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XX

Als ich an Land kam, sah ich die Luft voll kleiner weißer Teufel mit gespreizten Fledermausflügeln und auch die Erde war bedeckt damit, hier waren sie grau. In ganzen Schwärmen zogen sie hin und her vor meinen Augen.

»Hoho!« sagte ich. »Poupoul, da haben wir es glücklich, weißt du, was das ist? Das Delirium tremens, mein Sohn.«

Gott sei Dank, Sturmvilla stand noch! Immer noch saß der rasende Gorilla draußen auf den Klippen und trommelte mit den Fäusten auf seinen Bauch. Ich war erschöpft und schlief augenblicklich ein. Nach vielen Stunden erwachte ich wieder. Etwas war geschehen! Die Fledermausteufel waren fort. Ich lauschte. Der Wind weinte im Kamin, das Trommeln des Gorillas hatte aufgehört. Der Sturm ließ nach. Ich trat vor die Türe. Das Meer schäumte und raste und die Dämmerung eines Tages, der nie hell gewesen war, regnete wie dicke graue Asche auf das düstere Chaos herab. Ein farbloser Dampfer rollte draußen im fürchterlichen Seegang, ein großer P.- u. O.-Steamer, kaum sichtbar. Diese Dämmerung erfüllte das Herz mit dem Gefühl entsetzlichster Verlassenheit und ich wagte weder zu denken noch zu fühlen. Ich schlief. Dann weckte mich ein bekanntes Pochen.

Es war finstere Nacht. Creachs Lichtgarben wehten in zitternden Wellen, wie feinstes Frauenhaar, durch die dunstige Atmosphäre. Im Norden stand der scharlachrote Widerschein einer Feuersbrunst: das war das Feuer von Stiff, über das dröhnende Meer wälzte sich Rauch.

Aber Rosseherre kam nicht plappernd und mit übermütigen singenden Ausrufen herein, sie war scheu und ängstlich und sprach leise und etwas heiser.

»Ich sah dich heute an Land gehen,« sagte sie und drückte mir ein Paketchen in die Hand. »Wie finster es bei dir ist.«

»Guten Abend, Rosseherre! Was macht Jean Louis?«

»Jean Louis schläft.«

Ich zündete Feuer an, und nun konnte ich wenigstens Rosseherres weiße Haube und ihre hellen Haare sehen. Sie saß zusammengeduckt auf dem Bett.

»Was ist denn in dem Papier, Rosseherre?«

»Öffne doch.«

Es war ein Klumpen Honig darin.

»Die Schiffe auf dem Meeresgrund brechen auf,« sagte Rosseherre. »Jean Louis hat eine große Büchse gefunden. Auch einen Ballen Feigen, doch sie waren verdorben.«

Aber Rosseherres Worte wurden von einem leisen Wimmern erstickt. Und plötzlich weinte sie laut und herzzerbrechend, wie ein Bauernmädchen weint, das Kummer hat.

»Rosseherre?«

Rosseherre schüttelte den Kopf und die Tränen sprangen ihr über die Hände und durch die Finger hindurch. »Ich weiß es nicht,« sagte sie, »aber ich habe Angst. Wenn es stürmt, so bricht mein Herz. Ich muß an Vater denken und an den Tag, da Diaul angehetzt kam. Diaul war Vaters Hund, eine Dogge, so groß wie ein Kalb und ganz wild. Niemand durfte ihn anrühren, nur Vater. Vater besorgte die Post von der Küste herüber. Er hatte ein hübsches Boot, er war ja Pilot. In einem Vierteljahr waren schon zwei Postboote untergegangen und da übernahm Vater die Post. Einmal nun war das Meer hoch, es wehte, aber es war kein Sturm. Da kam Diaul angehetzt. Seht, sagte ich, Vater ist zurück, da haben wir Diaul schon. Er troff von Wasser, aber Vater warf ihn oft ins Wasser, es fiel uns nicht auf. Diaul, willst du nicht Ruhe geben? Er war wie ein Narr, er sprang an mir empor und kläffte. Er war auch gar nicht böse, ich schlug ihn auf die Schnauze, auch das ließ er sich gefallen. Mit einem Male fing ich an zu schreien und ich lachte doch noch. Ich verstand Diaul! Ich verstand auch plötzlich, weshalb vor einer Viertelstunde mein Herz auf einmal stillgestanden war. Denn es war stillgestanden und hatte sich nicht mehr gerührt! Ich lief hinter Diaul her, alle liefen wir hinter ihm her, einer hinter dem andern, quer über die Insel. Und ich war die erste von allen. Da lagen die Trümmer von Vaters schönem Boot in den Klippen und Leichen. Acht Menschen sind ertrunken in der Brandung, auch Vater. Man fand ihn nicht. Nur Diaul konnte sich retten.«

