Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Schul- und Straßenleben

Jener nach unserer Meinung in der großen Welt verlebte Abend war der erste unter vielen folgenden. Wir waren von nun an häufig auf dem Schlosse, begleiteten den Prinzen auf Promenaden und Ausfahrten und – was uns besonders vergnügte – nahmen teil an seinen Übungen auf der Reitbahn.

Ich habe noch keinen Knaben gesehen, der nicht gern auf Ziegenböcken gesessen hätte. Die prinzlichen waren schöne, hochbeinige Tiere mit stolzen Bärten und Gebärden; auch fehlte es ihnen nicht an Kräften, weder uns zu tragen, noch auf den Sand zu setzen, was letzteres den Prinzen, der wie ein alter Husar im Sattel klebte, nicht wenig amüsierte. Als wir beiden Neulinge etwas schließen lernten, wurde Karussell geritten: vorweg Beckedorff als Vorbild auf hohem Pferde und hintennach wir Kleinen auf Ziegenböcken, einer hinter dem anderen, mit Degen nach dem Ringe stechend.

Es waren schöne Jugendtage, vergoldet von jener Romantik, die für Anfänger in dem Verkehr mit hohen Personen liegt, und nicht minder gewürzt durch die nebenbeilaufende Plage regelmäßigen Unterrichts, der uns auch hier wie überall verfolgte. Auf den Rat eines trefflichen Mannes, des herzoglichen Oberhofpredigers Starke (Verfasser der «Häuslichen Gemälde», einer damals viel gelesenen Sammlung kleiner moralischer Novellen), hatten die Eltern uns der Ballenstedter Ortsschule anvertraut und daran jedenfalls sehr wohlgetan. Öffentliche Schulen mögen sein, wie sie wollen: wenn die Zucht darin nicht ganz aus Rand und Band ist, sind sie privatem Unterrichte immer vorzuziehen. Sie entkleiden die Jugend jeden äußerlichen Vorzuges, dessen sie sich etwa erfreuen mag, und lassen ihr nichts anderes übrig als Kopf und Fäuste, oder was sonst niet- und nagelfest an einem Knaben ist. Ein jeder steht da allen als seinesgleichen gegenüber, nur persönliche Vorzüge gelten und müssen erstrebt werden, wo sie fehlen. Die Schule und die Wildnis sind die einzigen Orte, wo der Mensch an sich was gilt, allein auf sich gesetzt ist und der Charakter sich entwickelt.

Was nun die Ballenstedter Schule anbelangt, so war zunächst der Rektor Eisfeld ein Mann, dessen Wert nicht vorschnell in die Augen sprang. Korpulent, von gedrungenem Gliederbau und derbgeschnittenen Gesichtszügen, verriet sein Aussehen wenig vom Gelehrten. Das zurückgekämmte Haar, der grobe Überrock und die hohen rindsledernen Stiefel gaben ihm vielmehr einen bäuerlichen Anstrich, dem auch seine Manieren und seine massive Redeweise ganz entsprachen. Er bediente sich durchweg des Dialekts der unteren Volksschicht und trug diese bequeme Nachlässigkeit der Rede sogar auf fremde Sprachen über, indem er zum Beispiel das Schluß-s in pars (der Teil) wie sch aussprach, den Vokal aber langzog und paarsch sagte.

Seine Schüler pflegte dieser Lehrer weder mit Du, noch Sie, noch Ihr, noch Er anzureden. Man sollte meinen, es bliebe nichts anderes übrig; doch half sich Eisfeld mit Der. «Der dekliniere einmal...!» befahl er mir, als wir uns behufs vorläufiger Prüfung das erstemal auf seinem Zimmer eingefunden hatten. Nach schwach bestandenem Examen führte der Scholarch uns in seine Schule ein. Diese war noch ganz nach altem Zuschnitt und mochte sich seit Albrecht des Bären Zeiten nicht sonderlich verändert haben. Ein einziges sehr großes, von den Jahrhunderten geschwärztes Zimmer vereinigte die Lateiner von mensa bis zum Cornelius Nepos mit einer Anzahl von Seminaristen, aus denen fertige Lehrer für die Kantorschulen hervorgingen. Es gehörte in der Tat Talent dazu, eine so ungleichartige Masse von Kindern und Jünglingen gleichzeitig zu unterrichten und zu regieren. Hat aber einer dies Problem gelöst, so war es der Rektor Eisfeld. Seine Schüler machten ihm in der Regel alle Ehre, wenn sie aufs Gymnasium kamen oder ihre respektiven Schulämter antraten.

