Adolph Freiherr Knigge
Der Traum des Herrn Brick
Adolph Freiherr Knigge

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Fünfter Abschnitt

Von der geistigen und sittlichen Bildung der Mitglieder

Es ist nicht genug, daß unser ehrwürdiger Orden aus einer großen Menge von Mitgliedern bestehe; sie müssen auch auf einen Ton gestimmt und zu unsern gemeinnützigen Zwecken gehörig gebildet werden. Mit dem sichersten und besten Erfolge geschieht dies in der frühern Jugend, und deswegen sollen unsre Mitglieder sich bestreben, nicht nur ihre eignen Kinder den Grundsätzen des Ordens gemäß zu behandeln, zu unterrichten und zu bilden, sondern auch allerorten Einfluß auf die Erziehung der Jugend zu erhalten. Da aber die Zeiten sich, leider! verändern, so können auch unsre Edukationssysteme nicht immer dieselben bleiben. Auch dafür haben unsre lieben, väterlichen Obern gesorgt und besonders seit zwanzig und einigen Jahren eine ganz neue Norm eingeführt, denn Norm muß nun einmal stattfinden; Gleichförmigkeit in der Erziehung ist notwendig; alle Kinder müssen auf denselben Fuß behandelt werden, und es ist eine Einwendung, worauf man nicht achten muß: »daß sich keine allgemeine Vorschriften für die Erzieher geben ließen, daß nur Erfahrung und Studium der einzelnen Charaktere uns lehren müßten, welche Methode bei diesem oder jenem Kinde anwendbar wäre, daß die Natur ihre Gaben mannigfaltig austeilte und ebenso mannigfaltig auch die Behandlung der einzelnen Subjekte sein müßte«. – Das alles gilt bei uns nichts, und grade unsre einförmige Methode allein kann uns dafür bürgen, daß wir dem Staate Menschen liefern, welche nicht die Grenzen der goldnen Mittelmäßigkeit überspringen. Dies ist der große Hauptzweck, und will man wissen, ob unser Orden in irgendeinem Philanthropin oder andern Institute von der Art das Übergewicht habe, so beleuchte man die daraus hervor in die Welt tretenden Zöglinge! Findet man darunter keine unruhige Köpfe, die in der Welt unnützes Aufsehn machen, so ist die Anstalt gut und empfehlenswert, und, gottlob! das ist bei den mehrsten neuern Anstalten von der Art der Fall. Wir wollen aber von der ältern und neuern Pinselerziehung, von jeder insbesondre, reden. Vormals hielten wir die Kinder in den ersten Jahren sehr warm; sie durften auch nicht zwecklos den Körper bewegen. Man wickelte sie desfalls fest ein, gab ihnen nachher Schnürbrüste und ließ sie, wenn sie gehn konnten, welches sie aber nicht zu früh lernen durften, nicht, wie die Tiere auf dem Felde, herumspringen, sondern gewöhnte sie beizeiten, sich, wie erwachsene Personen, sittsam aufzuführen, auch nicht zu reden, als wenn sie gefragt wurden. Die Kleidung war fest an den Leib anschließend, und die Haare wurden beizeiten gekräuselt. Man gab dem schwachen Magen nur weiche und warme Speisen und Süßigkeiten, aber desto öfter des Tags. Auch ließ man sie fein lange schlafen und morgens und abends, sowie vor und nach den Mahlzeiten, auch wenn die Betglocke schlug und bei Gewittern, die erforderlichen, auswendig gelernten Gebete hersagen. Der Unterricht bestand in dem Auswendiglernen, und wenn sie ihre Lektion nicht ordentlich wußten, so bekamen sie die gehörigen Schläge. Allein man quälte sie nicht über eine bestimmte Zeit in der Schule, und sobald die Glocke schlug, kamen sie los. Der Hauptunterricht ging in den ersten vierzehn Jahren auf die dogmatischen Lehren der Kirche hinaus. Man litt nicht, daß sie räsonierten und nach den Ursachen oder dem Beweise von diesem oder jenem Befehle und Satze fragten, sondern es mußte ihnen genug sein, wenn man ihnen sagte: »Es ist so und nicht anders.« Man litt aber nicht, daß sich der Lehrer herausgenommen hätte, sie für Unarten zu bestrafen, die mit dem Lernen nichts gemein hatten, sondern das blieb ein Vorrecht der Eltern. Der Informator wurde angehalten, jungen Herrn von Stande mit der gebührenden Achtung zu begegnen. Überhaupt wurde es den Kindern beizeiten eingeprägt, was die gemeinen Leute denen von vornehmer Geburt schuldig wären. In der Eltern Gegenwart durften die Kinder nicht reden. So wie die Strafen in Schlägen bestanden, so wurden hingegen Folgsamkeit und Fleiß durch Geld und andre Geschenke, an Spielsachen und Eßwaren, belohnt. Die Strafe erließ man, wenn ein Fremder für die Kinder bat.

