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Es ist noch Nacht. Alles ist leer, die Götter schlafen, die Tiere und Menschen, ich allein bin wach. Wie ein Geist wandere ich im düstern Morgengrauen. Stille. Nur mein Schritt pocht, wie ein dumpfer Hammer klopft es unter dem Boden. Eine lautlose Brise schleicht dahin, gesättigt vom starkriechenden Nachtschweiß des Meeres. Die Gestirne der Insel leuchten noch, übernächtig erscheinen sie. Der Mond von Stiff zuckt fahl auf und ab, weiß, weiß, rot, Creach schwingt seine bleichen Strahlenbündel atemlos im Kreise. Im Osten birst die Nacht und der Morgen dampft durch den Spalt wie blutnasses Fleisch. Ein Schauern geht über das Meer, als fröstle es. Creachs Lichthiebe fliegen wie dünne Schleier dahin, die fahlen Farben der Insel tauchen auf, das Meer färbt sich. Creach erlischt. Stiff im Norden glüht noch einmal rot, dann kommt sein Licht nicht wieder.
Weit draußen schrillt eine Möwe. Ein Schrei antwortet ihr und plötzlich erhebt sich auf den Klippen ein wirrer, feilender Lärm. Dieses gierige Schreien von Raubvogelschnäbeln begrüßt zur gleichen Stunde das Licht von Tausenden von kahlen Riffen in den Meeren.
Im Dunst des Hafens bewegten sich die Fischer wie plumpe, tappende Gespenster. Ein riesiges Segel stieg in die Höhe und zog in den Nebel hinein. Ich begrüßte Jean Louis, den »Meerkönig«, und schweigsam bereiteten wir die Fahrt vor. Wir schöpften Wasser aus, ordneten Leinen, Köder, Segel. Die Brandung donnerte. Die Welle spritzte, das Boot rieb sich knirschend am Kai. Ein Ruder polterte, Ketten klirrten, eine laute Stimme schalt drinnen im Nebel. Jemand fluchte. Es roch nach faulem Wasser und Fischen. Dann klapperten wir den Steig hinauf zu Chikel um rasch zu frühstücken. Jean Louis goß sich einen Schoppen eau de vie in die Kehle und damit war er fertig. Auf dem Meere aß er dann den ganzen Tag nichts als ein Stück Brot und am Abend trank er wieder einen Schoppen Schnaps, dann schlief er. So lebten sie.
Wir fuhren. Ein paar schattenhafte Segel zogen vor uns im Dunst. Das eisige Wasser rauchte. Über die klumpigen, niedrigen Wolken hauchte Glut und auf einmal rückten sie in die Höhe und waren leicht und schwebend. Die Sichel des Mondes wurde dünn und durchsichtig, die letzten Sterne zuckten flimmernd und plötzlich waren sie verschwunden. Das Meer färbte sich dunkelblau im Schatten der Klippen, die wie blaßrote Korallen blühten. Milchige Nebelstreifen glitten über die Insel. Sie verhüllten den Leuchtturm von Creach, und als er wieder auftauchte, blitzte sein gläserner Kopf von roten Feuerchen. Plötzlich wurde das Meer weit und licht und die Segel draußen leuchteten wie pures Gold.
Der Wind erfaßte unser Segel und das Boot legte sich zur Seite. Wir begegneten der ersten Welle von Charakter, das Boot stieg in die Höhe und glitt hinab. Das war der erste Gruß des großen Meeres! Von da draußen –
Ich machte es mir bequem im Boot und zündete eine Zigarette an. Jean Louis rauchte trocken; er riß das Papier von der Zigarette und steckte den Tabak in den Mund.
