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Die politischen Ereignisse gingen ihren Gang und wurden in unserem Hause aufs lebhafteste besprochen. Zwar las mein Vater keine Zeitung, weil er keine Zeit dazu zu haben meinte; unser Hausarzt aber und treuer Freund, der Dr. Pönitz, las dafür jede. Er war, wie viele seiner Fachgenossen, ein lebendiges Tageblatt und kam zur Zeit und Unzeit, das Haus mit Nagelneuestem zu alarmieren.
Meine Eltern hatten die kolossalen französischen Armeen, geführt von den größten Feldherren der Zeit, nicht ohne Besorgnis nach Rußland ziehen sehen; daß aber dies riesige Reich so rasch und fast im Umsehen erobert werden würde, hatten sie sich nicht träumen lassen. In der Dresdener Hofkirche ward ein Tedeum nach dem anderen abgesungen zur Verherrlichung der siegreichen Fortschritte des großen Kaisers, bis endlich der Sturz des altehrwürdigen Moskau die Alleinherrschaft Napoleons über den Kontinent zu begründen schien.
Nichtsdestoweniger baute meine Mutter noch auf Alexanders kaiserliches Wort, daß er nicht Frieden schließen werde, solange sich ein feindliches Bajonett auf russischer Erde zeige. Allein der Vater meinte, Napoleon sei jetzt Herr in Rußland, und der Friede werde sich ganz von selber schließen, eine Aussicht, die trostloser als jeder Krieg schien.
Da brachte der getreue Pönitz, anfänglich zwar nur als unverbürgtes Gerücht, die sich bald bestätigende Nachricht von dem schauerlichen Brande Moskaus. Man kannte den Hergang jedoch nicht und wußte nicht, ob man dies Ereignis zum Vorteil oder Nachteil deuten solle, bis ein Brief aus der fernen Heimat meiner Mutter den Weg zu uns gefunden und von dem Aufschwunge der öffentlichen Meinung wie von der Siegeszuversicht erzählte, welche infolge jenes Brandes ganz Rußland belebe und alle Stände zu jedem Opfer begeistere.
So durfte man denn wieder hoffen. Es war nicht unwahrscheinlich, daß solche Entschlossenheit Erfolge haben müsse, und diese Hoffnung schien sich denn auch bald in allerlei Gerüchten zu realisieren, die sich mit Eintritt des Winters häuften und rasch von Mund zu Munde flogen. Jetzt wußte Pönitz viel zu sagen von ernstlichen Verlegenheiten der großen Armee, von Hunger, Frost und Blöße, von schrecklicher Bedrängnis, unglücklichen Gefechten, Rückzug und Flucht, und immer lauter und kecker wurden die Gerüchte, obschon die offiziellen Berichte noch längere Zeit zu täuschen suchten. Gewisses war nicht zu erfahren, und die Spannung steigerte sich ins Ungeheure.
«Was gibt es Neues?» Das war die herrschende Phrase jener Zeit und die gangbare Rede, mit der sich jedermann begrüßte. «Was gibt's Neues, Blanke?» so pflegte mein Vater auch seinen Stiefelputzer anzureden, einen alten verdrossenen Mann, der für den abermals zu Felde liegenden Talkenberg vikarierte und, wenn es ihm überhaupt zu antworten beliebte, sich wohl herbeiließ, etwas von den Neuigkeiten mitzuteilen, die er auf seinen Gängen in die Stadt erfuhr. Nun mochte es etwa gegen die Weihnachtszeit sein, als der Alte sich auf obige Frage hinter den Ohren kratzte und gleichgültig erwiderte, er wisse nischt – außer etwa nur das, daß der Napoleon in der Nacht eingepassiert wäre.
«Wer sagt das?» rief mein Vater, indem er aufsprang und den alten Brummbär bei den Schultern packte.
«Nu, nu!» erwiderte der, «wer soll's denn sagen? Die Leute sprechen's.»
Der Vater ließ alles stehen und liegen, eilte in die Stadt und kam bald mit der Bestätigung der großen Novität zurück. Napoleon war wirklich angekommen, unangemeldet, allein und ohne alte oder junge Garde. Ganz überraschend war er halberfroren bei seinem Gesandten vorgefahren, hatte diesen aus den Federn geschreckt, sich in sein warmes Bett gelegt und war vor Tagesanbruch schon wieder abgereist. Der Hiobspost von dem Untergange der Armee vorauseilend, hatte er Norddeutschland wie ein Blitz durchzuckt, um in ein Dresdener Bett zu schlagen; dann zuckte er weiter bis Paris.
Der alte Blanke bekam für seine Nachricht einen Taler, und die zahlreich vorsprechenden Freunde tranken vom besten Rheinwein, den wir im Keller hatten. So wackere Gesichter hatte man lange nicht gesehen, denn wenn Napoleon als sein eigener Kurier die Armee verlassen hatte, so mußte ihm das Wasser reichlich an die Kehle gehen.
Nun folgte eine Neuigkeit der anderen; die früheren Gerüchte bestätigten sich und wurden von der Wahrheit noch überboten. Wir hörten jetzt offiziell von dem grauenhaftesten aller Rückzüge, ja von der völligen Vernichtung der unüberwindlichen Armee. General York ging über. Russische Heere drangen unaufhaltsam vor. Das niedergetretene Preußen erhob sich mit jugendlicher Kraft, und immer näher rückte auch uns die langersehnte Befreiung. Schon zu Anfang März ward der Wintzingerodesche Vortrab an der Elbe erwartet; der König von Sachsen verließ seine Residenz, und das schwache französische Kommando, das unter Regnier Dresden noch besetzt hielt, zog sich in die Altstadt mit der offenkundigen Absicht, die Brücke hinter sich zu sprengen. Die schöne Brücke, den Stolz des ganzen Landes, wollte man zerstören, und mit ihr vielleicht die halbe Stadt!
