Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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4. Eine Entscheidung fürs Leben

Aus dem vorhergehenden Kapitel ist zu ersehen, daß es sich einer in Bernburg schon gefallen lassen konnte. In Kirch' und Schule, in Haus und Garten, einsam und in Gesellschaft, überall fand man seine Rechnung, und ich war mir dessen wohl bewußt; aber dennoch wollte mir die Zeit bis Weihnachten, wo ich nach Hause reisen sollte, wie eine Ewigkeit erscheinen. Sie abzukürzen, verfiel ich endlich auf einen glücklichen Gedanken: an jedem Abend nämlich übertünchte ich in meinem Wandkalender den abgelebten Tag mit Bleiweiß, ihn so gewissermaßen noch einmal vernichtend. Dies Verfahren will ich anderen ungeduldigen Schülern hiermit empfohlen haben, da sie sich auf solche Art das immer merklichere Abnehmen des unvertilgten Restes am leichtesten veranschaulichen werden.

Endlich kam der letzte Pinselstrich. Mit frohem Herzen und guten Zensuren ausgerüstet, stieg ich in den Postwagen und langte gerade am Heiligen Abend in Dresden bei den Meinigen an. Das war denn eine Freude mit alt und jung! Der Bruder fehlte freilich, doch dafür mußte der Lichterbaum entschädigen mit seinem Glanz und seinen Gaben.

Auf meinem Tische stand unter den obligaten Wachsstöcken und Pfefferkuchen ein überaus sauberes Kästchen von duftendem Zedernholz mit zwei Kolonnen der feinsten englischen Farben, so schön, daß einem das Herz beim bloßen Anblick lachte. Es war etwas ganz Herrliches und reizte mich, wie einst der Rotstift meinen Lehrer Roller, zu augenblicklichem Versuche. Noch beim Scheine des Lichterbaumes und in aller Ungeduld und Eile den Pinsel nur im Munde feuchtend, ging ich ans Werk. Es sollte nichts Bestimmtes werden; ich wollte nur Natur und Wirkung der neuen Farben kennen lernen und fuhr auf einer kleinen Elfenbeinplatte mit dem Pinsel gleichgültig hin und wieder. Bald aber interessierte mich die Arbeit, denn es begann sich, hervorblickend aus Wolken, das Brustbild einer mater dolorosa mit Heiligenschein und Schleiern zu gestalten. Das sah gar nicht wie von mir aus, und ich dachte, wenn einer darunter schriebe: Carlo Maratti oder Dolci, Giulio Romano, Tintoretto, und wie sie alle heißen, so würde niemand was dagegen haben. Mein Vater wollte sehen, was ich da machte: «Das kannst du mir schenken», sagte er und nahm die Zeichnung an sich.

Am andern Morgen ward ich sehr unwillkürlicher Zeuge einer schmeichelhaften Unterhaltung. Mein Vater, der keine Ahnung hatte, daß ich im Nebenzimmer alles hören konnte, wo ich mit Tassos «Befreitem Jerusalem» in einer Kanapeecke schwelgte, zeigte mein Farbenpröbchen seinem Freunde Hartmann. «Das», sagte er, «hat mein Sohn gestern abend beim Lichterbaum mit etwas Spucke gemalt.»

Hartmann lachte. «Den Jungen fräße ich auf», erwiderte er, «wenn ich wie du wäre. Da steckt ein Maler drin!»

Es ist oft schwer zu unterscheiden zwischen dem, was wir mit Selbständigkeit zuwege bringen, und dem, was nur zufällig und vereinzelt durch uns entsteht. Wir können sogar ganze Reihen von Erfolgen haben, an denen wir so unschuldig sind wie die Engländer am Siege von Waterloo, und schreiben wir uns deshalb besondere Begabung zu, so können wir sehr niederschlagenden Enttäuschungen entgegensehen. Auch meine Schmerzensmutter mochte von keiner anderen Herkunft sein als von der eines bloß zufälligen Gelingens; wenn aber die alten Meister darin ein Wahrzeichen des Genies erkennen wollten, so war es mir wenigstens nicht zu verargen, daß ich ihnen glaubte.