»Ein schöner Morgen, Jean Louis!«
»Hü-hü-hü!«
Der Meerkönig war nichts als ein winziges Bündel aus einer schmierigen, flachen Mütze und schmutzigen Holzpantinen. Unter der Mütze hingen ein paar dünne, weiße Haarsträhnen hervor, und ich sah nur selten sein faustgroßes, rosiges, ewig lächelndes Gesicht. Seine Jacke war von allen Seiten eingeschrumpft und die Hosen reichten nur bis zum Schienbein. Die blaue Leinwand war gebleicht, schneeweiß auf Schultern und Schenkeln, und auch die vielen Flicken waren schon längst wieder gebleicht. Die Ärmel waren mit einer Kruste bedeckt und glitzerten von Fischschuppen. Er wischte Nase und Messer daran ab. Jean Louis hatte Hände aus Holz vom ewigen Rudern und er konnte die Finger nicht mehr biegen. Seine Äuglein waren gebleicht wie sein Kittel, und doch sah er wie ein Fernrohr. Die Holzschuhe hatte er mit Stroh ausgestopft und wo das Stroh den Schmutzpanzer durchstochen hatte, klebten große Tropfen von schwarzem, trockenem Blut.
Der Meerkönig war der tapferste Mann der Insel, du kannst fragen, wen du willst. Er hatte vierzehn Menschen das Leben gerettet und so und so oft selbst Schiffbruch gelitten. In seiner Jugend hatte er wiederholt die Welt umsegelt, aber davon wußte er nichts mehr. Er war jetzt »süben-hund-sübzüg Jahre« alt und im nächsten Sommer wurde er »acht-hund-sübzig Jahre«. Der Meerkönig war der gefürchtetste Dieb der Insel. In Nacht und Nebel fuhr er hinaus, wo die Fischer die Langustenreusen verankert hatten. Diese Körbe zog er in die Höhe, obschon sie so schwer waren, daß ein starker Mann zu tun hatte. Er nahm die Langusten heraus, ließ die Reusen wieder hinab ins Meer und legte die Langusten in seine Körbe. Wenn nun die Fischer am nächsten Tag hinausfuhren, so zeigte es sich, daß alle Langusten ausgerechnet in Jean Louis’ Reusen marschiert waren – hü-hü-hü –! O, sie hatten ihn schon dabei erwischt –
Wir überquerten den Strom. Das Boot pendelte und das Spritzwasser klatschte gegen unser Segel. Das Meer sauste und weiße Gischtbomben schlugen über die Klippen ein.
»Tas Möhr gefällt mir heute nücht!« heulte Jean Louis.
Ich lachte vor mich hin. »Desto besser!« sagte ich und begann, Jean Louis’ Beispiel folgend, die Leine bereit zu machen.
Eine knappe Meile von der Insel entfernt gab es eine Kette von halbversteckten Klippen und Riffen, gegen die der Strom tobte. An dieser Kette von Riffen zogen wir entlang, hin und her, und fischten.
Die Wogen waren hier rasch und zornig, sie waren schwarzgrün und mit einer Schicht wie von Öl und Ruß überzogen. Der helle Köder stieg in sie hinab wie ein kleines grünes Licht. Das Licht sank und sank, wurde düster, und endlich erlosch es und nichts blieb als dieses bebende, dahinsausende Hügelfeld dunkler, schleimiger Wogen. Wir legten die Leine über den Finger und fühlten im Beben der Schnur den gewaltigen Hub der großen Schlagader, die Millionen Tonnen Wasser vom Golf von Mexiko bis hinauf zu den Lofoten pumpt.
Drunten in der Finsternis aber – ja, Gott gebe es, denn wir galoppierten nicht zum Vergnügen hier an den Klippen entlang – da waren sie. Ich lauschte durch die Leine hundert Meter tief ins Meer hinab – still! Ja, sie waren da! Sie schossen hinter dem fliegenden Licht her, beglotzten es von allen Seiten, ihre Rückenflossen spreizten sich vor Begierde, ihre Leiber schwollen auf, ihre Schnurrbärte bebten, sie stießen mit den stumpfen Schnauzen gegen den Köder, zerrten –. Aber noch war der rechte Augenblick nicht gekommen. Der Fisch ist argwöhnisch. Ich zog etwas an der Leine, um seine Gier zu reizen, ließ nach, machte ihn sicher und – zog an. Es war geschehen! Meine Arme wirbelten, ich lag über dem Bootsrand und arbeitete fieberhaft. Ich hatte gut hundert Arme Leine einzuhaspeln und mußte rasch sein, denn der Fisch läßt nichts unversucht. Wie ein Hund riß er an der Leine, er schmiß sich gegen den Haken, zerrte, aber ich gab nicht nach. Die Bleistückchen erschienen: und da war er. Er glotzte mich mit aufgerissenen wütenden Augen an, schüttelte sich vor Schmerz und Entsetzen und peitschte mit dem Schwanz. Ich packte ihn um den Leib, hakte die Angel aus und warf ihn ins Boot. Einen Augenblick lag er erschrocken da, dann warf er sich verzweifelt am Boden hin und her.
