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Auf dunklem Grunde erscheinen oft die schönsten Farben, und schlimme Zeiten können den kleinen Freuden, die sie übriglassen, wohl zur Folie dienen. So war auch mein liebes Dresden im Frühjahr 1813 eigentlich kein Ort für Spiel und Tanz und die Zeit so böse, daß ich heute nicht begreife, wie wir Kinder überhaupt nur ungefährdet zueinander über die Straße kommen konnten.
Die mörderische Schlacht von Bautzen war geschlagen. Der Schnitter Tod hatte eine reiche Ernte im Schoße der Erde geborgen, und was er übrigließ, hatten die Ährenleser aufgesammelt. Zwanzigtausend mehr oder minder verstümmelte Muttersöhne wurden in die Dresdner Hospitäler eingespeichert, und viele Hunderte von Wagen, angefüllt mit den Jammergestalten Verwundeter, passierten unsere Fenster täglich. Die Stadt glich einem einzigen großen Lazarette, und aus den allerwärts, selbst in Privathäusern, dazu hergerichteten Lokalen tönte das Geschrei der armen Opfer, die von neuem unter den Messern der Chirurgen bluteten. Selbst wir Kinder wurden jezuweilen unfreiwillige Zeugen solcher Szenen, die noch lange Zeit danach in meine Träume reflektierten. Der Pöbel aber, welcher des Entsetzens nie genug hat, fabelte noch überdem von ganzen Ladungen unheilbarer Kranker, die, um mit ihnen zu räumen, nachts in den Strom geschüttet würden. Man haßte die Franzosen wie den Tod, man traute ihnen alles zu und glaubte alles. Wahrhaftig nein, das waren keine Zeiten für die Gedanken eines Freiers.
Es waren aber nicht allein die Kranken, auch die Gesunden zehrten an dem Mark der Stadt. Die Häuser waren dermaßen mit Einquartierung überfüllt, daß im «Gottessegen» allein ab und zu bei fünfhundert Mann auf einmal lagen und wir uns auf wenige Hinterzimmer reduziert sahen. Auf den Straßen tobte ein ununterbrochenes kriegerisches Durcheinander; zahlreiche, fortwährend aus dem Westen anlangende junge Mannschaft wurde einexerziert, Adjutanten, Kuriere, Ordonnanzen jagten durcheinander, Batterien rasselten, und arme Bauern, die Vorspann leisten mußten, prügelten ihr müdes Vieh und wurden von den französischen Kommissären und Gendarmen selbst geprügelt. Mord und Totschlag fehlten auch nicht.
So schallte eines Abends, da wir eben zu Bette gehen wollten, von der entfernten Ränitzgasse über unseren Garten herüber der furchtbare grelle Schrei: «Herr Jesus Christus!» Dies Wort ward trotz der Entfernung deutlich von uns allen verstanden, und mir fuhr's durch Mark und Bein, als gleichzeitig mein Vater aufsprang und sagte: «Da ist ein Mensch erschlagen!»
Am anderen Morgen erfuhren wir, daß zwei französische Grenadiere sich eines Mädchens bemächtigt hatten; sie rief um Hilfe, und ein des Weges gehender sächsischer Dragoner, der ihr beistehen wollte, war unter obigem Geschrei mit gespaltenem Schädel zusammengebrochen.
Dergleichen Unordnungen erschreckten jezuweilen die Bevölkerung, obgleich man anderseits den französischen Behörden hinsichtlich ihrer Sorge für die öffentliche Sicherheit Gerechtigkeit widerfahren lassen mußte. Sie zeigten guten Willen und mochten tun, was sie konnten; aber die Zusammenhäufung von Kriegsvolk in der verhältnismäßig kleinen Stadt war zu bedeutend, und diese jüngste französische Armee zum großen Teil aus Gesindel aller Art zusammengesetzt. Eine eiserne Disziplin, wie sie die Russen hielten, mochte bei den damaligen Franzosen nicht möglich sein.
Zu solchen Drangsalen kam noch die Furie der Teuerung. Die unentbehrlichsten Lebensmittel waren kaum für Geld zu haben, und die Not erreichte eine solche Höhe, daß der Magistrat den Brotverkauf selbst an sich nahm. Mein Vater mußte in jener Zeit täglich in Person aufs Rathaus gehen, um zu erhalten, was ihm nach gewissenhafter Teilung zukam, und befremdlich genug sah es aus, wenn der treffliche Mann, unter jedem Arm ein Brot, nach Hause kam. Ein Sack Erbsen oder ein Pfund Reis waren damals namhafte Geschenke, die wohlhabende Familien sich untereinander machten.
