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Die Bernburger Bataillone waren ausgerückt, und den zurückgelassenen Trainknecht tröstete die vorgerückte Jahreszeit. Es fror und schneite greulich, und jedes Kind konnte begreifen, daß es zu Hause besser war als auf dem Marsche. Ich verschmerzte, was nicht zu ändern stand, ging in die Schule und ergab mich nebenbei den mannigfaltigen kleinen Freuden, die auf dem Eise und im Schnee blühen. Wir schlittschuhten, schneeballten, und ganz besonders glitten wir fleißig und in großer Gesellschaft auf Handschlitten die Berge hinab.
Letzteres Vergnügen möchte ich noch heute für die Vollendung aller Knabenfreuden halten. Die Füße wie Pistolenhalfter steif nach vorn gestreckt, sitzt man in zurückgelegter Stellung rittlings auf dem kleinen, aus drei Brettchen zusammengeschlagenen Schlitten, greift mit den Fäusten in die Zügel, und durch Anstreichen der Schneebahn mit dem Absatz sich frei dirigierend, schießt man abwärts wie ein Geier. Sojagen eine Menge kleiner Schlitten schreiend und lärmend hintereinander her, bemüht, sich auszuweichen, zu haschen, anzurennen oder umzuwerfen, und hierin liegt für die wilde Unruhe der Knabenseele unendliche Befriedigung.
Dies würde auch mein Bruder nicht bestritten haben. Er war ein echter Junge und kannte die Sache aus Erfahrung; auch war er kein Spielverderber und gönnte anderen die Freude von ganzem Herzen – für seine Person aber beteiligte er sich seit kurzem an dergleichen Wildrungen nur mäßig, isolierte sich und ging seine eigenen Wege. Die seine Verhältnisse nicht kannten, mochten denken, er sei duselig oder stolz geworden. Die Sache hing aber anders zusammen.
Barduas gerade gegenüber lag eins der schmucksten Häuser der Stadt, das von einer einzeln stehenden Dame bewohnt ward. Diese, eine Mamsell Schäfer, schien kränklichkeitshalber auf ihr Zimmer reduziert und ging, soviel ich mich erinnere, niemals aus. Sie amüsierte sich aber bisweilen, unseren Spielen aus ihrem Fenster zuzusehen, und wurde von uns hochgeschätzt, weil sie stets zur gelegensten Zeit, das heißt immer, wenn sie uns gewahrte, Brezeln und sonstige Leckerbissen zur Hand hatte, mit denen sie nicht kargte. Ein besonderes Interesse aber zeigte sie für meinen Bruder, entweder weil er ebenso gesund und strotzend aussah, als sie selber blaß und mager war, oder auch, weil sie ihn überhaupt am meisten sah; denn solange sie sich am Fenster zeigte, pflegte er sich, seiner materiellen Gesinnung halber, nicht allzuweit zu entfernen. Sie blickte ihn dann wohl huldvoll an, öffnete das Fenster und steckte ihm der Gaben allerbeste zu, bis sie den kleinen Schmarotzer so weit gekirrt hatte, daß er sich in einem unbewachten Augenblicke sogar bewegen ließ, zu ihr ins Haus zu treten. Da hatte sie ihm denn allerlei vorgespiegelt und damit geendet, ihm ihre Hand anzubieten.
Ob mein Bruder auf diese Verbindung aus eigentlicher Neigung oder eigentlich aus Eigennutz einging, weiß ich nicht zu sagen; allerdings aber ging er darauf ein und hielt sich allen Ernstes für gebunden. Die Vermählung wurde mit Schokolade und Biskuit vollzogen, beide Eheleute nannten sich beim Vornamen und du, und mein Bruder bezog in dem schönen Hause seiner Gemahlin ein eignes, reichlich mit Spielsachen ausgestattetes Kabinett, wo er fortan einen großen Teil seiner freien Zeit verbrachte. Ich aber nannte ihn «Herr Schäfer», was er bei den großen ihm zugefallenen Vorteilen gern mit in Kauf nahm.
Da doch immer eine gewisse Reife dazu gehört, die Vorzüge eines fremden Ortes zu würdigen, so ist anzunehmen, daß meine kleine schwarzäugige Schwester nur geringen Vorteil von ihrem Ballenstedter Aufenthalte haben konnte. Es mochte ihr etwa wie den Leuten gehen, die ohne genügende Vorkenntnisse nach Italien reisen und dort im besten Falle nichts anderes finden, als was man überall fürs Geld hat, nämlich Nahrung, Obdach und gute Freunde.