Und wieder stieg das kleine Licht in die Dunkelheit hinab.
Im Hafen hatte ich ein paar Krabben gekauft, für den Fall, daß die Fische wenig Lust zum Anbeißen zeigen sollten. Der Meerkönig war nicht zufrieden und so entschloß er sich, die Krabben zu opfern. Er riß ihnen die Scheren aus und schrie sie wütend an, da sie sich wehrten. »Ho! Ho! – seht doch an, diese miserable Kreatur, will sich nicht einmal die Scheren ausreißen lassen, hö!« Er zerstampfte Scheren und Krabben und warf den Schleim als Lockspeise ins Meer.
Ich befestigte ein großes Stück am Haken. Wie ein geröstetes Huhn, das urplötzlich in die Nacht eines Gefängnisses hinabtanzt, mußte den Fischen dieser Braten vorkommen.
Es ging. Die Fische verloren den Kopf und rannten in die Angeln. Triefend naß kamen sie herauf, die Mäuler verzerrt, und starrten mit entsetzten Augen in die grausame Helle und die Gesichter dieser rasenden Teufel, denen es Vergnügen machte sie aus ihrer dunkeln, rauschenden Heimat zu reißen. Sie wurden ins Boot geworfen, das mit Blut und Schuppen besudelt war, und hier mochten sie sterben. Sie schlugen um sich, ihre glänzenden, silberweißen Leiber verfärbten sich, ein gelber Hauch lief daran entlang, sie bekamen Flecken. Ihre Flanken flogen, die roten Kiemen spreizten sich und entblößten das blutrote Fleisch, ihre goldenen Augen weiteten sich im Todeskampf. Endlich machten sie eine letzte Anstrengung, sie bogen sich wie eine Klinge und schnellten in die Höhe. Dann bekamen sie einen Fußtritt von Jean Louis und nun lagen sie still. Aber noch nach einer Stunde konnte Leben in ihnen sein.
Die Sonne stieg höher und wir fischten mechanisch und schweigsam. Das Boot schwang auf und ab und flog dahin. Ich arbeitete ernst und hingegeben. Mit großer Sorgfalt schnitt ich den Köder aus den Muscheln, die an flache Chinesenhüte kleinsten Formats erinnerten. Viele trugen Büschelchen von Moos und Tang und sahen aus wie verwegene Damenhüte der letzten Mode. Und ich lachte vor mich hin, denn allerlei Abenteuer zogen durch meinen Sinn. Ich kassierte hier außen beim Rauschen des Meeres noch einmal all die leuchtenden Blicke ein, die mich da und dort getroffen, und atmete nochmals die Wohlgerüche, mit denen die Frauen uns locken wie die Blumen die Bienen. So wie der Dichter sagt – aber da ging ein elektrischer Schlag durch die Leine und ich spürte einen Stoß im Herzen: der Fisch ...
