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Dann kamen die großen Stürme und alles wurde anders. Die Stürme selbst waren schuld daran –
Eines Morgens erwachte ich mit einem elenden Gefühl. Das Atmen wurde mir schwer. Ich ging hinaus um zu sehen, ob nicht etwa der Himmel herabgekommen sei und in Mannshöhe über der Insel laste. Alles stand still. Die Gräser, das Meer, die Luft, über dem Meer lag die lange Rauchwolke eines Dampfers, der schon entschwunden war, auch diese Rauchwolke stand still. Ein grauer, greisenhafter Himmel blickte von oben herab. Wo war das Leben hin?
Eine Stunde später änderte sich alles. Die Möwen waren die ersten, die das Fest witterten. Sie zogen in weiten raschen Kreisen mit dem Bauch über das Meer und schrien wild. Am Horizont schob sich eine unscheinbare, bleifarbene Wolkenbank empor, aber so rasch, als steige sie aus einer Versenkung herauf, und während sie wuchs wurde sie immer dunkler, fast schwarz. Senkrechte weißliche Wolkenfetzen flogen vor ihr her. Das Meer wurde düster und runzelte sich wie die Stirn eines wilden Tieres, das die Geduld verliert. Die Fittiche der raschen Möwen flatterten kalkbleich vor der dunkeln Wolke. Die Meerschwalben zogen in Zickzacklinien um die Klippen und läuteten und gurrten. Auf einem Felsen saß ein Fischreiher, sah hinaus und schlug zuweilen mit den Flügeln.
Mein Herz aber pochte.
Plötzlich ging ein pfeifender Hieb über uns dahin und die Insel war in eine ungeheure Staubwolke gehüllt, als ginge sie in Rauch auf. Die Gräser legten sich flach auf den Boden, Steinkörner sausten durch die Luft. Da war er –
Was für ein Gesang war das, bei allen Göttern? Es war das Lied vom Chaos, als es noch nichts gab als die schwarzen Wasser und das nackte Gestein. Es war das Schlachtenlied der Urriesen, die um Erde und Meer kämpften und sich zerschmetterten –
Das Meer dröhnte schwer, die Felsen tuteten, und das Toben vereinigte sich zu einem hohlen, surrenden Brausen, das alles erschütterte. Die Luft wetterte, die Atmosphäre bebte, wie ein Riesenventilator surrte die Luft und zerrte das Fleisch von den Knochen, riß an den Augenlidern und Lippen, legte die Ohren um und bog die Nase, wohin sie wollte.
Die Küste ringsum war bis hoch hinauf mit Gischt bedeckt und sah wie beschneit aus. Die Klippen im Meer trugen wehende Generalsbüsche. Das Meer war getigert bis zum Horizont, ein paar fliegende schneeweiße Schaumkämme mit Nacht dazwischen war das ganze Meer, nichts sonst. Die Schaumkämme aber rasten gegen die Insel. Je näher sie kamen, desto lebendiger wurden sie. Es waren Reihen von Schimmeln mit wehenden Mähnen, schäumenden Mäulern und strampelnden Vorderfüßen. Sie galoppierten gegen die Klippen, stürzten in die Höhe, wieherten, schwangen die Mähnen und sanken zerschmettert rücklings ins Meer. Und augenblicklich galoppierte die nächste Reihe heran, hoi, hoi, hopp hopp! Der Wind peitschte sie und sie taten ihr Bestes, flogen heran, hinauf und zerschellten.
Das war er!
»Vater unser – das ist er! Was soll ich tun? Sag mir den Gesang, den ich anstimmen soll! Soll ich vom grasgrünen Meerteufel singen, der drunten schlief und nun emporstieg und sich dreht wie ein rasender Kreisel?«
Poupoul sprang an mir empor, und ich packte ihn am Kragen und drosselte ihn. »Nimm dich in acht, Poupoul, siehst du nicht, daß ich ein Mörder bin!«
Und ich ging dahin und schrie in den Sturm hinein –
Am Hafen unten standen Männer und Frauen, flatternde Fahnenfetzen, alle erschrocken und bleich. Eine Frau lief schreiend hin und her und rang die Hände. Ihr Mann war nachts hinausgefahren und noch nicht zurückgekehrt. Jede Woge überflutete die Granitmauern des Dammes und hob spielend die schweren Eisenringe in die Höhe, daß sie klirrten. Ganze Wände von Wasser stürzten auf uns herab. Auf dem Damm lag ein behauener Granitblock, der einer Boje als Anker dienen sollte, gut einen Meter hoch und breit. Er war der Woge im Weg und plötzlich hob sie ihn und stürzte ihn ohne viele Umstände vornüber den Damm hinab. Man hatte das Postschiff rasch in den Innenhafen gebracht; auf dem Deck liefen brüllend die Matrosen umher und zogen die Taue an. Der »Kommissionär« war gefesselt wie ein Tobsüchtiger, mit Ketten, Drahtseilen, Tauen. Aber er wieherte vor Vergnügen, bäumte sich auf, zerriß die Fesseln und schlug das Heck der » Notre Dame de l’Isle«, die hinter ihm lag, in tausend Stücke. Draußen in der rasenden Bai ritt Yanns kleiner Dampfer an seinen Ketten. Viel Vergnügen, Yann!