Ich erinnere mich der Freude, die wir Kinder hatten, als es am 11. Mai, dem Geburtstage meines Bruders, der guten Mutter gelungen war, für Geld und gute Worte den ganzen Vorrat einer benachbarten Konditorei auszukaufen, der doch nur in drei kleinen altbackenen Brottörtchen, das Stück zu einem Sechser, bestand. Damit schloß sie uns in eine Kammer, um zu verhindern, daß die herumlungernden Franzosen die Leckerei nicht wittern sollten. Wir aber dünkten uns an eines Königs Tafel. Die kleine Schwester neigte den Kopf zur Seite und verspeiste ihren Anteil brockenweis mit halb geschlossenen Augen, mein Bruder machte sich vier gleiche Teile und zählte zwischen jedem Teil bis fünfzig, und ich verschlang die ganze Herrlichkeit auf einmal.
Diese Not an Lebensmitteln ward durch den zehnwöchigen Waffenstillstand, der mit Anfang des Monats Juni eintrat, nicht wesentlich gemildert. Immer noch lebte die große Mehrzahl der Erwachsenen mehr von Angst und Ärger als vom Brote. Die ganze Umgegend war verwüstet und aufgezehrt. Dreißigtausend Garden mußten fortwährend allein von der Stadt erhalten werden, und der altangeerbte Wohlstand der meisten Hausbesitzer ging in die Wicken. Zwar brachte der Glanz des kaiserlichen Hoflagers viel Geld in Umlauf, aber kein Brot, und auch jenes floß wesentlich in die Taschen auswärtiger Spekulanten. Die hohen Gäste und die vielen Herrlichkeiten, die man zu sehen kriegte, wie zum Beispiel die besten Kräfte der Pariser Bühne, halfen wohl verzehren, aber nicht ernähren.
Weniger nachteilig als die lebendigen Schauspieler wirkte in konsumtiver Beziehung ein großes, ebenfalls von Paris herangewandertes Marionettentheater. Etwas Vollkommneres war noch nicht gesehen worden, und jedermann, der Zeit und Muße fand, ergötzte sich daran. Uns Kinder brachte eines Abends der von Leipzig angereiste Vater Volkmann hin.
Wir hatten noch niemals ein Theater gesehen; aber obgleich wir eigentlich nicht recht wußten, was da vorgehen würde, erwarteten wir doch immer etwas recht Erkleckliches, dem vielen Geld entsprechend, das Volkmann an der Kasse gezahlt hatte. Auch sprachen uns der dekorierte Saal, der Kronleuchter, die vielen Menschen und der schön gemalte Vorhang, den wir für eine Wand hielten, schon recht an. Ich nahm die Vereinigung dieser Dinge für die Komödie selbst und saß in der behaglichsten Stimmung auf meiner Bank. Beim Beginn der Ouvertüre sahen mein Bruder und ich uns bedeutungsvoll an. Wir fanden, daß eine Komödie ein Staatsvergnügen sei.
Wer aber beschreibt unsere Überraschung, als es nun klingelte, die bunte Rückwand vor unseren Augen aufrollte und dem Blicke freie Aussicht auf die herrlichsten Paläste gestattete. Wir sahen abwechselnd Jerusalem und Bethlehem, denn das Stück stellte den Bethlehemitischen Kindermord vor. Ich war ganz wie bezaubert. Das Unnatürliche und Steife in den Bewegungen der Puppen störte mich nicht. Vielmehr war es mir ausgemacht, daß diese Würde und Einfalt der Manieren vor zwei Jahrtausenden wirklich gang und gäbe gewesen sei. Auch ist es nicht zu leugnen, daß die Volkspoesie der Puppenspiele wegen ihres fürchterlichen Ernstes und ihres Mangels an spielender Reflexion sich der Großartigkeit des alten Heldenliedes nähert. Wie prächtig war dieser dunkelrote König Herodes! wie zermalmend sein Grimm, als er sich vom Throne erhob und zornig mit seinem Reichsapfel Fangeball spielte! Und wie rührend sah es aus, als die beklagenswerten, in tiefe Trauer gehüllten Mütter ihre Kinder zur Schlachtbank führten. Es war ein langer Zug, den das Orchester mit einem sanften Trauermarsch begleitete. Ohne Aufhören und Ende zogen sie vorüber, während man hinter der Szene das gräßlichste Massaker hörte.
Zu Hause hatte ich nichts Eiligeres zu tun, als alles nachzumachen. Es wurde ein Theater konstruiert, gepappt, gekleistert und angestrichen. Auf Notenpapier malte ich den König Herodes und die übrigen, wie sie mir im Gedächtnis waren, und schnitt sie sauber aus. Dann wurde mit der Aufführung des Kindermordes vorgegangen. Die Geschwister gaben Publikum und Orchester zugleich ab. Mein Bruder trompetete schmetternd mit dem Munde und schlug die Pauken auf seinem eigenen Leibe, und auch die kleine Schwester machte tapfere Musik, bis ich klingelte und die Vorstellung ihren Anfang nahm.