An alledem fehlte es denn auch nicht in Ballenstedt, und die anspruchslose Reisende schien ganz zufrieden. Sie war mit einigen gleichalterigen Knospen bekannt geworden, besuchte und wurde besucht, machte sich mit ihren Freundinnen kleine Kuchen von Milch und Semmel mit geringer Zutat von Zucker oder von Korinthen, küßte und stritt sich mit ihnen und trieb's wie andere Kinder. Doch war sie anders als die meisten anderen kleinen Mädchen. Gedankenvoll und ernst und voller Energie des Vorstellungsvermögens, war ihr Spiel in allen Fällen volle Wahrheit. Namentlich wenn sie allein war, konnte sie so wahrhaft mütterlich und innig mit ihrer dicken, einst vor den Franzosen geborgenen Puppe Salli verkehren, daß sie mir, obgleich ich selbst Phantast und Komödiant war, ebenso betört vorkam, wie etwa ich dem Hauptmann Voß erscheinen mochte. Allen Ernstes glaubte sie dann Mutter zu sein und wirtschaftete rastlos flüsternd in Ecken und Winkeln mit ihrem Kind, ganz unbekümmert um die Gesellschaft der Großen, wenn diese auch noch so angeregt und laut war. An einem Novemberabende besprach man in dem kleinen Teezirkel der Eltern die traurige Lage des von den Franzosen immer noch besetzten Dresdens. Die Briefe des Bankiers Kaskel waren ausgeblieben, aber die Zeitungen berichteten Grausenvolles. Hungersnot und Elend aller Art hatten in der belagerten Stadt fast die Grenzen der Möglichkeit erreicht. Aus Düngerhaufen wühlte das arme verhungerte Volk Kartoffelschalen und anderen Wegwurf, und dazu wütete das Lazarettfieber in allen Klassen der Bevölkerung, wöchentlich an fünfhundert Menschen dahinraffend. Die Gesellschaft war in betrübter, sorgenvoller Stimmung, Madame Kaskel aufs äußerste beängstigt, und selbst wir Knaben waren einigermaßen betreten über das Schicksal unserer armen Heimatstadt.
Da flog die Türe auf, und herein trat ein Bekannter, der joviale Assistenzrat Gottschalk, der sich später durch sein Werkchen über die Harzburgen und durch sein Adelslexikon bekannt gemacht hat, hastig verkündend, daß Dresden über sei; die Garnison habe sich den Österreichern mit allem Kriegsgerät ergeben. Das war nun ganz was Prachtvolles. Mein Vater schickte nach Champagner, und Gottschalk wurde gefeiert und umhalst, als wenn er Dresden selbst befreit hätte. Da es inzwischen an einem Stuhle für ihn fehlte, so entfernte Beckedorff die Puppe Salli, welche auf einem noch vakanten Sessel unter Schals und Tüchern begraben war, und rückte diesen an den Tisch.
In demselben Augenblicke aber schoß auch meine kleine Schwester schon aus irgendeinem entfernten Winkel herbei und barg, Zeter schreiend, ihr Gesicht im Schoß der Mutter. Die ganze Gesellschaft war erschrocken; alle fuhren auf und drängten sich, den Schaden zu besehen. Man war der Meinung, das Kind habe sich verletzt, vielleicht ein Auge ausgestoßen, und es dauerte lange, ehe es der Mutter gelang, die krampfhaft Weinende aufzurichten, zu besehen und zum Sprechen zu bewegen. Endlich wurde unter Schluchzen und Verschlucken der folgende Jammer offenbar: die am Scharlach schwer erkrankte Puppe Salli hatte im größten Schweiß gelegen, und während nun die arme Mutter, die niemanden zu schicken hatte, selbst nach der Apotheke gerannt war, hatte Beckedorff das todkranke Ding aus seinen Decken gerissen und es im bloßen Hemde aufs kalte Fensterbrett gelegt.
«Und nun», schloß die verzweifelte Mutter und erstickte fast an diesem Satze, «und nun hat Salli sich gewiß erkältet!»
So ernsthaft war die Szene, daß niemand lachte. Vielmehr war jedermann bemüht, zu trösten und Mittel anzugeben, wie die Erkältung unschädlich zu machen sei. Auch mag hier noch bemerkt werden, daß die Puppe von allen nachteiligen Folgen verschont blieb.