Alle zehn Minuten wechselte der Meerkönig das Segel, um zu wenden. Dann mußte ich mich ganz flach machen und doch riß mir das Segel jedesmal die Kopfhaut ab. Die Wogen rauschten mit einförmigem Zischen und Sausen vorüber und immerzu nagelte und schabte es am Boot. Zuweilen brauste eine rasche Woge daher, schleuderte das Boot in die Höhe und überschüttete uns mit Spritzwasser, und ich sah die Woge dahinfahren zwischen den andern, die in Unordnung gerieten. Wiederum, da zischte es und ein großer marmorierter Kreis, der knisterte und kochte, erschien: die Sohle der Woge hatte eine verborgene Klippe getroffen. Der Kreis aus weißem und grünem Marmor flog rasch weiter, kletterte über die Rücken der Wogen und noch in weiter Ferne behielt er seine Form. Die Möwen strichen mit dem Bauch über die Wogen dahin, jeder Bewegung, jeder Laune der Woge haarscharf und blitzschnell folgend, auf und ab, und schrien. Ihre Fittiche schwirrten und ihre spitzen Hakenschnäbel rissen die Luft auf. Ihnen gehörte das Meer und sie kümmerten sich nicht um die Fischer. Sie stürzten sich in den Gischt der Klippen, schlugen mit den Flügeln, als ob sie sich niederlassen wollten, stiegen senkrecht in die Höhe, wenn die Woge nach ihnen sprang, und schossen kopfüber herab, wenn die Woge vorbei war. Und das Wasser tropfte glitzernd aus ihren Schwingen. Das Meer sang und brauste einförmig; Eine Stunde verging und es war still. Dann zog ein Trupp Meerschwalben vorüber – döi – döi – gullugullugullu döi – und schon waren sie weit weg. Wie ein Faden zogen sie in der Ferne.
Ich zündete die Pfeife an. Ich kniete nieder, preßte die Knie gegen die Bootsrippen und den Kopf gegen die Wand, und nun hatte ich Festigkeit genug um ein Streichholz anzureiben.
Vor ein paar Minuten hatte ich einen Peitschenhieb von Spritzwasser übers Gesicht erhalten, kalt wie Eis, jetzt aber bekam ich eine Schaufel Wasser in die Ärmel und dieses Wasser war lauwarm. Der Strom hatte gewechselt. Zuweilen führte er ins offene Meer hinaus, zuweilen auf die Insel, nur der Meerkönig kannte seine Geheimnisse. Die Wogen waren vorher glatt gewesen, nun waren sie mit einem Ringelpanzer bedeckt, da der Wind gegen die Strömung blies. Die versteckten Klippen, an denen wir entlang zogen, gebärdeten sich wilder. Unaufhörlich stieg der Gischt an ihnen in die Höhe wie explodierende Bomben, wehende Schleier flogen auf, die in der Sonne glitzerten und zerstoben. Man hörte dumpfe Kanonenschüsse, die mit jeder Minute stärker wurden, je höher die Flut stieg.
Jean Louis sah das Wasser an und schüttelte den Kopf.
Der Himmel bewölkte sich und die Sonne verschwand hinter einer porzellanweißen Wolke. Das Meer nahm ein düsteres und feindseliges Aussehen an. Dunkel und schwer wälzte es sich heran, und wo das Licht der weißen Wolke auffiel, rollte es wie eine Masse dicker weißer Ölfarbe dahin. Der Mast knarrte und bog sich, und die Risse in unserem Scheuerlappen von Segel wurden breit und klaffend. Wir segelten mit sechs Knoten Geschwindigkeit und das Boot federte. Es schoß bebend hinab in die viele hundert Meter langen Täler, überschnitt pendelnd die Wogen, und wenn wir oben waren, so kam es mir vor, als säße ich auf dem Dachrand eines einstöckigen Hauses und blickte hinab. Dann sah ich die keuchenden Riffe, die die Atemzüge dieser großen Lunge maßen. Das Riff entblößte sich tief hinab, die Woge saugte, gurgelte. Dann stürzte sie sich gierig in die Höhe und eine Gischtsäule stieg senkrecht über das Riff empor. Einen Augenblick lang stand sie still, dann drehte sie sich langsam, wie ein Baum aus Brillanten, und fiel in sich zusammen. Das Riff war ein Sturz von hundert schäumenden Kaskaden. Und schon tauchte das rostrote Riff wieder bebend empor, wie der Kopf eines Schwimmers, der noch vom Wasser trieft und schon in der Sonne glänzt. Manchmal sah ich auch von meiner Aussicht aus bis zum Horizont, nur einen Moment, dann tauchten wir wieder hinab.
