rätsel, welche den Blick eines Anfängers beim Studium des Nackten zu verwirren pflegten, hier die einfachste und verständlichste Lösung fanden. Zum richtigen Sehen genügt das Auge nicht allein, der Verstand muß mitsehen, und wenn man auch nichts darstellen soll, als was zutage liegt und was man wirklich sieht, so sieht man doch erst da recht wirklich, wo man den Grund der Erscheinung kennt. Je deutlicher und je vollständiger aber gesehen wird, je deutlicher wird sich auch dasjenige enthüllen, worauf es bei künstlerischem Sehen vorzüglich ankommt, nämlich die Schönheit. Mir wenigstens kam bei fortgesetzter Übung meines durch wachsende Kenntnis sich mehr und mehr rektifizierenden Auges auch die unendliche Schönheit meiner Objekte, nämlich der herrlichen Gebilde antiker Kunst, von Tag zu Tag mehr zum Bewußtsein. Zwar war ich weit entfernt, schon jetzt das Gesehene nach seinem vollen Wert zu würdigen, aber schon das Wenige, was der Schülerblick erkannte, war reichlicher Gewinn. Mit steigender Begeisterung für die Schöpfungen der Alten zeichnete ich nach ihren Meisterwerken, meine Phantasie erfüllte sich mit Bildern des befriedigendsten Ebenmaßes, und wenn ich des Abends die Augen schloß, umstanden mich die göttergleichen Gestalten antiker Plastik, in deren Anschauen ich entschlummerte. Wie glücklich ist doch dieses erste Erwachen einiges, wenn auch noch so geringen Verständnisses für Schönheit – ohne Zweifel eine der lieblichsten Perioden in jedem Künstlerleben.