Kaskels hatten Ballenstedt schon seit längerer Zeit verlassen, als auch wir im Februar des Jahres 1814 zum Aufbruch rüsteten. Die Eltern dachten jedoch nicht auf dem nächsten Wege nach Dresden zurückzukehren, da eine Cousine meiner Mutter, die an den herzoglich gothaischen Oberforstmeister von Ziegesar verheiratet war, sie eingeladen hatte, den Rückweg über ihren im Altenburgischen gelegenen Wohnsitz Hummelshain zu nehmen.
Uns Kindern war es in Ballenstedt so wohl geworden, daß wir um so weniger gern ans Scheiden dachten, als wir nicht direkt nach Dresden gehen, sondern das uns völlig fremde Hummelshain erst überwinden sollten, und besonders war wohl anzunehmen, daß meinem Bruder der Gedanke schwerfiel, eine Verbindung wieder aufgeben zu sollen, die ihm so nützlich war. Inzwischen waren wir noch nicht fort, und mancherlei Hindernisse stellten sich der Abreise entgegen, an welche sich die Hoffnung knüpfte, den Frühling vielleicht doch noch in Ballenstedt zu erleben.
Das Geschlecht der Lohnkutscher war nämlich für Ballenstedt noch unerschaffen, und die Ökonomen, die sonst für Geld und gute Worte anzuspannen pflegten, wollten ihr Geschirr an diese Jahreszeit nicht wagen. Postpferde gab es auch nicht, und wären sie dagewesen, so fehlte wieder ein Vehikel. Durch die Luft fliegen konnten wir aber ebensowenig als zu Fuß gehen, und so sollte denn die Reise wirklich noch verschoben werden – als sich sehr unerwartet und zum Schreck des jungen Ehemanns plötzlich ein gewisser Bäcker meldete, der uns für schweres Geld bis Erfurt fahren wollte. So mußte es denn doch geschieden sein. Man sagte allerseits den Freunden Lebewohl, die Koffer wurden gepackt, und bei träufelndem Tauwetter hielt der bewußte Bäcker zur bestimmten Morgenstunde vor der Haustür.
Sehr einladend sah die Gelegenheit nicht aus. Der Wagen, von unbeschreiblichen Proportionen, hing altersschwach und lahm in seinen Federn, die Schläge waren mit Bindfaden befestigt und die hart eingetrockneten Fensterladen weder einzuknöpfen noch zurückzuschnallen. Die Pferde standen da mit tiefgesenkten Häuptern, dem Anschein nach halb schlafend oder tot, und niemand konnte begreifen, wie sie nur bis hierher gelangt waren. Aber seine Pferde wären gut, sagte der Kutscher, begrüßte jedoch jeden Koffer, der ihm zugetragen wurde, mit schweren Seufzern.
Endlich war alles fertig, und Barduas wurden umarmt, soweit dies anging, denn wenigstens wir Kinder konnten die Arme nicht sehr rühren, da wir verpackt und eingewickelt waren wie Kokons. So wurde einer nach dem anderen in den höchst jammervollen Kasten verladen, bis sich zuletzt auch noch das «Mädchen aus der Fremde», wie sie in Ballenstedt genannt wurde, nämlich die getreue Rose, darstellte, um gleichfalls aufzusteigen. Sie hatte, um sich vor Kälte und ihre sieben Sachen vor dem Verderben des Einpackens zu schützen, alles auf den Leib gezogen, was sie an Wäsche und Kleidern besaß, und sah wie das Heidelberger Faß aus. Der Kutscher hatte jeden Einsteigenden im Geist gewogen und zu schwer befunden. Als er aber dieses Ungeheuers von Mädchen ansichtig wurde, tat er einen schauderhaften Fluch und schwur, ihn solle dieser oder jener holen, wenn er sie in den Wagen ließe.
So möge er sich denn hinpacken, wo er hergekommen wäre, schrie ihn der Vater an, ließ wieder abladen; dieser erste Anlauf war gescheitert.
Mamsell Schäfer hatte aus ihrem Fenster das ganze Mißgeschick mit angesehen. Sie hatte mit ihren Schwiegereltern so gut wie keinen Umgang gehabt und kannte namentlich meine Mutter, die ebenso einhäusig als sie selbst war, nur von gelegentlichen nachbarlichen Fensterbegrüßungen. Nichtsdestoweniger fühlte sie sich nun zu einer Tat bewogen, welche über die notwendigste Nächstenliebe noch hinausging. Sie bot uns nämlich ihren eigenen Reisewagen an und wußte sogar Pferde aus einem benachbarten Dorfe aufzutreiben, so daß unsere Abreise sich schon am nächsten Morgen erfüllen konnte.