Inzwischen wurden wir des einfachen Sujets bald überdrüssig. Ich fing an, mich in eigenen Ideen zu ergehen, und nun erst gewann die Sache rechten Reiz für mich. Ich wurde ein berühmter Puppenspieler unter meinesgleichen, ja selbst Margarete verfehlte nicht, mir zuzusehen mit assez bien und fort joli! und da ich alles selbst machen mußte, Text, Malereien und Aufführung, so hatte ich immerhin auch meinen Nutzen von diesen Spielereien.
Der Monat Juli war zu Ende, desgleichen die Friedenshoffnungen, die sich an die Unterhandlungen in Teplitz, Prag und Dresden geknüpft hatten, und der Wiederausbruch der Feindseligkeiten stand in Aussicht. Es war nicht unwahrscheinlich daß die Verbündeten – gestärkt durch den Anschluß Österreichs und Schwedens – jetzt darauf ausgehen würden, den Feind in seiner Operationsbasis anzugreifen, und mein Vater, der seine Familie den Drangsalen einer möglichen Belagerung nicht aussetzen wollte, entschloß sich, Dresden mit den Seinen zeitweilig zu verlassen. Ein Brief aus Anhalt gab uns die Direktion.
Bei Gelegenheit meiner Harzreise habe ich des freundlich am Fuße des Gebirges gelegenen Ballenstedt schon gedacht. Hier wohnte eine Schülerin meines Vaters und sehr werte Freundin unseres Hauses, die talentvolle, nachmals in weiten Kreisen bekannt gewordene Karoline Bardua. Sie hatte sich zum Zwecke ihres Studiums längere Zeit in Dresden, und zwar in unserem Hause, aufgehalten, wo sie sich der größten Wertschätzung erfreute. Selbst meine Mutter, die sonst für weibliche Genies sehr wenig Sympathien hatte, machte hier doch eine Ausnahme. In der Tat war Karoline auch eine von den Naturen, die in keinerlei Klassenbegriff aufgehen; man konnte sie mit hergebrachtem Maßstab nicht bemessen. Sie war etwas für sich und etwas Ganzes, was jedermann gern respektiert. Gutmütig, lebhaft, keck, ideenreich und hochbegeistert für Menschen und Dinge, kehrte sie sich im persönlichen Verkehr zwar nicht allzu streng an hergebrachte Formen und Redensarten, aber es lag nichts Anstößiges in dieser Freiheit, weil die geniale Frische und höchst achtbare Solidität ihres Wesens jede Überschreitung ausglich. Für die Kunst hatte Karoline Bardua entschiedenen Beruf. An Ausdauer, Fleiß und Konzeptionsfähigkeit übertraf sie ihr Geschlecht und zeichnete sich aufs vorteilhafteste vor allen übrigen Schülerinnen meines Vaters aus, der sich ihrer daher auch mit besonderem Interesse angenommen hatte und sich ihrer Erfolge herzlich freute, solange er lebte.
Jetzt nun hatte uns die dankbare, für ihren Meister und die Seinigen besorgte Schülerin seitens ihrer Eltern eingeladen, nach Ballenstedt zu kommen, wo das schön gelegene Barduasche Haus für alle Raum bot. Auch war jene saubere Bergstadt damals der rechte Ort für kriegsmüde Menschen, denn bis hierher war kein feindliches Bajonett gedrungen. Abgelegen und entfernt von großen Straßen, glich das Bernburgsche Oberherzogtum einer Insel, deren glückliche Gestade der stürmische Ozean nicht überschreiten darf. Freilich hatte der Herzog als Rheinbundfürst auch seine Kontingente stellen müssen. Seine Truppen hatten sich in Tirol und Spanien geschlagen, und seine Kassen mochten den Krieg wohl fühlen; im allgemeinen aber erfreute das Land sich aller Segnungen des Friedens und nahm trotz der erhöhten Steuern an Wohlstand zu, da es seine reichen Ernten bei hohen Preisen vorteilhaft verwerten konnte.
