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Dann aber, ganz plötzlich – so ist der Mensch – hatte ich genug davon, mit einem unbeschriebenen Herzen einherzugehen, und ich beschloß mir wieder eine Vergangenheit anzuschaffen. Ich ging hinein ins Dorf und hielt Umschau unter den Töchtern des Landes.
Das Glück lächelte mir. Meine Augen fielen auf Yvonne, die Tochter Amoriks.
Ich machte Einkäufe bei Noel. Noels Bar und Laden mit all den von der Decke herabhängenden Talglichtern und Seilen sah wie eine Tropfsteinhöhle aus. Und doch war sie die geistige und gesellschaftliche Zentrale der Insel und das Leben war hier im vollen Schwung.
Der dicke Briefträger und Chef der Post saß an seinem kleinen Tischchen und sammelte Kräfte für den nächsten Posttag. Bei den Mehlsäcken stand der Großvater, ein ehemaliger Schiffskapitän, der sich die Hölzer auf den Planken krumm gestanden hatte, und döste vor sich hin wie ein im Nachdenken versunkener Maulesel. Das ganze Jahr stand er so und nie sprach er ein Wort. Einmal wagte ich es ihn anzureden. C’a marche, capitain? Er drehte langsam bei, sah mich erstaunt an, bewegte die Kinnlade und sagte: Merci. Dann schwenkte er wieder und stand wie zuvor.
Der rote Noel hantierte hinter der Bar, schwitzend vor Eifer und Wohlbehagen. Zuweilen kommandierte er mit lauter, hallender Stimme: »Antoinette, Josephine, Maria!«, und die kleinen Mägde mit den weißen Hauben, die in dunklen Löchern und Winkeln wühlten, antworteten singend: jaa! und unterdrückten einen Fluch.
Noel setzte mir ein Konzert von Schnäpsen vor. Das tat er immer. Er führte alle großen Marken der Welt, und ich mit meinem europäischen Gaumen mußte sie prüfen.
Ich nahm das erste Gläschen und goß es hinter die Binde, ich nahm das zweite, das dritte – »hm!« Noel machte verzückte Augen – »gut, gut!« – Noel lachte, daß ihm der Schleim aus dem Rachen fuhr – »ah, das ist ein Likörchen!« – Noel drehte sich auf dem Absatz und klatschte auf die Schenkel.
»Ja, das ist ein Likörchen, sage ich, wie?! In Paris bekommen Sie ihn nicht besser! – Antoinette, Josephine, Maria, man muß die Lampe anzünden!«
»Jaa!« ( Nom de chien!)
Solange die Lampe angezündet wurde, verharrte alles in Stillschweigen. Es wäre ungebildet und roh gewesen, während dieser Prozedur zu sprechen.
Antoinette kletterte auf den Stuhl und Noel stand väterlich besorgt und ängstlich neben ihr, bereit sie aufzufangen. »Nimm dich in acht – der Patentbrenner – langsam drehen!«
»Guten Abend!« sagte Antoinette.
»Brennt er nicht herrlich, der Patentbrenner?« fragte Noel. »Ja, haha, fünfzehn Franken kostete mich die Lampe!«
»Ausgezeichnet!«
Aber da klapperte es im Flur und man wußte schon, wer kam. Das war Gaston Grouzen, der verrückte Gaston. Er war acht Jahre in Kalifornien gewesen und hatte sich tausend Dollar erspart. Nun war er von früh bis nachts damit beschäftigt von Kneipe zu Kneipe zu rennen, um recht rasch seine Dollars los zu werden.
»Da kommt der verrückte Gaston!« lachte Noel und stellte das Glas bereit.
Gaston Grouzen nahm einen Augenblick die bis zum Kopf abgebissene Gipspfeife aus dem Mund und stürzte den Schnaps hinab. Ah, da sah er mich!
Er umarmte mich und rieb sein stachliges Gesicht gegen meine Backen. Dann zeigte er, wie immer, auf eine Narbe unter dem linken Auge. »Im Krieg gegen die prussiens. Me California. You have match? – Welcome!« Und weg war er, er hatte keine Zeit zu versäumen.
Ein Trupp Fischer kam herein, sie räusperten sich und spuckten. Aber dieses Räuspern und Spucken war eine Konversation, man mußte nur die Ohren aufmachen. Auch Yann kam und wir traktierten uns gegenseitig mit Schnäpsen aller Art.