Sie weinte mit zusammengepreßten Augen und Lippen. Ich legte meine Wange an die ihre und schaukelte sie leicht hin und her wie ein Kind. Mein Gesicht wurde naß von ihren Tränen.

»Diaul, mein armer Diaul!« wimmerte Rosseherre. »Wir hatten ihn so gern. Da irrte er umher und verwilderte und bellte in den Nächten da draußen bei den Klippen, wo das Boot gescheitert war. Dann ging Noel mit seiner Büchse hinaus und ich hörte es knallen und dann kam Noel und sagte: nun ist Diaul tot.«

Rosseherre weinte leise und fuhr fort: »Ich hatte auch einen Bruder. Er hatte einen langen Schnurrbart. Er war ein wilder Mensch und er trank wie alle. Aber er liebte mich. Oft sagte er zu mir: Rosseherre! und klopfte mir auf die Wange. Sie fuhren hinaus zum Fischen und er kam nicht wieder. Und ich hatte den ganzen Tag solch schreckliche Angst! Ich sah ja, sah es ja, wie er über Bord stürzte und sein roter Schnurrbart schwamm auf dem Wasser. Ich ging hinunter zum Hafen und wartete. Ich wußte wohl, Emile kommt nicht wieder, aber ich wartete trotz alledem und betete. Da kam das Boot herein. Der Patron sagte: Rosseherre –? Sonst sagte er nichts. Später sagte er zu mir: der Strom nahm ihn mit sich, sein Schnurrbart schwamm, aber wir konnten ihn nicht mehr einholen. Ich saß und betete für seine Seele, und als es dunkel wurde, kam Jean Louis und sagte: nun, Rosseherre, es wird Nacht.«

Ich wiegte Rosseherre und streichelte sie, so gut ich es konnte. »Weine dich nur aus, kleine Rosseherre, dann wird es besser.«

Der Wind wimmerte leise an der Türe. Er klagte, als fiele ihm etwas Trauriges ein, das er einmal gesehen hatte und nicht vergessen konnte. Das Meer dröhnte wie dumpfer Kanonendonner. Es dröhnte regelmäßig alle zwei Sekunden, und bei jedem Donnern ging ein leises Beben durch Rosseherres Körper.

Sie hob den Kopf. »Hörst du das Meer?« fragte sie. »Ich werde wohl gehen müssen, denn man weiß nicht, was geschieht. Es gibt Nebel.«

»Was soll denn geschehen?«

»Alles kann geschehen.«

»Alles?«

»Ja, denn ich habe Vater gesehen. Heute am lichten Tag.«

»Deinen Vater?«

»Ja. Er kam zur Türe herein und sagte: heute sollen sie sich in acht nehmen, die da draußen.«

»Die auf dem Meer?«

»Ja!«

Poupoul nieste und Rosseherre erschrak, daß sie aufschrie.