Von meiner Kindheit an war es in der Familie angenommen und auch mir ein Glaubensartikel gewesen, daß ich Maler werden würde; doch hatten die Warnungen Beckedorffs mich neuerdings geirrt. Auch hatte ich, fortgerissen von der lateinischen Strömung der Schule, die Studien bereits liebgewonnen, so daß mir der Gedanke, vielleicht ganz bei ihnen zu verbleiben, nichts weniger mehr als fremd war. Ich hatte meinen Eltern bereits Mitteilung darüber gemacht und konnte gewiß sein, daß sie meiner Neigung, wohin sie sich auch wende, kein Hindernis in den Weg legen würden. Wenn ich es mir aber nun auch sehr löblich dachte, am grünen Tische oder von der Kanzel das Beste meiner Mitmenschen fördern zu helfen, so konnte ich doch eine gewisse Vorstellung nicht loswerden, die mich zu keinem rechten Entschlusse kommen lassen wollte. Ich dachte mir nämlich den Fall, daß ich dereinst, wenn es zu spät sei, umzukehren, als wohlstudierter Mann zufällig in eine Malerwerkstatt geriete und sähe die Bilder und Geräte und röche wieder den heimischen Duft der Firnisse und Farben: ob ich dann nicht in einen Strom von Tränen ausbrechen und meine Wahl aufs schmerzlichste bereuen würde? Und umgekehrt, wenn ich nun wirklich Maler geworden wäre, und es zeigte sich nachträglich, daß es mir nicht besser ginge als neun Zehnteln aller Maler, das heißt, daß mir die nötige Begabung fehle: was sollte ich dann beginnen?

So zweifelnd war ich noch zum Weihnachtsfest nach Dresden gekommen; aber jenes zufällig erlauschte Lob so kompetenter Richter, wie die ganze künstlerische Atmosphäre des väterlichen Hauses, verfehlten nicht, eine entscheidende Wirkung auf mich auszuüben, und da nun in traulicher Dämmerstunde die Rede auf meine Zukunft kam, erklärte ich meinen Eltern, daß ich am liebsten Maler werden möchte. Damit hatte ich ihren eigenen Herzenswunsch getroffen; aber freilich, meinte der Vater, müsse ich dann, was mir immerhin nicht leicht ward, der Schule bald entsagen, denn man könnte nicht erst Magister und dann noch Meister werden, und wer mit zwanzig Jahren noch kein Bild male, möge die Hand vom Pinsel lassen. Es ward mir indessen doch noch einige Frist für Bernburg gestattet, da es für schicklicher erachtet wurde, erst von Sekunda abzugehen. So weit hatte es seinerzeit mein lieber Vater auch gebracht und damit fürs Leben ausgereicht; es war kein Grund da, weder mich dümmer noch gelehrter sein zu lassen, als er es selbst war.

Die wichtigste Entscheidung für mein Leben war nun getroffen; ich freute mich aufs kindischste meines künftigen Berufes, und mit goldener Aussicht in die Zukunft zog ich eines schönen Morgens von Dresden wieder ab. Begleitet von meinem Vater, der mir die ganze Ferienzeit mehr Teilnahme geschenkt hatte als je zuvor, ging ich der Lohnfuhre, in die ich eingemietet war, ein gut Stück Wegs zu Fuß voraus, und jener war so ganz besonders gut und mild, daß er mir proponierte, mir zum Abschied noch eine Gnade auszubitten. Ich bat natürlich um die Erlaubnis, zu rauchen, und erhielt sie mit der Einschränkung, daß es nicht mehr als eine Pfeife in der Woche werde, was ich versprach. Als der Wagen uns jedoch eingeholt hatte und ich einstieg, rief mir der gute Vater doch noch nach: «Kannst du's einmal nicht lassen, so stopfe eine zweite und sprich dabei: ‹Mein Vater hat mir's zwar verboten; ich tue es aber doch!›» In diesem Wort war Weisheit, es schärfte mein Gewissen, indem es mich doch von der Kette band.