Unter diesen Umständen waren meine Eltern schnell entschlossen und trafen die nötigen Vorbereitungen zur Reise. Vor allem mußte für die rückbleibende Margarete gesorgt werden, die keinen Platz im Wagen gefunden hätte. Sie wurde Schönbergs übergeben, welche gleich uns Dresden verlassen wollten, um sich eventualiter und fürs erste auf dem Bloßen niederzulassen. So hieß ein reizender Weinberg mit stattlichen Wohngebäuden und schönen Gärten, den Herr Schönberg in der Meißner Gegend besaß. Zwar hatte er es schicklich erachtet, dies Besitztum nach dem Namen seiner Frau in «Katharinenhof» umzutaufen, doch kehrte sich kein Mensch an die Verbesserung, selbst nicht die eigenen Kinder. Der alte gerechte Name triumphierte.
Margarete war somit wohlversorgt. Es wurde gepackt, und zwischendurch umarmte man die schwarze Tante und andere Freunde, die Abschied nehmend ab und zu gingen. Bei dieser Unruhe des Aufbruchs fand mich mein Vater eifrig zeichnend. Ich kopierte aus einem Almanach mit mühsamen Sepiapunkten die Gestalt eines kleinen Mädchens, das, am Wasserfalle sitzend, Vergißmeinnicht zum Kranze windet.
Für wen das werden solle, fragte der Vater.
«Ach!» sagte ich gedehnt, «die Käthchen hat mich um ein Andenken geplagt.»
«Nun, so mache auch etwas Gutes», erwiderte der Vater, nahm mir den Pinsel ab und arbeitete mir selbst hinein. Die Zeichnung gelang weit über mein Vermögen, und August übernahm es, sie an ihre Adresse zu befördern.
Es war in der Mitte des August des Jahres 1813, als wir unsere Reise in dem Mietwagen des Lohnkutschers Hempel antraten. Das Reisepersonal bestand aus der Familie und einem Mädchen meiner Mutter mit Namen Rose, die beim Kutscher saß. Ich erinnere mich der Abfahrt nicht mehr; wohl aber mögen meine Eltern Gott gedankt haben, als sie die Stadt im Rücken hatten, die damals ihren schwersten Ängsten, der Schlacht bei Dresden und der späteren Belagerung entgegenging.
Aber auch auf freiem Felde fehlte es nicht an Waffenlärm und Spuren der Verwüstung. Wir fuhren zunächst durch zerstörte Dörfer, und eine Brandstätte betrachtend, hatte meine Mutter sich etwas vorgebeugt. Sie schien aber kein Glück mit Aussichten zu haben, denn sogleich fuhr sie mit dem Ausrufe zurück: «Nun helf' uns Gott, da kommen gar die Türken!»
Auch sahen wir uns in wenig Augenblicken von dichtgedrängten Haufen türkischer Reiter umgeben. Inzwischen erklärte mein Vater sie nur für verkleidete Franzosen. Es war das bekannte Mameluckenkorps, das Napoleon zum Andenken an Ägypten in den Ländern der Christenheit umherschweifen ließ. Meine Mutter schloß die Augen. Vor wirklichen Türken würde sie sich ohne Zweifel mehr gefürchtet haben, aber ihr Anblick hätte sie weniger verletzt als der von Christen, die als Türken gegen Christen zogen und jeden Augenblick gewärtig sein mußten, in ihrem Narrenkleide zu verenden.
Diesem Mameluckenmarsch entgegen konnten wir stundenlang nur langsam vorwärtskommen. Auch waren die Leute zum Teil betrunken, fingen Händel mit dem Kutscher an, schrien, fluchten, flunkerten mit blanker Klinge durch den Wagen und molestierten das Mädchen auf dem Bock, bis mein Vater Plätze mit ihr tauschte. So blieb die Reise bis Leipzig sehr beschwerlich, da wir überall Truppenabteilungen begegneten, die sich auf Dresden zogen. Alle Gasthäuser waren mit Offizieren überfüllt, das Nachtlager in Oschatz ganz abscheulich.
Dafür ward mir am zweiten Abende die Freude in Leipzig, meinen alten Lehrer Senff und den Freund Alfred zu umarmen. Wir blieben einen ganzen Tag bei Volkmanns, und ohne Zweifel sah ich in Leipzig recht viel Neues, doch hafteten nur Dinge, an denen nichts gelegen ist. So zum Beispiel machte Alfred mich aufmerksam auf einen Herrn, der uns gegenüber im offenen Fenster lag und Tabak rauchte. Der Mann sah ganz wohl aus, hatte schwarzes Haar und schwarze Augen, eine große, feingebogene Nase und trug einen dunkelblauen Rock.
Ich solle ja nicht lachen, warnte Alfred, es wäre ein französischer Spion. Einen Spion hatte ich noch nie gesehen, wußte nur, daß man dergleichen aufzuhängen pflegte. Ich sah daher den Mann in seinem blauen Rocke schon am Galgen und gönnte ihm von Herzen diese Erhöhung.