Wilhelm von Kügelgen
Jugenderinnerungen eines alten Mannes
Wilhelm von Kügelgen

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Vierter Teil

1. Die Rückkehr des Königs

In Sachsen hatte sich während der Zeit unserer Abwesenheit sehr viel verändert. Die Zustände waren besser und schlechter geworden. Zwar waren es harte Drangsale gewesen, denen das geängstete Land im Jahre dreizehn fast erlag; aber jetzt, da es, freier aufatmend, sich den Schweiß vom Angesicht wischte, erblickte es vornehmlich nur das Unrecht, das seine Befreier ihm anzutun gedachten. Gerade jetzt, da endlich die fremden Dränger ausgetrieben waren, die übrigen deutschen Stämme, den Frieden und das wiederkehrende Recht begrüßend, in jugendlicher Freiheit erstanden und allerlei geraubter Besitz zurückging in die Hände der rechtmäßig Besitzenden, sah das arme Sachsen sich mit seinem Könige von solcher Gerechtigkeit ausgeschlossen. Der edle König saß im fremden Lande als Gefangener, büßend für die Sünden, die wesentlich nicht er, sondern die begangen hatten, die ihn gefangenhielten. Nicht seine Schuld war es gewesen, daß die Eifersucht deutscher Großmächte die Hoheit des Reiches unter die Hand eines Fremden beugte, und nicht er hatte, wie so manche andere, partikulären Vorteils halber mit der Gunst des Auslandes gebuhlt. Er war ganz ehrenhaft mit den Waffen in der Hand unterlegen und hatte sich dem Feinde erst dann verbündet, als er sich von seinen Riesenarmen umklammert fand. Und endlich – was konnte er dafür, daß er der letzte war, den der Übermächtige aus jener tödlichen Umarmung entließ?

Ebensowenig konnte man dem Lande einen Vorwurf machen. Das Volk war immer deutsch gesinnt, nichts weniger als verblendet durch die Vorteile, welche die französische Allianz gewährte. Es hatte die Befreiungsheere mit offenen Armen empfangen, ihnen jeden Vorschub geleistet, und selbst die Armee hatte bei Leipzig den schmerzlichsten Beweis geführt, daß sie nur deutsch sein wollte.

Wenn also Sachsen dennoch als Feindesland behandelt wurde, so blieb kaum etwas anderes zu denken übrig, als daß Europa einzig und allein gegen Sachsen Krieg geführt, denn daß dies gegen Frankreich nicht geschehen, hatten die Mächte nicht allein erklärt, sondern die Natur des Friedensschlusses hatte es auch bewiesen. Frankreich war als befreundete Macht mit der zartesten Schonung behandelt worden; aber Sachsen sollte mit seinem Herzblut zahlen. So urteilte man damals in Dresden, wahrscheinlich auch heute noch, und ob mit Recht oder Unrecht, mögen diejenigen entscheiden, die sich die Geschichte jener Tage genauer angesehen haben als der Schreiber dieses.

Wir fanden vorerst ein russisches Gouvernement im Lande. Aber obschon dieses die gesprengte Brücke aus Landesmitteln restaurierte, auch von der Brühlschen Terrasse herab auf den Schloßplatz eine schwerfällige Treppe niederführte, so war die Stimmung, wie gesagt, doch sehr verbittert und verbitterte sich noch mehr, als im November an die Stelle der russischen eine preußische Verwaltung trat. Gleichzeitig begannen auch die Sitzungen des Wiener Kongresses. Von dort sollte die Entscheidung kommen, und welche es auch sein mochte, so ahnte man es doch in Sachsen, daß der schwarzweiße Storch den grünen Elbfrosch auf eine oder die andere Art verspeisen würde.