»Aber, Rosseherre?« sagte ich lächelnd. »Was ist mit dir heute?«

Sie sah mich an. Ihre Augen flackerten im Feuerschein wie die Augen eines Tieres, das voller Angst ist. »Ich weiß es nicht,« sagte sie und blickte zu Boden, »aber ich habe Angst. All die Tage lang hatte ich schreckliche Angst. So vieles geht mir durch den Kopf und ängstigt mich. Ich denke daran, daß Yann im Meer sterben wird und auch ich, ich auch.«

»Nein, Rosseherre.«

»Vater sagte es mir,« erwiderte Rosseherre mit einem kleinen verträumten Lächeln. »Schon lange. O, ich weiß, was ich weiß! Es ist auch nicht das schlimmste. Denn dann kann ich vielleicht mit Vater und Bruder da drunten sein, wo du sie einmal gesehen hast.«

»Rosseherre, das war doch ein einfältiger Traum. Ich hatte so viel getrunken auf Kedrils Hochzeit.«

»Ja, ja.« Rosseherre lächelte ungläubig und blickte vor sich hin. Dann lachte sie leise. »Nein, das eine ist gut, Jean Louis kann das Meer nichts tun. Großvater ist gefeit.« Sie schüttelte die Haare vor Freude. Ihre Wangen waren heiß und ihre Augen glänzten. Sonderbar war sie heute.

Nun roch auch ich den Nebel. Er roch wie Jod. Da begann Creach zu brüllen, fern und dumpf, und ich sah ihn vor mir, eingepackt in undurchdringliche Nebelballen.

Rosseherre erbebte. Sie zog die Brauen in die Höhe und lauschte angestrengt auf das Brüllen des Nebelhorns, das übers Meer rollte und in einem fernen Grollen unterging.

»Ich muß nun doch gehen,« sagte sie voller Angst.

Aber ich überredete sie zu bleiben. »Wir werden ein großes Feuer anzünden, Rosseherre, etwas Grog wollen wir kochen, und dann werde ich dir eine kleine Geschichte erzählen, warte nur. Du zitterst ja so, weil es kalt ist hier. Poupoul, geh aus dem Weg! Du wirst sehen, wie hübsch es hier wird!«

Ich verbrannte meine englische Zeitung und dann riß ich die Schublade meines kleinen Tisches in Stücke und warf sie ins Feuer. Auch der kleine Tisch würde wohl bald an die Reihe kommen, es ging nicht anders. Während ich den Grog braute, erzählte ich Rosseherre ein kleines lustiges Erlebnis und als ich verstohlen zu ihr hinblickte, sah ich, daß sie lächelte. Poupoul, der seine Leute kannte, saß vor ihr und klopfte mit dem Schwanz. Auch er gab sich Mühe Rosseherre auf andere Gedanken zu bringen.

»Ist es nicht schon hübscher bei uns, wie, Rosseherre?«

»Ja!« Rosseherre nickte und sah ohne Blick vor sich hin. Sie schlürfte den heißen Grog durch ein Stückchen Zucker, das sie hinter den Zähnen hielt. Ihr Gesicht glänzte im Feuerschein, noch naß von Tränen, ihre gelben Haare flimmerten als ob die Sonne darauf schien. »Nun habe ich keine so große Angst mehr,« sagte sie und holte tief Atem, »aber zuweilen möchte ich sterben vor Angst. Das Meer ruft mir. Gesichter erscheinen im Meer. Einmal sah ich den Bruder auf einer Klippe sitzen. Er kam mit einer Welle herauf und da saß er und sah mich an. Aber da schrie ich vor Angst und er tauchte mit der Welle hinab. Einmal, als es stürmte, ging ich abends an den Klippen entlang. Da lag ein Stein. Aber plötzlich stand der Stein auf und es war ein alter Mann mit langen grauen Haaren. Er stand ganz ruhig und sah mich an und aus seinen Augen fuhr Feuer – da lief ich davon und fürchtete mich eine ganze Woche lang. In den letzten Tagen aber hielt ich es nicht mehr aus. Nun, sagte ich, es wird das beste sein, du springst hinab, die gebenedeite Jungfrau wird dir vergeben. Ich ging nach Stiff, wo die Klippen steil abfallen. Da weinte ich und betete und bat die gebenedeite Jungfrau die große Sünde von mir zu nehmen. Aber als ich es tun wollte – was meinst du? Da saß Vater am Rande der Klippen, die Pfeife im Mund, genau so wie ich ihn immer vor mir sehe. Er sah mich nicht an, aber er saß da. Er versperrte mir den Weg.« Merkwürdig lächelte Rosseherre, als sie das sagte.