Oft segelte der Meerkönig, ohne aufzusehen, haarscharf an die Klippen heran, aber ich hielt den Mund, denn ich wußte, er würde im letzten Augenblick das Boot herumwerfen. Der Meerkönig bewegte sich in dieser Wüstenei von Wasser so sicher wie jemand in seinem Zimmer. Er kannte hier jeden Fleck und brauchte nicht aufzusehen. Er hatte seine Punkte; sobald der und der Felsen in der Ferne zwischen dem und jenem Riff erschien, so hieß es beizudrehen. Er kannte auch die verborgenen Felsen und wenn er sagte, hier unten ist der men glas so war es sicher, daß einen Moment später die Woge den Felsen traf und das Meer weithin marmorierte. Er wußte noch mehr. Er wußte, wo in dieser und jener Stunde, bei dieser und jener Strömung die Fische sich aufhielten, wohin sie wanderten, sobald der Strom wechselte. Er wußte, welche Geschwindigkeit das Boot haben mußte, damit diese und jene Art Fische anbiß, er wußte, wann die Fische zu erwarten seien und wann sie verschwanden.
Oft mußte ich lachen, wenn ich ihn ansah. Da hockte das winzige Bündel, gleichmütig wie vor dem Kamin und rollte mechanisch hin und her, während ich mich festhalten mußte um nicht hinausgeschleudert zu werden. Er kaute, blies den Schnauzbart, und versah die Angel andächtig mit dem Köder. Es sah aus, als nähe er. Den alten Köder nahm er mit den Zähnen vom Haken und spie ihn ins Meer. Er empfing den schweren Fisch mit täppischem Lachen, den kleinen aber überhäufte er mit Schmähworten. Er fing einen winzigen Fisch, nicht größer als eine Hand, der den Köder vollständig abgefressen hatte; da wurde er purpurrot vor Zorn und schleuderte ihn so heftig ins Boot, daß das Fischlein das Maul aufriß und augenblicklich still und steif lag.
Zuweilen kauerte der Meerkönig im Boot nieder und nahm eine Konservenbüchse zur Hand. »Ent–schul–düge, mein Freund!« heulte er. »Wür sünd auf tem Möhr!«
Eine unnötige Höflichkeit! In dieser Badewanne, die mit der gesamten Ausrüstung fünfundsechzig Franken kostete, konnte man keinen Komfort haben wie in einem Hotel.
Auf der Insel läutete es Mittag. Lockend und lieblich klang es zu uns heraus. Wir aßen ein Stück Brot und tranken aus der Wasserflasche, die Leine um den Finger gewickelt. Und wieder fischten wir. Wir versahen die Haken schweigsam mit dem Köder, rissen den Fisch ins Boot, fluchten halblaut, wenn sich die Leine verwirrte. Das Boot zitterte und schwang auf und ab. Oft hing der Meerkönig über mir, als wolle er herabstürzen auf mich, im nächsten Augenblick aber war seine Kappe tief unten und ich stand senkrecht gegen die Bank. Ich war naß bis auf die Haut, das Wasser war mir in den Nacken und die Ärmel gestürzt. Meine Haare waren zerweicht und die Augen klebten zusammen und brannten. Mein Gesicht war ausgetrocknet und heiß vom Salz, das sich wie feiner Flugsand in alle Poren fraß und die Haut steif und bewegungslos machte. Meine Hände zitterten vor Erschöpfung, und der Wind stach mich unaufhörlich wie eine eisige, spitze Nadel ins Ohr. Mein Herz aber rauschte und sauste und war voll ungestümer Wildheit wie das Meer um mich her.
Ja, ihr zu Hause, bleibt ruhig in euren Polstersesseln sitzen und lispelt kluge und feine Worte über das Leben und werdet schwindsüchtig. Laßt mir das Leben, das dumm und einfach ist, und ich will euch die Worte schenken.