Rußland, dreimal größer als ganz Europa, mochte immer noch zu eng sein, um sich an sich selber genügen zu lassen. Es verlangte nach Lohn zu seiner Befreiung. Aber zu großmütig, diesen von Frankreich zu nehmen, gegen das es ja keinen Krieg geführt hatte, schien es ihm angemessener, sich, wie beim Tilsiter Frieden, an seinem Bundesgenossen zu erholen; es beanspruchte Warschau, und Preußen mochte sich dafür an Sachsen schadlos halten, das zufälligerweise niemandem gehörte. Die Sache war einfach genug, und man schien nur noch zu streiten, was besser sei: alles zu nehmen oder bloß das meiste. Darum stritt man auch in Dresden, und es waren gewiß nicht die schlechtesten Patrioten, die das völlige Aufgehen des Landes in Preußen einer Zerstückelung vorzogen. Dieser Ansicht war auch mein Vater. Er fürchtete Verkümmerung für den zurückbleibenden Rest eines geteilten Landes und ward dafür von anderen hart getadelt, die ihrem geliebten Könige, damals vielleicht dem edelsten und gewissenhaftesten Monarchen der Welt, lieber jenen Rest als nichts erhalten wollten, sowie einem Teil der Bevölkerung wenigstens den altberühmten Namen.

Diese letztere Partei trug eiserne Ringe mit des Königs Bildnis, Kokarden an den Hüten, verachtete die Andersdenkenden und haßte Preußen wie den Tod – dasselbe Preußen, das vor kurzem noch als Vorkämpfer deutscher Freiheit so bewundert, so ehrenwert und groß gewesen, nun aber seinen Lohn dahinzunehmen schien. Ob es nun die Ringe taten, die Kokarden und der Haß, kurz, diese sächsische Partei behielt den Sieg, und Sachsen ward geteilt. Der größere und fruchtbarste Teil des alten Kurlandes ward abgerissen, und die altangestammte Treue der Untertanen umgeschworen. Was aber übrigblieb, empfing und ehrte den endlich im Juni zurückkehrenden König wie einen vom Tode auferstandenen Vater.

An diesem herzlichen Empfange beteiligte sich ein jeder nach Maßgabe seiner Begeisterung, seiner Mittel und seines Geschmackes. Einheimische und Fremde wetteiferten miteinander, dem gekränkten Könige ihre Teilnahme zu beweisen. Allen zuvor an Sinnigkeit und persönlicher Dahingabe aber tat es der obberegte Fürst Putjatin.

Der König kam von Böhmen her und hatte unweit Pirna das dem Fürsten gehörige Landgut Zschachwitz zu passieren. Hier angelangt, fand er sich durch singende Schulkinder aufgehalten, und zwar unmittelbar unter einer Ehrenpforte, in deren Wölbung eine kolossale Blumenkrone schwebte. Darin wiegte sich wie in einer Schaukel höchstselbst der alte Fürst und begrüßte den erschrockenen Monarchen von oben herab mit einer französischen Jubelrede, ihn reichlich mit Rosen bestreuend. Aus Furcht vor dem Blumenhagel soll der König gar nicht aufgeblickt und nichts erwidert haben. Erst beim Weiterfahren äußerte er gegen den neben ihm sitzenden Kavalier, der Prinz Putjatin scheine ihm etwas mentekapt zu sein.

Ich war damals ein Junge von zwölf Jahren, nahm aber lebhaften Anteil an den Dingen, die ich täglich verhandeln hörte. Bei dem Enthusiasmus, den ich von meinen Reisen für alles Deutsche zurückgebracht hatte, ärgerte und irrte mich sowohl das Verhalten Preußens gegen Sachsen als auch die brudermörderische Stimmung Sachsens gegen Preußen. Recht eigentlich Partei zu nehmen vermochte ich daher nur gegen die, freilich erst durch Provokation wachgerufenen undeutschen Sympathien, die sich hin und wieder, und namentlich nach Napoleons Rückkehr von Elba, selbst unter Schulkindern zeigten. Von neuen Siegen des erkannten Erbfeindes Besserung zu erwarten, schien zu empörend und diente sächsischer Landsmannschaft nicht gerade zur Empfehlung. Wer aber undeutsch war, der war zu solcher Unnatur erst durch das Unrecht angestiftet, das Deutsche Deutschen angetan, und solches Unrecht ist von alten Zeiten her der alleinige Grund der großen Demütigungen gewesen, die unser teures Vaterland vom Auslande zu erdulden hatte.