Und ich dachte, sonderbare Dinge gehen in deinem kleinen Kopf vor, Rosseherre! Sonderbare Dinge!

Es schien Rosseherre zu erleichtern, wenn sie von Vater und Bruder sprechen konnte. Ich ließ sie gewähren. Und sie erzählte mir alles aus ihrem jungen Leben und was Jean Louis ihr von Eltern und Großeltern berichtet hatte. Die meisten waren ertrunken. Und wie merkwürdig war es doch: keinen hatte das Meer zurückgegeben, keinen einzigen. Sonderbar war der Tod ihres Großvaters. Er fuhr nach Molen. Das Meer war glatt wie Öl. Er kam nie an, kein Span seines Bootes fand sich, nichts –

»Nichts fand sich, Rosseherre?«

»Nichts!« Und Rosseherre lächelte sonderbar und fügte geheimnisvoll hinzu: »Sie haben ihn hinabgezogen!«

Dann versank sie in Grübeleien.

Creach brüllte dumpf und Rosseherre zitterte am ganzen Körper.

Ich erzählte ihr von den fernen Ländern, die ich gesehen hatte und wie merkwürdig die Leute dort waren. Sie hatten vielhundertjährige Schildkröten, mit Edelsteinen und Schmuck besetzt, und beteten sie an. Und sie hatten Götter, klein wie ein Däumling und wiederum groß wie der Phare von Creach.

Rosseherre hatte kaum zugehört, nun aber lächelte sie. »Das sind Heiden, meiner Treu!«

Dann mußte ich ihr von Paris erzählen. Von Paris konnte sie nicht genug hören. Sie wollte wissen, was ein Diner kostete und wieviel sie im Hotel für ein Zimmer verlangten. O, Diaul, wie unverschämt sie doch waren! Rosseherre lachte und doch zitterte sie dabei.

»Vielleicht gehen wir einmal zusammen nach Paris. Rosseherre?«

Sie sah mich mit großen Augen an. »Nach Paris?«

»Ja, weshalb nicht? Jeden Tag können wir fahren.«

Rosseherre lächelte und schüttelte den Kopf. »Paris? Es ist so weit, nie werde ich Paris sehen!«

Sie blieb lange still und teilnahmslos, ich konnte sagen, was ich wollte. Sie lauschte unausgesetzt. Einmal sagte sie: »Man hört Creach nicht mehr so laut, wie dicht der Nebel wird!«

Dann streichelte sie ganz mechanisch meine Hand. Sie sprach kein Wort. Sie kniete sich zu meinen Füßen auf den Boden nieder, legte das Gesicht auf meine Füße und umschlang sie mit den Armen, und so lag sie, ohne sich zu rühren. Das tat sie oft und ich wehrte es ihr nicht. All ihre Zärtlichkeit und Ergebenheit drückte sie damit aus.

Sie war nur ein Kind, das weder Vater noch Mutter hatte.

Lange verharrte sie so, und endlich hörte ich, daß sie schlief.

Ich wartete eine Weile, dann hob ich sie aufs Bett. Sie öffnete die Augen, sah mich an ohne mich zu erkennen und schlief weiter. Zuweilen plapperte sie im Traum, aber ich verstand nicht was sie sagte, denn sie sprach Bretonisch.

Was träumte Rosseherre?

Ich saß und rauchte die Pfeife und sah zu, wie sie atmete. Vielleicht träumte sie, sie saß bei den Klippen und alle kamen sie aus dem Meer und plauderten freundlich mit ihr und niemand sah es?