Für uns Fremdlinge hatte die öffentliche Schule noch den Vorteil, daß wir auf leichte Weise mit den eingeborenen Knaben des Ortes bekannt wurden und zahlreichen Umgang fanden, der uns verhinderte, auf dem Schlosse zu verprinzeln. Schon gleich am ersten Morgen fiel mir ein schmucker Junge, Adolf Kirchner, auf. Wir saßen nebeneinander, tauschten unser Butterbrot und machten Freundschaft. Dieser Adolf hatte die liebenswürdige Eigenschaft einer eigenen kleinen Ziegenbocksequipage, mittels welcher er sich, namentlich bei schlechtem Wetter, den weiten Schulweg abzukürzen pflegte. Davon hatte er mir schon während des Unterrichtes das Nötige zugeflüstert, mir auch in der Freiviertelstunde die Tiere gezeigt, die im Stall des Rektors, seines Verwandten, standen, und, da wir denselben Weg hatten, sich erboten, uns nach Hause zu kutschieren.

Glückselig wie die Heimchen saßen wir auf dem kleinen Wagen, den zwei kräftige Böcke dahinrissen. Der Regen hatte sich verzogen, blauer Himmel lachte nieder, und das Bild der lieben Sonne funkelte in den Pfützen, die an den eiligen Rädern aufspritzten. Es war herrlich! und nimmer hätten wir gedacht, daß wir schon nach zwei Minuten über neuer Lust den neuen Freund nebst seinen Ziegenböcken vergessen würden. Als wir aber mit unserem Fuhrwerk in die Nähe des an der Kastanienallee gelegenen Gasthauses «Zur Stadt Bernburg» kamen, standen da zwei fremde Knaben vor der Tür, die Hals und Augen nach uns ausstreckten, als hätten sie noch niemals ihresgleichen gesehen. Schon wollten wir böse werden, da riefen sie uns beim Namen – und nun war es aus mit der Fuhre. Wir flogen aus dem Wagen, und während Adolf Kirchner unbeachtet weiterrollte, begrüßten wir aufs tumultuarischste ein paar alte Dresdner Freunde.

Die neuen Ankömmlinge, Julius und Moritz Kaskel, waren die Söhne eines in Dresden sehr angesehenen Mannes, des Bankiers Michael Kaskel. Die Bekanntschaft dieser Familie hatten wir im Radeberger Bade gemacht und in Dresden weiter fortgesponnen. In dem geselligen Kaskelschen Hause auf der Wilsdruffer Gasse, wie im Koselschen Garten an der Elbe, den die Familie im Sommer bezog, hatten wir Stunden reichen Genusses erlebt. Nach Volkmanns und Schönbergs mochten die Kaskelschen Kinder uns am nächsten gestanden haben, und sie daher hier in der Fremde so unerwartet vorzufinden, war übergroße Freude.

Die steigende Kriegsnot in Dresden hatte den Vater unserer Freunde, der selbst sein Geschäft nicht verlassen konnte, veranlaßt, wenigstens Frau und Kinder wegzuschicken, und unser Weg war auch der ihrige geworden. Während wir beim Rektor Eisfeld deklinierten, waren sie sehr unvermutet in der «Stadt Bernburg» eingelaufen.

Madame Kaskel mietete sich mit ihrem Häuflein in unserer Nähe ein und hielt gute Nachbarschaft. Namentlich teilten wir Kinder fortan Freud und Leid auf allen Wegen, in Schule, Feld und Wald, beim Spielen auf der Straße wie in den Kämpfen mit der Straßenjugend, die uns oft hart bedrängte. Es waren namentlich die Kantorschüler, die mit uns Rektorschülern und Lateinern in herber Feindschaft lebten. Der ganze männliche Nachwuchs des Ortes war durch die Schulen in zwei Lager geteilt, und es war wunderbar, woher die Händel alle kamen. Ich glaube nicht, daß wir sie suchten, wir mieden sie aber auch nicht; aber wir führten sie mit Eifer und wurden selbst darüber zur Straßenbrut.