Die Angersche Schule

Als wir von Hummelshain zurückgekehrt waren, fanden mein Bruder und ich uns sogleich wieder in jenem eigentümlichen Gedränge bunten Lehrerwechsels, der wie ein Schicksal an unserer Jugend haftete. Fürs erste hatte man uns von neuem den Unterricht im Schönbergschen Hause teilen lassen, aber nur auf kurze Zeit, da der Magister Schulz ein Pfarramt annahm und Freund August der Schnepfentaler Anstalt übergeben wurde. Hierauf ein abermaliger Durchgang durch das Haansche Institut, bis wir aus vergessenen Gründen auch von dort wieder weggenommen und der in nächster Nähe gelegenen Neustädter Rektorschule übergeben wurden.

Das gute Ansehen, in welchem diese Schule stand, dankte sie dem Talente und Verdienste des derzeitigen Rektors Anger, eines trefflichen Schulmannes, dessen Liebenswürdigkeit und natürliche Würde zwanglose Disziplin hielt. Die Schüler wurden im Lateinischen bis zur Quarta, wohl auch zur Tertia der Gymnasien gefördert, während der Standpunkt dieser Gymnasialklassen in den Realien überschritten wurde.

Der Religionsunterricht, vom Rektor selbst erteilt, ward jeden Morgen mit einem Choral eröffnet, welchen der musikalische Mann auf der wohlklingenden Schulorgel zu begleiten und mit einem Vorspiel einzuleiten pflegte. Diese Präludien waren jedenfalls das beste an der Sache; es waren freie die Ausdehnung gewöhnlicher Vorspiele weit überschreitende Phantasien, in welche der Spielende die ganze Fülle seiner religiösen Empfindung ausströmte, und zwar so gründlich, daß für den darauffolgenden Unterricht davon nichts mehr übrig zu bleiben schien.

Was Anger uns lehrte, war weniger Christentum als vielmehr Angertum. Zwar wurde jedem Vortrag ein Kapitel aus den Evangelien zugrunde gelegt, nicht aber als Glaubensbasis, sondern wunderlicherweise als Gegenstand einer das Verständnis der Klasse weit überbietenden Kritik, welche ermitteln sollte, was in dem verlesenen Abschnitt Wahrheit, was temporärer und lokaler Glaube, und was offenbarer Unverstand sei. Als Wahrheit blieb dann eigentlich nur das zurück, was sich für jedermann, der sich nicht gerade Ohrfeigen zuziehen will, von selbst versteht.

Es trat mir hier zum ersten Male in meinem Leben der nackteste Rationalismus ohne alle Heuchelei mit offenem Visier entgegen; ich erkannte aufs deutlichste den Unterschied zwischen dem Bekenntnis meiner Mutter und dem Bekenntnis Angers und fühlte mich zu sehr entschiedenem Widerspruch aufgeregt, den ich mich denn auch gelegentlich nicht enthalten konnte laut werden zu lassen.

Mein lieber Anger – ich kann nicht leugnen, daß ich ihn trotz seiner Neologie noch heute lieb habe – pflegte in seinen Religionsvorträgen nicht selten naturgeschichtliche, physikalische und physiologische Exkursionen zu machen, um uns zu zeigen, was sein könne und was nicht. So hatte er uns einmal die Lebensbedingungen des menschlichen Körpers und die Veränderungen geschildert, welchen derselbe im Tode unterworfen sei, um die Unmöglichkeit zu erweisen, wirklich Totes wiederzubeleben. Da trieb mich's auf von meinem Sitze, und so verlegen ich auch war, brachte ich's doch glücklich heraus, daß, was vor Menschen unmöglich sei, doch wohl dem allmächtigen Gott gelingen möge, und ob denn Christus nicht auferstanden sei?