An der Türe rauchte es. Durch mein kleines Fenster blickte ein vergrämtes Gesicht. Der Nebel. Ich warf Holz aufs Feuer, denn sie sollte nicht frieren. Eine Stunde verging, zwei Stunden. Alle drei Minuten erschütterte Creach mit seinem Brüllen die Luft, und der Sand rieselte in meinen Wänden. Creach brüllte immer zweimal nacheinander. Zuerst wie ein wildes Tier, das gereizt auffährt und wütend angreift, dann als ob es sich verwundet zurückziehe und schmerzlich röchele. Eine Ewigkeit sind drei Minuten, wenn man wartet. Creach hat nun zehnmal gebrüllt, eine halbe Stunde ist vergangen.

Rosseherre redete unruhig und angstvoll. Träumte sie, daß sie alle draußen vorübersegelten und ihr winkten, sie aber konnte nicht hinauskommen, denn das Meer war ja zwischen ihnen?

Plötzlich setzte sie sich auf und starrte mich an.

»Nebel, Rosseherre, schlafe.«

Und sofort schlief sie wieder ein. Ich suchte meine dünne silberne Kette hervor und legte sie ihr auf die Brust. Wenn sie nun wieder erwachte, sollte sie sie finden.

Der Nebel wurde von Minute zu Minute dichter. Creach brüllte nicht mehr. Er grollte wie ein zu Tode verwundetes Tier, das elend zurückgeschlagen sich im Versteck die Wunden leckt und knurrt und röchelt. Das Meer donnerte lauter in den Klippen und die Brandung in der Bai dröhnte, als ob alle zwei Sekunden eine Häuserreihe einstürzte. Die Flut kam zurück. Aber hier bei unserem verglimmenden Feuer war es totenstill. Zuweilen kamen feine, komische Geräusche aus Rosseherres Nase. Ein kleiner Falter, den die Wärme geweckt hatte, schwirrte an der Decke, eine schwarze Spinne wanderte ohne Lärm zu machen die Wand hinauf.

Tief und gleichmäßig gingen Rosseherres Atemzüge. Ich legte das Ohr an ihre Brust. Es rauschte, es atmete. Wie das Meer, wenn die Ebbe nahe ist.

Und was ist das Atmen der Menschen anders, frage ich, als das Atmen des Meeres, aus dem sie kamen?

Rosseherres Atemzüge verbreiteten Stille und Frieden, ja eine Art Heiligkeit. Eine sonderbare Scheu ergriff mich vor dem Stück Leben, das hier bei mir war. Scheu vor deiner Jugend, Rosseherre, deinen schönen Haaren und weißen Zähnen und all dem Leid in deinem kleinen Herzen. Ich kenne dich nicht.

Ich bewegte mich lautlos und wagte kaum zu atmen. Dann setzte ich mich vor das Feuer und dachte an viele Dinge, die längst vergangen waren. Vergangen! Gott sei gelobt! Gesegnet sei das Gesetz der Vergänglichkeit, das die Tage neu macht.

Gesegnet sei auch eure Unbeständigkeit, ihr Freunde und Frauen, die ihr mich so jämmerlich belogen und betrogen habt – es gibt vier Wände und es gibt vier Himmelsgegenden, was ist dir lieber?

Wie lange ich so saß, weiß ich nicht, denn vieles ging mir durch den Sinn. Dann aber weckte mich ein feines Rieseln. Die kleine Kette war auf den Boden herabgeglitten.

Rosseherre saß, aufrecht und lauschte. Ohne Laut hatte sie sich aufgerichtet. Ihre Augen waren ohne jeden Blick. Sie lauschte, mit jeder Fiber und all den tausend Ohren ihres Körpers lauschte sie. Ihre Wangen waren gerötet vom Schlaf, aber plötzlich wurden sie schneeweiß.

»Rosseherre?«

Rosseherre bebte. Sie flüsterte ein paar hastige Worte, aber ich verstand sie nicht.

»Sprich Französisch, Rosseherre!« Aber merkwürdig, ich wagte es nicht aufzustehen und zu ihr zu gehen.

»Horch doch!« sagte sie.

Ich lauschte. Das Meer. Creach röchelte in der Ferne, Poupoul saß an der Tür und sah mich fragend an; auch er hörte nichts.