Die neuere Pinselerziehung muß ganz anders traktiert werden, weil sich Zeiten und Menschen verändert haben. Sobald der Knabe in die Welt guckt, wird er in kaltes Wasser getaucht und das so fort alle Tage. Ja, kreische du nur! Warum haben deine Eltern so eine papierne Puppe an den Tag gefördert? Darunter kann unsre Methode nicht leiden. Steht der Junge ab, so wäre er doch früh oder spät gestorben; und was ist der Menschheit mit einem solchen Breiklumpen gedient? Die Mutter muß dem Kinde selbst die Brust geben; ist sie schwächlich, da sehe sie zu! Wir wollen nicht, daß unsre Kinder mit der Ammenmilch die unanständigen Gewohnheiten der Bauermenscher einsaugen; und das kann doch nicht fehlen. Kein Gängelband! Müssen doch andre Tiere so lange auf Gottes Erdboden herumkriechen, bis sie sich selber helfen können. Fallen sie sich Löcher in den Kopf, so wird die Wunde mit kaltem Wasser gewaschen; Narben verunstalten nicht. Weite Kleider! Der Knabe muß springen, Purzelbaum schlagen – Brüche lassen sich heilen –, sich mit andern Jungen raufen, sich im Schnee und Kote herumwälzen – kurz, tun, was er will. Kein Zwang in den glücklichen Jahren der Kindheit! Früh genug wird er das Joch tragen lernen. Er soll den Frühling des Lebens genießen; kömmt er nachher in Lagen, wo er seinen eignen Willen verleugnen muß, ei nun, so mag er sich fügen und gewöhnen, so gut er kann. Er muß reden dürfen, was er will, nach allen fragen, nichts tun, nichts glauben, als wovon er Grund und Ursache einsieht. Soviel uns daran gelegen ist, daß Männer mehr glauben als selbst denken, so unschädlich, ja, zu unsern Zwecken dienlich ist es, Knaben räsonieren zu lassen, denn das gibt ihnen eine Zuversicht zu ihren eignen Einsichten, die vor tiefen Grübeleien bewahrt. Schläge gehören für Tiere, nicht für vernünftige Wesen, und wenn gleich ein Kind noch kein vernünftiges Wesen ist, so soll es doch dies einst werden. Zudem kann man leicht zuviel strafen, und wenn eine Sache gemißbraucht werden könnte, so wirft man sie lieber ganz weg. Auf Alter, Erfahrung und Stand sollen die Kinder noch gar keine Rücksicht nehmen; wenn sie einst in die menschliche Gesellschaft treten, so wird ihnen das schon gewiesen werden, und passen sie sich dann nicht da hinein, so mögen sie sich von bürgerlichen Verhältnissen losmachen, für sich leben oder als Schriftsteller, Pädagogen etc. ganz für unsre Zwecke würken! Das Gedächtnis soll in der Jugend geschont werden; also nichts auswendig gelernt! Fremde Kenntnisse sind nichts wert; man muß alles selbst erfinden. Überhaupt aber sind die mehrsten sogenannten Wissenschaften unnütze Pedanterei. Regeln sind Fesseln, und Fesseln taugen nicht. Von Sprachen faßt man soviel auf, als nötig ist, um sich darin verständlich machen zu können; was man das Genie, die Philosophie der Sprache nennt, das dient zu nichts und ist sehr mühsam zu erlernen; alles Mühsame aber soll man fliehn. Der Knabe muß nur dann arbeiten, wenn er Lust dazu fühlt; zum Mühsamen aber hat er nie Lust, also bleibt das Mühsame weg. In spätern Jahren ist noch immer Zeit, sich an Anstrengung und Überwindung von Schwierigkeiten zu gewöhnen, ohne welche freilich, leider! nichts zu erlangen ist, solange wir nicht in allen Ländern das Übergewicht erhalten. Eine goldne Methode beim Unterrichte der Jugend ist die von uns allein erfundne Art, im Spielen zu lehren; wer früh an diese so nützliche Spielerei gewöhnt worden ist, der wird uns gewiß nie untreu. Überhaupt, sosehr auch die neuere Pinselerziehungsmethode mit der ältern im Widerspruche zu stehn scheint, so führen doch beide Extreme sicher zu einem Zwecke, zu der goldnen Mittelmäßigkeit. Der Unterschied besteht nur darin, daß man ehemals den Menschen zu ihrem Besten die Füße band, damit sie ein gewisses schädliches Ziel nicht erreichten, statt daß man sie jetzt an Bockssprünge gewöhnt, damit sie darüber hinaushüpfen. Ja, diese letzte Art ist gewiß die zweckmäßigste. Ein unruhiger Kopf kann Mittel erfinden, seine Bande zu lösen, und dann hat er das Ziel noch immer vor sich; aber wer einmal einen Sprung überhin getan hat, der sieht nichts mehr vor sich und gerät auf so viel kleine Nebenwege, daß er nie wieder auf den Hauptpfad zurückkommen kann.

Soviel von Erziehung unsrer Jugend! Auf welche Weise auch erwachsene Mitglieder mit dem Geiste des Ordens genährt werden und nach welchen Grundsätzen im Moralischen, Intellektuellen, Politischen, Ökonomischen usf. ein echter Pinsel handeln und nicht handeln müsse, das soll in den folgenden Abschnitten gelehrt werden.


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