Ein Segel mit einem Anker darauf zog hinter den schwingenden Linien der Wogen vorüber. Es stieg empor, pendelte, verschwand vollständig, um erst nach langer Zeit an entfernter Stelle wieder aufzutauchen. Im Nu war es verschwunden.
»Es ist Zeit!« heulte Jean Louis. »Wir müssen gehen. Der Pilot fährt nach Hause!«
»Eine Angel wollen wir noch auslegen, Meerkönig!«
Aber da kam eine große Woge und wir machten uns schleunigst davon.
Diese Woge war die größte und schönste, die ich hier außen sah. Schon von weitem sah ich sie herankommen. Sie riß sich ihre Bahn durch all die wandernden Schaumkämme, ihr Gischt flog vor ihr einher und sie brauste und zischte wie eine Schnellzugslokomotive. So groß und ungestüm war sie, daß sie sich inmitten der andern Wogen ausnahm wie die rasende Wildsau unter den Frischlingen. Dann prallte die ungeheure Wassermasse gegen die Klippen, sie bebte zornig von oben bis unten, schwoll an und bäumte sich auf. Sie wurde lang wie fünf Häuser und hoch wie ein zweistöckiges Haus und die Wogen ringsum sahen winzig aus. Sie war schwarzgrün, aber als sie anschwoll, wurde sie grün wie Flaschenglas. Darüber bebte eine Kuppe von Türkis und auf dieser Kuppe saß ein Schmelz von gelbem Bernstein, von der Sonne durchleuchtet, und darüber ein Diadem aus schneeweißem Schaum, über der ganzen Woge aber schwebte ein breiter Schleier von Dunst, eine Wand von Dunst, in der die Farben des Regenbogens schillerten. So stand sie. Wir waren zehn Schritte von ihr entfernt und ich betrachtete erstaunt und erschreckt dieses wilde schöne Tier, das das Meer geboren hatte. Nun aber – kam sie herab!
»Hallo! Jean Louis!«
Der Meerkönig war gerade dabei das Segel zu wechseln. Er hatte es losgebunden und hielt die Leine in der Hand. Da erblickte er die Woge, die bebte und funkelte und sich vornüber neigte, getigert mit weißen Gischtstreifen, die fächerförmig herunterschossen. Er lachte idiotisch: hü-hü-hü, und hielt die Leine des Segels mit beiden Händen fest, wie die Zügel eines Pferdes, das durchgehen will. Er stemmte die Holzschuhe gegen die Bank und sein Gesicht verzerrte sich vor verzweifelter Anstrengung. Das Segel spannte sich zum Zerplatzen infolge des ungeheuren Luftdrucks, der vor der stürzenden Wassermasse herfegte.
Die Woge donnerte und brüllte, das Boot flog in die Höhe, erst langsam, dann mit jähem Ruck, und der Meerkönig verschwand in einem Schneegestöber. Hühühü! Ein dicker Wasserstrahl fuhr wie eine Rakete zischend über das Boot empor. Ich blickte durch den Riß eines grünen Fensters weit übers Meer, bis zum Horizont: dort zog in aller Ruhe ein Dampfer mit zwei braunen Kaminen und qualmte. Er fuhr gegen Südwesten. Habana, St. Thomas, Para, Rio Janeiro, Valparaiso? Glückliche Reise! Da bekam ich einen Hieb über die Augen.
Wir schöpften das Wasser aus. Vorwärts! Fort! Der Meerkönig sah totenbleich aus und ich fühlte plötzlich genau die Stelle, wo mein Herz sitzt: denn es war stillgestanden.
Nun blieb uns nur noch übrig den Strom zu durchqueren, der den Eintritt der Bai durchschnitt. Zur Zeit der Ebbe war es nicht leicht, zur Zeit der Flut für ein kleines Boot unmöglich. Es kam vor, daß man fünf Minuten zu spät kam und dann drei, vier Stunden warten mußte, bis sich die Wut des Stromes gelegt hatte. Einmal fuhr ein Kutter vom Hafen heraus, prächtiger Wind, aber gerade mitten im Strom hörte der Wind auf und der Kutter wurde in die Klippen getrieben und zerschellte. Die Mannschaft wurde zerfetzt, so daß man sie nur noch an den Kleidern erkennen konnte; einem Matrosen fehlte der Kopf.