Aber Rosseherre zitterte am ganzen Körper als ob sie friere, und schrecklich blaß sah sie aus. Ich stand auf, doch sie machte mir ein Zeichen mit der Hand.

Sie lächelte krank.

»Sie haben den Weg verloren,« sagte sie ohne Stimme.

Was sagte sie?

»Wach auf, Rosseherre!«

Da blickte sie mich an und ihre Augen waren geschmolzen von einer grauenhaften Angst, die Pupillen unnatürlich geweitet.

Was war das? Das war ja –

»Gehe hinaus,« flüsterte sie, geschüttelt vom Fieber.

»Beruhige dich,« sagte ich, »ich will hinausgehen.«

Der Nebel wälzte sich augenblicklich herein wie ein Gespenst, das vor der Türe gelauert hatte. Das Meer donnerte ehern und Creach grollte im Herzen der undurchdringlichen Nebelnacht. Ich lauschte. Ein dumpfer Hammer schlug in meiner Brust. Die Angst, die von Rosseherre ausströmte, hatte auch mich ergriffen. Ich ging ein paar Schritte um mich zurecht zu finden, schüttelte den Kopf und kehrte zur Türe zurück. Aber als ich die Türe zuziehen wollte, hielt ich plötzlich inne. Was war es? Meine Füße klebten am Boden und wurden bleiern, meine Fingerspitzen erstarrten, meine Hände, meine Arme, ich wurde ganz steif, die Haut spannte sich kalt über mein Gesicht und meine Haare stellten sich büschelweise in die Höhe:

Da draußen – tutete es ja –

O, jaja, ich hörte deutlich das hohle, dumpfe Tuten eines Dampfers durch das Toben der Brandung hindurch. Es brach ab. Aber gerade als ich aufatmen wollte, kehrte es wieder. Mir schwindelte. Ich legte mich nach vorn und machte mich ganz Ohr, und mein Ohr saugte wie ein riesiger Schalltrichter dieses Tuten in sich. Nun begann auch eine Pfeife in der Ferne zu schrillen – als ob ein großes wildes Tier und sein Junges zusammen um Hilfe schrien.

Da schlug Poupoul an. Kein Zweifel. Und ich taumelte betäubt ein paar Schritte in den Nebel hinein. Rosseherre glitt an mir vorüber. Sie lief klappernd und schrie: » Naufrage, naufrage!« Dann hörte ich nicht mehr, was sie rief, aber ihre hohe Stimme schwang im Nebel.

Nein! Nein! Nein! Ich faßte mit den Fäusten in meine gesträubten Haare und schüttelte den Kopf hin und her. Nein! Das alles ist ein furchtbarer Alp, ein entsetzlicher Zauber – niemand kann durch den Nebel sehen, was man nicht sehen kann, niemand in der Welt. Die Woge dröhnte, die Welle lief zornig gegen mich an und der Gischt kräuselte an mir empor. Horch! Ja, trotz des irrsinnigen Zähneklapperns, das mich befallen hatte, hörte ich es: es tutete, pfiff, die beiden Stimmen da draußen im Nebel riefen noch immer. Dann verstummte das Tuten plötzlich und die Pfeife brach mit einem kläglichen Winseln ab.

Ich machte meine Stimme stark und schrie hinein in den Nebel: »Hallo? Hal – lo – –?« Eine Gischtpeitsche schlug mich übers Gesicht. So lächerlich war es zu rufen.

Da vernahm ich das zischende Ausströmen von Dampf und ein fernes Dröhnen, als ob Eisen genietet würde. Dann schien es mir, als hörte ich das ferne Geschrei einer Menge Menschen. Und nun war es still. Das Meer schlug, die Brandung donnerte, Creach grollte in der Ferne.

Ich lief ins Dorf. »Ein Dampfer ist gescheitert!« schrie ich. »Ein Dampfer ist gescheitert!« Ich war sinnlos vor Erregung und das Wasser sprang mir aus den Augen, daß ich erblindete.


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