Ein beifälliges Gemurmel ging durch die Klasse, und der arme Rektor mochte in einiger Verlegenheit sein, da er trotz des herrschenden Rationalismus doch so weit nicht gehen durfte, die Auferstehung Christi vor Schulkindern zu leugnen. Was er erwiderte, weiß ich nicht mehr, mochte es auch nicht verstanden haben. Vielleicht sagte er, daß ein erwiesenes Wunder wie dieses allerdings nicht zu bezweifeln sei, daß aber der großen Unkenntnis alter Zeiten manches als Wunder erschienen sein möchte, was ganz natürlich oder vielleicht auch gar nicht zugegangen sei und bloß auf superstitiösem Hörensagen beruht haben möge. Jedenfalls nahm er mir dergleichen Einwürfe nicht übel und blieb mir immer freundlich.

Mit besserem Erfolg als die Religion behandelte Anger die übrigen Zweige seines Unterrichtes, namentlich Physik und Geometrie, die meine Lieblingsdisziplinen wurden. Die geometrischen Wahrheiten ließ er uns, wie ehedem Senff die arithmetischen, soviel als möglich selbständig finden und regte uns überdem noch durch Privataufgaben zu eigenem Forschen an. Daß ich damals die Quadratur des Zirkels nicht erfunden habe, war nicht meine Schuld; gebrütet habe ich sehr viel darüber. Einmal erlaubte ich mir sogar recht triumphierend in der Schule zu erscheinen, weil ich endlich das Problem gelöst zu haben glaubte. Ich war auf den ingeniösen Gedanken geraten, einen Zwirnsfaden genau um einen pappernen Zylinder zu passen und dann denselben Faden mittelst Stecknadeln in ein Quadrat zu spannen. Das Quadrat war leicht zu messen, und es ergab sich daraus, daß ein Zirkel von soundso viel Diagonaldurchmesser soundso viel Quadratmaß halten müsse. Ich wurde aber nur ausgelacht mit meinem Fündlein.

Ganz besonders und vorzugsweise interessierte mich die Physik, welche Anger auf so klare Weise vortrug, daß mir das damals Erkannte großenteils noch heute geläufig ist. Hierzu mochte der Umstand helfen, daß die Schule ohne allen physikalischen Apparat war. Der Lehrer war genötigt, die fehlenden Instrumente in allen ihren Teilen scharf und genau an die Schultafel zu zeichnen, und indem ich sie nachzeichnete, begriff ich sie vollständiger, als dies durch das Anschauen wirklicher Maschinen gelingen mochte. Durch so erlangte Einsicht fand ich mich befähigt, mir mancherlei Instrumente selbst anzufertigen und dann für mich das in der Schule Erlernte zu erproben. Ich studierte die Schwingungen des Pendels und der Darmsaiten, machte Versuche mit der Chladnischen Tafel, fabrizierte eine Wasserwaage aus Wachs und brachte aus Pappe, Stanniol und Pech einen Elektrophor zustande, der so wohl geriet, daß ich ihn mit Ehren in der Schule präsentieren konnte.

Da nun mein Vater sah, mit welchem Eifer ich diesen Studien nachhing, schenkte er mir eine kleine veritable Elektrisiermaschine. O welch ein Glück war das! Ich vergaß darüber sogar den Kosakensäbel und frappierte die ganze Hausgenossenschaft, von den Eltern an bis hinab auf Talkenberg, der wieder Stiefel putzte, durch derbe elektrische Schläge. Den Apparat vervollständigte ich von Tag zu Tag, machte ganze Batterien von Leidener Flaschen, Blitztafeln, Isolierschemel und dergleichen und gab Vorstellungen, die auch die Großen mit ihrer Gegenwart zu verherrlichen geruhten.

Endlich ward durch das Interesse, welches alle an diesen Wundern nahmen, auch unser Hausarzt, Dr. Pönitz, bewogen, mit seinem reichen Apparate bei uns zu experimentieren. Da sah ich die erste Voltasche Säule und spürte ihre Zauberwirkung, ich lernte die Kräfte des Magnetes kennen, sah Stahlfedern Sauerstoff verbrennen und mehr dergleichen Sonderbarkeiten. Es entstanden mannigfache Fragen, und wenig fehlte, so hätte ich mich entschlossen, mein künftiges Leben gänzlich dem Studium der Naturkräfte zu widmen.


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