Wie ein Heer von kolossalen Walfischen, das auf der Flucht war, schoß der Strom dahin. Wir ritten darüber hinweg und fuhren in die Bai ein. Ich saß am Steuer, denn das war meine Arbeit.
»Diaul, Diaul!« heulte der Meerkönig. »Ich habe hier außen schon zwei Boote verloren. Einmal kam ich mit den Trümmern ans Land, einmal saß ich vierundzwanzig Stunden auf einer Klippe bis sie mich holten. Abermals gerettet, mein Freund, wir müssen eine Kerze stiften. Eine Zehnsou-Kerze!«
Er lachte und nahm die schmierige Kappe ab. Da kam sein bleicher Schädel zum Vorschein. War das ein Mensch? Sein Schädel war bis zur Größe eines Straußeneis eingeschrumpft. Drei dünne Haarsträhnen klebten an der Glatze. Das Gesicht war eine Käferlarve, die Nase eingesunken, das Salz hatte die Augen ringsum zerfressen, so daß sie wie Wunden aussahen.
»Glaubst du denn an solche Dinge, Jean Louis?«
Der Meerkönig lachte. »Auf dem Lande glaube ich nicht an Gott,« sagte er, »aber auf dem Meere. Auf dem Lande kann dir die Regierung helfen, aber auf dem Meere selbst der Minister nicht!«
Das leuchtete mir ein.
»Wie lange wirst du noch mit diesem Lumpen von einem Segel fahren?« fragte ich.
»Ein neues Segel ist teuer, bei allen Teufeln, unerschwinglich!« antwortete Jean Louis. »Ich werde Streifen darüber nähen, quer, mein Freund, quer. Vor zehn Jahren hatte ich ein kleines Malheur mit einem Segel wie diesem da.« Und Jean Louis erzählte dieses Malheur mit seiner heiser heulenden Stimme. Er fischte bei Stiff und sein Segel zerriß in hundert Fetzen und er trieb mit dem Strom. Da verlegte er sich aufs Rudern. Er ruderte wie ein Irrsinniger, aber als er sich nach einer Weile umblickte, war die Insel schon ganz klein. Am Abend sah er noch das Leuchtfeuer von Stiff, dann sah er nichts mehr. Er spie ins Meer und sagte: Jetzt geht es dahin mit dir, Jean Louis, hühü! Der Tag kam und er war Gott weiß wo. Es war Nebel, die Dampfer heulten. Wieder wurde es Nacht und er sah eine dunstige Lichtwindmühle die Flügel werfen. Einerlei, sagte er sich, du schläfst. Er schlief. Plötzlich hörte er Tuten und lautes Gebrüll. Er erwachte und sah ein riesiges schwarzes Gebäude mit vielen Lampen vor sich, und von da droben riefen sie ihn durch das Sprachrohr an. Er ruderte heran und stieg an Bord. Mein Boot, sakrenomdedü! – Vorwärts, die Glocken klangen, die Maschinen begannen zu arbeiten und der Dampfer marschierte. Am Morgen stand der Meerkönig inmitten einer eleganten Gesellschaft von Damen und Herren, die ihn erstaunt anlachten, den alten, weißhaarigen, kleinen Meerkönig, den man mitten in der Nacht aus dem Kanal gefischt hatte. Sie stopften ihm die Tasche voll Geld und besorgten ihm ein Billett zweiter Klasse von London nach Brest. Hühü! Da war er wieder! Gehe in die Hölle, Meerkönig, da bist du ja wieder! Sie hatten schon die Totenmesse gelesen. Ein Kreuzchen mit seinem Namen stand in der Friedhofskapelle. Und er mußte acht Franken für eine Messe bezahlen, die er nicht bestellt hatte.
»Aber ich bezahlte sie!« schrie Jean Louis und schlug an seine Brusttasche. »Nun hab ich eine Messe voraus!«
Er, Jean Louis, hatte dem lieben Gott einen Vorschuß gewährt, haha!