Merkwürdig ist der Mensch! Als Yann nach seiner verwegenen Fahrt zum erstenmal an Land gekommen war, hatten wir ihm die Finger entzwei gedrückt: hoch Yann, Filou! Und Yann hatte die Achseln gezuckt: was war weiter dabei? Nun aber, da niemand mehr davon sprach, mußte Yann den ganzen Tag von seiner Heldentat reden und die Zeitungen aus der Tasche ziehen – und wir nahmen es ihm übel.
»Der Arbeiter ist doch ein gutes Boot,« sagte der dicke Chef der Post; er war ein neidischer Hund.
Yann brüllte ihn zu Boden. »Cochon! Was versteht ein Briefmarkenlecker von Navigation? Ich sage ja nicht, daß es eine Heldentat war, aber es war nicht leicht, den alten Kahn so lange im Strom zu halten. He, halte dein hölzernes Maul! Zehn Kapitäne kannst du hinstellen, sie schaffen es nicht!«
Yann und der Chef waren Spinnenfeinde. Nur mit Ekel auf den Lippen sprachen sie voneinander. Und Yann peinigte den dicken Chef, so sehr er konnte. Wenn er gar nichts zu versäumen hatte und guter Laune war, so tat er etwas Unerhörtes: er klopfte an das kleine Fenster der Post. Das kam selten vor und war das schlimmste, was man dem Chef antun konnte. »Hallo!«
Der Chef schnarchte drinnen und Yann klopfte lauter. Der Chef fuhr auf: » Malheureux!« und kam an das Guckfenster.
»Eine Marke für einen Sou!«
Dann ging Yann in eine Bar und nach einer halben Stunde klopfte er wieder.
»Hallo!«
» Malheureux!« schrie der Chef innen verzweifelt.
»Noch eine Marke. Ich vergaß ganz.«
Yann lachte sich tot, aber nach einer halben Stunde war er schon wieder da.
»Hallo!«
Der Chef tobte. » Malheureux!«
»Eine Marke für einen Sou. O, lala, was für eine Riesenkorrespondenz ich heute habe.«
Der Chef wurde blau vor Zorn. »Das ist Schikane, einfach!«
Aber Yann klopfte mit seinem Sou. » Voyons! Ich bezahle. Tue deine Pflicht und halte das Maul!«
Nach einer halben Stunde aber war er schon wieder da – – ho! ho! ho!
Da aber schlüpfte der Dorflump mit den klaffenden Hosen in die Bar. Er streckte mir die Hand hin: »Eine Prise Tabak, Herr! Papier habe ich selbst!« Ja, richtig, er hielt ein zerknittertes Zigarettenpapierchen zwischen den schmutzigen Fingern. Aber ehe ich ihm Tabak geben konnte, hatte Yann dem Dorflump eine Schaufel zwischen die Beine geworfen und der Dorflump entfloh.
Yann behandelte den Dorflump wie eine Katze.
»Hahaha!«
Der versteinerte Großvater drehte sich um und nieste.
Keinen Augenblick lang stand das Leben in Noels Bar still.
Ein totenbleich aussehender Fischer kam herein und trat zu Noel und murmelte ihm etwas ins Ohr.
»Haha!« lachte Noel laut. »Bezahle die zehn Sou, die du schuldig bist, und ich kreditiere wieder.«
»Meine Kinder haben nichts –« murmelte der Fischer.
»Bah! Arbeite –!«
»Ich bin krank.«
»Krank? Haha! Du kennst meine Prinzipien, Freund.«
Der bleiche Fischer nickte und ging wieder.
»Sie würden mir das Fleisch von den Knochen fressen!« rief Noel aus.
O, lala, ja so war er. Er zog den Fischern jeden Sou aus der Tasche, verkaufte ihnen schimmeliges Brot und gemeinen Fusel, platzte von all den fetten Speisen und guten Weinchen, hatte ein Haus und einen Harem kleiner rundlicher Mägde, die er der Reihe nach schwängerte, aber sobald es ans Kreditieren ging verstand der Inselkönig keinen Scherz. Und die Fischer fanden das ganz in Ordnung.
Alle hatten den bleichen Fischer schon vergessen, da rief Noel mit lauter Stimme: »Antoinette, Maria – man muß einen Laib Brot zu Breton tragen, jetzt gleich! Sage, Noel schickt es. Auch einen Topf Milch muß man hintragen!« Und zu den Gästen in der Bar sagte er: »Man kann die Leute ja doch nicht verhungern lassen.« Und er seufzte.