Bei diesen Kämpfen konnte ich in eine Leidenschaft geraten, die mich aller Vernunft beraubte. Ich entsinne mich, daß ich den einen meiner Feinde, einen großen, starken Jungen, der mich durch einen wohlgezielten Steinwurf in helle Wut versetzt hatte, bis in das Haus seiner Eltern verfolgte. Ich drang mit ihm zugleich ins Zimmer, schlug ihm meinen Bücherriemen um die Ohren und merkte erst, wo ich war, als sein Vater, ein herrschaftlicher Kutscher namens Westphal, die Hetzpeitsche von der Wand riß. Da prallte ich ernüchtert zurück und war schon auf der Straße, als ich hinter mir den Knall der Peitsche und das Grollen des alten Löwen hörte.

Infolge der ungewohnten Freiheit, die wir genossen, war unsere frühere hausbackene Gesittung wunderschnell in wildes Wesen umgeschlagen. Mit Kaskels, die bis dahin gleichfalls unter informatorischer Zucht gestanden, war es nicht anders. Zwar taten wir eigentlich nichts Böses, aber durch wilde Auftritte, wie der obige, wurden wir so berühmt, daß alle etwaigen Vorkommnisse auf unser Konto kamen und nicht das kleinste Steinchen mehr ins Fenster fliegen konnte, ohne daß die Dresdener Brut, wie man uns nannte, in den Verdacht der Täterschaft geraten wäre. Die Eltern konnten dem nicht steuern, denn Isolierung ist in kleinen Orten ganz unmöglich; auch hatten sie in die Natur und in den außerordentlichen Reichtum unserer Erlebnisse keine Einsicht und tadelten höchstens, daß wir erhitzt aussähen. Ich aber kann nicht leugnen, daß es mir selbst manchmal zu arg ward und ich schon deshalb gern aufs Schloß ging, weil ich mich dort von meiner eigenen Ungezogenheit erholen konnte.

Ich hatte gerade damals viele Ideen zu neuen Stücken, die ich mit dem vorhandenen, durch mich ansehnlich bereicherten Materiale aufzuführen vor Verlangen brannte; aber der Prinz wollte immer wieder Kasper und Christel sehen. Wenn ich ihm sagte, wir wollten heute dies oder das aufführen, erklärte er ganz einfach, es würde doch wohl Kasper und Christel werden. Und so wurde es denn auch immer, denn meine Mutter hatte es mir fest eingebunden, nie zu vergessen, daß ich des Prinzen wegen Komödie spiele, er nicht meinetwegen zusähe.

Mein Vater fand, daß ich im umgekehrten Falle jenes Malers zu Dordrecht sei, der nichts anderes malen konnte als eine Glocke, womit er alle Kneipenschilder seiner Vaterstadt zu dekorieren pflegte. Der einzige Unterschied lag in der Farbe: zur blauen, zur roten, zur gelben Glocke; und anders wußten es die unschuldigen Dordrechter nicht seit Menschengedenken – bis endlich ein junger, von der Wanderschaft heimkehrender Gelbschnabel den tollen Einfall hatte, statt der beliebten Glocke einen spanischen Reiter auf seinem Schilde sehen zu wollen. Der Maler sträubte sich: es würde sich schlecht machen, sei wider die Mode und den guten Ton, die Leute würden sich dran stoßen, sie würden das Bild mit Kot bewerfen, und es sei unerhört und ganz unmöglich. Da aber der junge Gelbschnabel dennoch ganz unerschütterlich auf seinem Willen verharrte, so rief der Künstler endlich ungeduldig: «Nun, wenn Mynherr es denn nicht anders haben will, so kann's ja auch ein spanischer Reiter werden; das aber sage ich ihm, viel anders aussehen als eine Glocke wird's drum doch nicht.»


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