Auf der Mittagsstation in Meißen angelangt, rannte ich sogleich zum Drechsler und kaufte mir eine Pfeife, und zwar eine recht geräumige, denn zwar wollte ich pflichtgetreu nur einmal in der Woche stopfen, aber nicht nur einmal rauchen, vielmehr imstande sein, unter Umständen jeden günstigen Moment dazu wahrzunehmen. So hielt ich's jahrelang, und am Ende der Woche war die Pfeife stets so vollkommen ausgeraucht, daß aus der Asche auch der kleinste Bruchteil eines Tabaksblättchens nicht mehr herauszufinden gewesen wäre. Auch kaufte ich mir eine Tüte Tabak, und diese in der einen, die langgequastete Pfeife in der andern Hand, schlenderte ich den Domberg hinan, um der schönen Kirche vor dem Essen noch einen Besuch abzustatten.

Die Kirchtüre stand offen, und wenn schon auf dem Orgelchore einige Knaben sangen, so hatte ich doch kein Arg darin und meinte, der Kantor übe etwa seine Schule. Ich wanderte daher in dem völlig leeren Schiff der Kirche mit meiner langen Pfeife sehr ungeniert umher, ging von einem Gegenstand zum andern und machte zuletzt vor dem Altare Halt, um mir das uralte Bild zu betrachten. Da hörte ich eine ernste Stimme hinter mir: «Es ist hier Gottesdienst!» Ich fuhr herum, und vor mir stand ein Geistlicher im Ornat.

Beschämt verzog ich mich in den nächsten Kirchstuhl, hörte die Vorlesung eines Abschnitts der Heiligen Schrift mit an samt den darauf folgenden Responsorien und konnte es mir eigentlich nicht besser wünschen, denn man erkennt den rechten Wert der Dinge erst beim Gebrauch. Der Dom ward jetzt gebraucht, und seine schlanken Säulenbündel und himmelhohen Spitzgewölbe wurden jetzt erst recht verständlich durch die heiligen Worte, die vom Altar gesprochen wurden, so wie diese durch die hehre Majestät des königlichen Baues an Würde nur gewannen. Ich versank in Andacht und konnte mich nicht losreißen, besonders da nun wieder die Orgel erklang und einen neuen Choral intonierte.

Noch einen Vers, dachte ich, und dann eilig fort, um vor der Abfahrt noch etwas zu essen. Dazu war's allerdings die höchste Zeit, und schon zog ich die Füße an, um aufzustehen und mich davonzumachen – siehe! da stand die schwarze Gestalt des Pastors dicht vor mir auf der Kanzel auf; ich aber streckte die Beine wieder aus, denn unmöglich konnte ich es über mich gewinnen, als einziger Zuhörer dem einsamen Prediger so gerade vor der Nase durchzubrennen. Aber ebenso unmöglich war's auch, zu bleiben, wollte ich nicht anders der Mahlzeit quitt gehen oder gar zurückgelassen werden. Abermals zog ich die Füße an, und abermals streckte ich sie wieder von mir, bis ich endlich in großer Gemütsschwäche sitzen blieb wie ein Jean Paulscher Narr. Ich war gefangen.

Vielleicht, dachte ich, werde der Kutscher warten oder der Prediger aufhören. Dieser hätte zwar, unsern beiderseitigen Vorteil bedenkend, mit dem Segen anfangen und schließen mögen; vielleicht aber hatte er lange keinen Zuhörer gehabt. Er ergriff daher die Gelegenheit beim Schopf und sagte ohne Erbarmen alle drei Teile seiner Predigt her.

Man sagt, daß der, welcher redet, sich in der Gesellschaft am besten amüsiert. Dies war hier augenscheinlich der Fall, denn während ich nur Worte hörte, die wie Sandkörner auf mich niederrieselten, mich zu verschütten und zu ersticken drohten, deklamierte jener mit steigender Freudigkeit und Breite. Je eifriger er mir die Ohren füllte, desto hohler ward ich in meinem Innern, und je fester er auf seiner Kanzel einwurzelte, desto lockerer saß ich auf meiner Bank. Ich glaubte, er sei entschlossen, dort oben zu leben und zu sterben, wie weiland Simeon Stylites auf seiner Säule, rückte von einer Seite auf die andere, steckte die Hände in die Taschen und zog sie wieder heraus, schneuzte mich und zweifelte, ob ich die Rede überleben würde.