Dann lenkte ich das Gespräch auf Rosseherre: »Du hast ja eine so hübsche Enkelin, Jean Louis!« sagte ich.
»Rosseherre ist meine Pflegetochter!« heulte Jean Louis. »Meine zwei Töchter waren böse Weibsbilder und keiner hätte sie angerührt. Sie waren Kanaillen, sie prügelten mich, wenn ich getrunken hatte, und ich mußte meine kleinen Sous in den Mauerritzen verstecken vor ihnen. Sie hätten mir die kleinen Sous aus dem Maul gestohlen. Hühü – nun sind sie tot! Sie starben an der Schwindsucht. Rosseherre, mein Freund, ist meine Pflegetochter.«
»Du liebst sie wohl sehr, Jean Louis?«
»Hühühü!« Der Meerkönig lachte kindisch und schlug sich auf die kurzen Schenkel. »Rosseherre! – Eines nur ist schade. Sie ist nicht ganz gesund.«
»Hat sie es auch mit der Brust zu tun?«
Der Meerkönig schüttelte den Kopf. »Nein, mein Freund, sie hat es im Kopf. Sie hat es von ihrer Mutter. Die war eine Geisterseherin. Sie geht mit dem Meer. Sie hat Zeiten, da ist sie besessen und nicht bei Sinnen. Wenn sie heute sagt, der Pilot ist in der Nacht ertrunken, so kommt er nicht zurück – nie mehr!«
Ich hielt auf die rote Boje in der Reede. »Und jetzt will Yann sie heiraten?«
»Ja! Aber ich gebe meine Einwilligung noch nicht her!« Der Meerkönig warf sich in die Brust und tat stolz.
»Höre!« sagte ich und sah Jean Louis in die flachen, gebleichten Augen, die wie erblindet aussahen, »ich möchte dem kleinen Kapitän einen Streich spielen, er hat mir neulich ein Weinglas an den Kopf geworfen. Ich werde dir ein neues Segel kaufen, ein funkelnagelneues Segel aus bestem Material, erstklassig, wenn du deine Einwilligung noch etwas hinausschiebst.«
Jean Louis schlug sofort ein. Er wollte noch so lange warten als ich bestimmte.
»Gut, ich komme morgen zu dir und wir gehen zusammen zu Noel um die Leinwand zu kaufen. Wir können dann auch gleich die Kerze aussuchen.«
Hier aber lachte Jean Louis verschmitzt.
Nun, da wir gut angekommen seien, sei es besser, die zehn Sou in Schnaps anzulegen. Ich hatte nichts dagegen.
Jean Louis spülte die Fische ab und legte sie in den Kasten. Er schmunzelte zufrieden. Einen selten guten Tag hatten wir gehabt. Für gut drei Franken hatten wir gefischt in diesen zwölf Stunden! Wir bekamen ja nicht soviel dafür, die Händler –. Der kleine Fischhändler auf der Insel, der größere in Brest und der große Fischhändler in Paris. Sie alle hatten ungeheure Spesen, Haus, Familie, Wagen, sie alle hatten ein enormes Risiko. Der Meerkönig dagegen hatte keine Spesen und riskierte nichts als sein Leben.
Jean Louis kroch mühselig ans Land. Auf dem Lande bewegte er sich unbeholfen wie ein Krebs. Er nahm den Kasten über die Schulter, die zwei größten Fische trug er an den Zeigefingern, die er in die Kiemen einhakte, und so klapperten wir langsam den Steig hinauf zu Chikel. Der Boden wogte unter meinen Füßen, die Steine waren wie Teig.
In der Bar drängten wir die lauten Gäste zur Seite. »Platz gemacht, wir sind Fischer, kommen eben von der Arbeit!«
»Hoho! Seht sie an die krummen Hunde.«
»Hahaha!«
Es ging immer laut und fröhlich bei uns zu.
Ich gehe nach Hause. Die Steine klingen unter meinen Schritten, meine Augen sind scharf und folgen der Möwe weit hinaus übers Meer.