Aber trotz bester Equipage war's doch immer nicht die beste Fuhre. Die Wege gingen auf, und der Wagen taumelte wie ein Trunkenbold von einer Seite auf die andere, bis er schließlich in der Naumburger Gegend in einem Schneeloch steckenblieb. Mein Vater und der Kutscher sprangen ab. Sie durchnäßten sich fast bis zum Halse, indem sie mit Geschrei und Prügeln taten, was sie konnten, auch legten sich die Pferde mit allen Kräften ins Geschirr und taten ebenfalls, was sie konnten – aber der Wagen stand wie eingenietet.
Da schien es denn ein Glück zu sein, daß ganz in nächster Nähe ein Haufen Schneeschipper arbeitete. Mein Vater sprach sie an; sie sagten aber, sie wären angestellt, die verschneiten Gräben auszuschaufeln, daß kein Wagen hineinpolterte, und das übrige ginge sie nichts an. Der Kutscher entgegnete, die Löcher auf der Straße wären schlimmer als alle Gräben, und sie sähen doch, daß wir schon drin stäken; aber es war so wenig mit ihnen anzufangen als mit der Armsäule am Wege, die eben auch zwei unnütze Pfoten in die Luft streckte, und weder Bitten noch Geld konnten sie bewegen, ihren Beruf verständiger aufzufassen.
So saßen wir denn abermals fest, und keine Mamsell Schäfer guckte zum Fenster heraus. Mein Vater und der Kutscher hielten Kriegsrat, und es schien nichts anderes übrigzubleiben, als den Wagen zu entleeren und abzupacken – eine schlimme Aussicht für die kränkelnde Mutter und uns alle. Aber siehe! da nahte sich mit fröhlichem Gesange ein kleines, auf dem Marsch begriffenes Detachement von etwa zwanzig russischen Soldaten. Als diese sahen, was hier los oder vielmehr steckengeblieben war, legten sie unaufgefordert und augenblicklich Hand an. Ein paar starke Kerle krochen unter den Wagen und hoben ihn mit ihren Rücken, daß er in den Fugen krachte, während andere schoben, schrien und in die Pferde hieben. Im Augenblicke waren wir aus dem Pfuhl heraus, und unsere Retter zogen beschenkt und singend weiter.
Diesmal hatte der rohe Russe den rohen Deutschen überflügelt. Auch erinnerten sich die Eltern aus ihrem früheren Leben in Rußland ähnlicher Beispiele rascher, uneigennütziger Hilfeleistung, und meine Mutter nannte die Russen gutherzige Menschen. Der Vater stimmte bei, nur sagte er, dürften diese gutherzigen Menschen nicht vornehm werden.
Ohne weitere Fährlichkeiten gelangten wir nach Jena, wo mehrere Tage gerastet wurde. Wir waren in dem Hause des Stallmeisters Seidler abgestiegen, dessen talentvolle Tochter Luise, eben wie die Bardua, Schülerin meines Vaters war und jetzt alles aufbot, unseren Aufenthalt so angenehm als möglich zu machen. Von hier aus waren wir sehr viel unter Menschen, am meisten bei der schon von Dresden her befreundeten Familie des Buchhändlers Frommann, der eins der angenehmsten Häuser in Jena machte. Hier fanden auch wir Kinder unsere Rechnung, da die eben heranwachsende Tochter Allwina sich unser aufs dankenswerteste annahm. Allwina war anmutsvoll, dienstfertig, lebendig, jeder Zoll an ihr ein Mädchen, was ihr ungemein zustatten kam, da sie kein Junge war. Sie trieb sich wacker mit uns herum, haschte und versteckte sich, zeichnete und zeigte Bilder und hockte, Geschichten erzählend, mit uns in Winkeln.
Als wir wieder im Wagen saßen, um die letzten Meilen nach Hummelshain zurückzulegen, und die Eltern untereinander von den mancherlei interessanten Menschen sprachen, die sie in Jena kennengelernt, richtete der Vater das Wort auch an uns Kinder und fragte, wer denn uns von allen am besten gefallen habe.
«Allwina!» sagten wir wie aus einem Munde.
Da lachte der Vater und sagte, wenn er sich recht besänne, ginge es ihm ebenso, und die Mutter pflichtete ihm vollständig bei. Ein junges Mädchen von etwa fünfzehn Jahren hatte den Preis über alle Genies der Musenstadt davongetragen. Das ist die wunderbare Macht, die auch die jüngsten Mädchen üben, wenn sie nur weiblich sind.