In dieser verzweifelten Lage überraschte mich fast noch das Amen, das einem Zauberschlage gleich die ganze Situation veränderte und meine Ketten sprengte. Wie ein Sperling aus der geöffneten Hand des Vogelstellers entflatterte ich mit meiner langen Pfeife, schoß den Domberg hinunter und hörte schon von weitem den ungeduldigen Kutscher mit der Peitsche knallen. Die ganze Gesellschaft saß bereits im Wagen, und auf meine entschuldigende Erzählung ward ich belehrt, daß jedenfalls jener Pastor durch mich nicht weniger geniert gewesen sei als ich durch ihn, denn, sagte man, wenn ich nicht dagesessen hätte, würde er kein Narr gewesen sein, zu predigen. Zu meinem Trost tat ich die ersten Züge aus meiner neuen Pfeife und freute mich aufs Abendessen.

Die weitere Reise muß nichts zu wünschen übriggelassen haben, da ich mich ihrer nicht mehr erinnere. Nach Bernburg zurückgekehrt, hatte ich aber nicht viel anderes mehr im Kopf als Zeichnen und Malen und konnte es nicht lassen, mich in freien Stunden sogleich vor Eduards erstaunten Blicken zu ernster künstlerischer Tätigkeit anzuschicken. Fürs erste brannte ich Reiskohle, bespannte ein altes, umgedrehtes Blumenbrett mit grauem Packpapier und verfinsterte das Zimmer sehr unnützerweise wie eine Malerwerkstatt. Wie unbeschreiblich selig fühlte ich mich nun, als alles vorbereitet war und ich mich eines Sonntags nachmittag vor meinem Papiere niederließ, um mit einer lebensgroßen Schmerzensmutter zu debütieren! Aber Eduard opponierte. Ich sollte doch lieber etwas Kräftiges malen, sagte er, einen Ajax, Diomedes oder am besten einen zürnenden Propheten.

Künstler sind immer abhängig von ihrem Publikum, und außer Eduard hatte ich keins. Ich mußte mich seinem Verlangen fügen und zeichnete einen massiven Männerkopf mit struppigen Haaren, wüstem Bart und rollenden Augen, ähnlicher einem Rasenden, wie ich jetzt glauben möchte, als einem zürnenden Propheten. Die Arbeit ging rasch von der Hand, und das Publikum nahm den lebhaftesten Anteil. Nur mit dem Kostüm schien Eduard nicht ganz einverstanden, da sich seiner Meinung nach für einen so männlichen Propheten eine nackte, haarige Brust gehörte. Ich willfahrte auch dieser Forderung, öffnete das Gewand und ließ ein Gestrüpp von krausen Locken sehen. Jetzt rief Eduard: «Herrlich!» und schien ganz befriedigt; mir aber flößte mein Opus anderen Tags schon solchen Widerwillen ein, daß ich es vernichtete. Mit ähnlichen Erfolgen ward noch manches andere Bild in Angriff genommen und viel Zeit damit verdorben; aber trotz dieser künstlerischen Allotrien vernachlässigte ich doch auch meine Schularbeiten so wenig, daß ich bei der Osterversetzung samt meinem Nachbar Piepvogel nach Sekunda aufrückte.

Nach Sekunda! Es ist dies das wichtigste Avancement, was auf lateinischen Schulen vorkommt, der Eintritt aus den Propyläen in den eigentlichen Tempel. Wohl gibt es schon in den niederen Klassen viel staunenswerte Weisheit, aber erst in Sekunda beginnt man zu begreifen, warum man etwas weiß, weil das Gewußte hier zu einiger Anwendung gelangt und seine Frucht trägt; und daher stellt sich gemeiniglich auch erst in dieser Klasse der rechte Trieb zur Arbeit ein. Ich freilich gehörte der Schule nur noch mit halbem Herzen an, und wenn ich mich des raschen Eintritts in die höhere Klasse freute, so wesentlich nur deshalb, weil ich sie als den ersten Schritt und als Bedingung meines demnächstigen Austritts aus der Schule ansah. Ich meldete meinen Eltern, daß ich nun so weit sei, und sah der nächsten Zukunft mit ungeduldiger Erwartung entgegen, der unaussprechlichen Herrlichkeit, nicht nur in Nebenstunden, sondern zu allen Stunden nichts anderes zu tun als Zeichnen und Malen.


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