Es ist begreiflich, daß die Aufregung der ohnehin franzosenfeindlichen Einwohnerschaft durch solchen Vandalismus aufs äußerste gesteigert ward. Als daher das Pflaster aufgerissen wurde, um die Mine anzulegen, rottete sich das Volk zusammen und hinderte die Fortsetzung der Arbeiten mit Gewalt. Wie heute erinnere ich mich eines lauten tumultuarischen Geschreis auf den Straßen. Man rief nach Hilfe wider die Franzosen, und da wir gerade beim Abendessen saßen, griff mein Vater in der Eile nach dem Tranchiermesser, barg es unter seinem Rock und rannte mit Sturmeseile fort. Die Mutter rief und blickte ihm schwer geängstigt nach; aber glücklicherweise hatten die Franzosen, dem Andrang weichend, ihr Zerstörungswerk bereits sistiert. Bewaffnete Bürgerhaufen bewachten die Brücke.
Da zog am anderen Morgen der Marschall Davout von Meißen her mit einer imposanten Macht von 12 000 Mann, die das Gerücht auf 20000 steigerte, in Dresden ein und stellte sich drohend à cheval der Brücke auf. Der Altstädter Schloßplatz mit den angrenzenden Straßen sowie der Neustädter Markt und die Lindenallee vor unseren Fenstern füllten sich mit Militär, das, vom Eilmarsch ermüdet, die Gewehre zusammenstellte und sich zum Biwak auf offener Straße anließ.
Ich lag mit meinem Bruder im Fenster, auf das Gewimmel blickend. Da zog leise, fast unbemerkt, ein schweres, zu dieser Jahreszeit sehr ungewöhnliches Gewitter die Elbe herauf, und plötzlich rollte ein majestätischer Donner über die Stadt hin. Die überraschten Franzosen reckten die Köpfe in die Höhe, sperrten die Mäuler auf, und wie auf ein verabredetes Zeichen äfften Tausende von Stimmen den Donner des Himmels nach. Aber in demselben Augenblicke schlug ihnen auch ein so energischer Sturzregen in die Zähne, daß sie fluchend unter ihre Mäntel krochen und sich zu bergen suchten, wie sie konnten. Die armen Menschen könnten ihr fast leid tun, sagte meine Mutter, wenn sie nicht allzusehr gelästert hätten, denn sie gehörte noch zur alten Schule, die im Donner Gottes Stimme vernahm.
Unterdes erfuhr man, daß die Vorstellungen des Magistrates den Marschall bewogen hatten, die Anlegung der Pulvermine in der Brücke sachverständigen Bergleuten zu vertrauen, was einigermaßen beruhigend wirkte. Doch aber ward der gesamten Einwohnerschaft aufs strengste anbefohlen, sich am nächsten Morgen weder auf der Straße noch in den Fenstern betreffen zu lassen. Letztere öffnen, wurde angeraten, damit sie nicht zersprängen.
Wir Kinder freuten uns dieser eigentümlichen Situation ganz kindisch. Wir hatten andere Interessen als die Großen, und auf einen Schaden mehr oder weniger kam es uns auch nicht an. Wir hofften, daß die katholische Kirche und das Schloß einstürzten, unsere Wohnung wenigstens wanken werde, und freuten uns unsäglich darauf, sämtliche Fenster auf die Straße fliegen zu sehen. Die Mehrzahl der Hausbesitzer mochte fürchten, was wir hofften.
Nun dämmerte der verhängnisvolle Morgen über die wohlbekannten Dächer der gegenüberliegenden Häuser herauf. Die Straßen waren öde und verlassen, und in banger Erwartung einer großen Katastrophe ruhte alle Arbeit. Man hörte keinen Laut in der weiten Stadt. Die Fenster standen offen trotz des frischen Morgens, doch ließ sich niemand blicken, und nur der aufsteigende Rauch aus den Feueressen bezeugte, daß die Einwohnerschaft nicht ausgestorben sei.
Wir hatten uns sämtlich in einen Alkoven zurückgezogen, der an das Wohnzimmer der Mutter stieß, um uns vor den Quadersteinen der Brücke zu sichern, von denen man annehmen zu dürfen glaubte, daß sie wie Vögel durch die Luft fliegen und in die Außenwände der Häuser schlagen würden. Es waren Augenblicke der höchsten Spannung, denn die nächste Minute konnte über Tod und Leben entscheiden, und wir Kinder fingen an, dem vernünftigen Wunsche Raum zu geben, daß doch alles recht gut ablaufen möchte.
Da geschah ein dumpfer Schlag. Die Mutter faßte nach uns Kindern – doch waren mein Bruder und ich bereits beim Vater am Fenster und sahen eine dicke Rauchsäule über der Brücke aufwirbeln. Gleichzeitig flogen alle Haustüren auf, und die Bewohner drängten auf die Straße, den Schaden zu besehen. Aber siehe da! zwei Bogen und ein Pfeiler fehlten freilich an der Brücke, sonst war diese unbeschädigt, und auch die umliegenden Gebäude hatten nicht gelitten. Die Franzosen waren drüben in der Altstadt abgesperrt und nur eine kleine Abteilung sächsischer Infanterie bei uns zurückgeblieben. Mein Vater rieb sich die Hände. «Gottlob!» sagte er, «nun sind die Affen fort, und hoffentlich für immer!»