So war Noel. Er hatte ein gutes Herz, man darf ihm nicht unrecht tun.
In diesem Augenblick aber fielen meine Augen auf Yvonne, die Tochter Amoriks, des Wächters von Creach. Sie kam um Brot zu kaufen.
Yvonne war schön! Erinnerst du dich? Einmal im Frühling kam ein Mädchen an Sturmvilla vorbeigeklappert in ihren Holzschuhen, ihre Hammel wollte sie suchen, und ich küßte sie auf den braunen Nacken. Yvonne, daß ich dich so lange vergessen konnte!
Yvonne hatte ein braunes Gesicht und eine hohe glänzende Stirn. Wenn sie lächelte, erschienen Grübchen in ihren Wangen und dann glänzten auch die Wangen. Ihre Augen waren schwarz wie Pech. Das schönste aber war ihr Haar. Es war sorgfältig über der Stirn gescheitelt und schwarzglänzend wie das eines Rappen, aber doch seidenweich.
Noel zeigte ihr sein Wohlwollen. Er legte den Laib, den sie gewählt hatte, zurück und suchte ihr einen andern aus. »Nimm diesen, Yvonne, das ist der beste!« Diese Auszeichnung genossen nur seine geachtetsten Kunden.
»Für Amorik!« sagte Yvonne.
»Schon gut, schon gut, grüße Amorik!« Amorik genoß Kredit wie alle Leute mit einem festen Einkommen.
»Kenavo!« sagte Yvonne und ging.
»Ah, sie ist ein hübsches Mädchen!«
»Ja, und ein anständiges Mädchen!«
Ich aber sagte gar nichts. Ich nickte nur. Dann schloß ich meine Einkäufe ab – ohne Eile zu verraten. Man mußte gerissen sein auf der Insel.
»He, Antoinette, Josephine!« schrie Noel. »Man muß mich daran erinnern, daß die Waren nach Sturmvilla gebracht werden. Man muß um sieben Uhr einspannen!«
Noel besaß nämlich ein Fuhrwerk, obgleich die größte Reise, die man auf der Insel machen konnte, eine Wegstunde weit war. Sein Pferd war dick und fett und hatte lange Haare an den Beinen, förmliche Pelzhosen. Das Einspannen war eine Komödie. Dann setzte sich Noel, gestiefelt und gespornt, auf den Bock und rasselte dahin, Brrr! Schon war er angekommen. »Man muß Zephir abreiben und striegeln, Zephir muß Wasser bekommen, brr, brr, Ruhe, Zephir!«
Nun gut, ich ging. »Guten Abend!«
Auf der Heide holte ich Yvonne ein. Ich rief sie an und sie blieb stehen.
»Wir haben ja den gleichen Weg, Yvonne!«
»Ja!« Sie lächelte. Ich sah wie schlicht und gut ihr Herz war.
»Du kennst mich doch, du weißt doch noch –?«
Yvonne lachte. O ja, sie hatte es nicht vergessen.
»Daß ich dich nie mehr gesehen habe! Ich komme doch so oft nach Creach. Wo warst du denn den ganzen Sommer?«
»Ich? Auf der Insel. Ich habe dich oft gesehen, ja. Doch halt, ich war ja nicht immer auf der Insel, ich war vierzehn Tage in Brest.«
»Nun, siehst du?«
Und Yvonne beeilte sich mir von ihren Erlebnissen in der Weltstadt Brest zu erzählen. Sie war da auch im Theater und hatte ein Stück gesehen, das Ohrfeigensalat hieß. Ein reicher Bauer kam nach Paris und mietete die Wohnung eines lebenslustigen Junggesellen und nun ging es los, er bekam Ohrfeigen von allen Seiten.
»Er erhielt immerzu Ohrfeigen,« erzählte Yvonne, »es kamen Gläubiger des Junggesellen, klatsch, Eifersüchtige, klatsch – haha – immerzu klatschte es.«
»Hahaha!«
Wir gingen vorgebeugt durch den Wind und sahen einander ins Gesicht, während wir plauderten und lachten. Yvonne sprach ganz hinten im Kehlkopf und ihr herzliches Lachen kam wie aus weiter Ferne.
»Wie alt bist du, Yvonne?«
»Laß sehen –? Ich bin neunzehn.«
Ich sah sie an. Sie war groß und stark.
»Und du hast doch einen Geliebten?«
»Haha – was er denkt! Nein, nein, nein!«
Yvonne lachte.
Sie gefiel mir.