Da sah ich auf einmal auch Rosseherre. Sie saß auf der andern Seite des kleinen Hafens in den Klippen. Sie sah gelb und elend aus und starrte mit hochgezogenen Brauen in die Ferne. Sie hielt einen Rosenkranz in den Händen und ihre Lippen bewegten sich.
»Hallo! Rosseherre!« schrie ich mit aller Kraft. Aber ich hörte nicht einmal die eigene Stimme.
Plötzlich klang etwas wie ein ehernes Bellen durch den Sturm. Es läutete. – Bei Stiff war ein Schiff in Not.
Sofort machte ich mich auf den Weg. Bis Stiff hatte man eine knappe Stunde zu gehen, aber ich brauchte zwei geschlagene Stunden dazu. Ich hielt den Mantel mit den Zähnen fest und bohrte den Kopf in den Sturm. Schritt um Schritt mußte ich mir erkämpfen. Der Sturm hatte die Regentropfen zu Nadeln zugespitzt und sie spießten sich wie Eispfeile in meine Haut. Zuweilen war ich gezwungen inne zu halten und im Schutze eines Steins aufzuatmen; wenn ich nur so viel Deckung fand als für meinen Kopf nötig war und ein paar Atemzüge tun konnte! Verließ ich die Deckung, so erfaßte mich der Sturm wie ein sausender Treibriemen und riß mich mit sich. Poupoul erging es nicht viel besser. Er streckte alle zehn Schritte sein Hinterteil dem Sturm entgegen und atmete zwischen den Pfoten, den Kopf auf den Boden gepreßt. Ich sah eine Möwe, die rückwärts flog! Sie landete erschöpft, ruhte ein wenig und stürzte sich abermals dem Sturm entgegen. Sie drehte sich wie eine Schiffsschraube, aber der Wind war stärker als sie und sie mußte wiederum rückwärts fliegen. Der Sturm trug sie in die Höhe wie ein Stück Papier, sie schrie, arbeitete wahnsinnig mit den Fittichen, aber es half nichts, sie mußte dahin, wo der Sturm es wollte. In drei Stunden war sie in England. Plötzlich begann ich zu pfeifen. He! Ja, ich pfiff ohne es, zu wollen. Der Wind flötete zum Vergnügen in meinem Kehlkopf, und durch Öffnen und Schließen des Mundes konnte ich ein ganzes Konzert pfeifen, über die triefende Heide aber zog Rauch. Ich stand still. Eine wagrechte dicke Rauchwolke zog rasend mit dem Sturm dahin. Brannte es? Brannte ein Schiff da drunten? Nein, es war Wasserdampf. Die Insel war hier turmhoch, aber der Sturm blies so heftig, daß er den Wasserstaub aus den Schächten und Kaminen der Klippen riß, wie Rauch aus einem Schlot, und forttrug. Drei, vier solcher Rauchsäulen fegten quer über die Insel.
Da war endlich Stiff. Sein kleiner gelber Leuchtturm schwamm verkrümmt in einer Wasserblase, die Hütte der Markonistation kauerte wie ein zerzaustes, graues Tier in der fegenden Heide. Selbst in der Sonne sah Stiff so trostlos, öde und bedrückend aus, daß sich der Herzschlag verlangsamte. Heute aber war es eine unterweltliche Wüstenei, die Grauen verbreitete. Und wie böse stand die schwarze Flagge über dem Semaphor! Der Sturm stieß mich hier wie ein Bündel vor sich her, er trug mich streckenweise, und es gelang mir schließlich nur noch, mich auf allen vieren von Stein zu Stein vorwärts zu bohren. Ohne Atem und fast seekrank vor Erschöpfung erreichte ich die Markonistation. Ich hämmerte gegen den eisernen Laden.
Herr Boucher war hier, Gott sei Dank! Er warf sich gegen die Türe. »Ziehen Sie doch!« schrie er.
»Ich ziehe ja!« antwortete ich. Die Türe schnappte wieder zu. Sollten wir, zwei Männer, nicht imstande sein eine lumpige Türe zu öffnen? Herr Boucher steckte einen Prügel durch die Türspalte, ich zog und die Türe flog krachend gegen die Hauswand. Da lag sie nun, wie angeschraubt. Wir arbeiten wie Teufel, der Regen peitschte uns das Gesicht, der Sturm riß uns das Fleisch von den Knochen – – endlich.
»Es soll ein Schiff in Not sein, Herr Boucher?«
»Sehen Sie durch dieses Guckloch. Da drunten ist es. Sehen Sie es nicht? Ein Fischerboot.«
Ja, nun sah ich es. Ein winziges Segel zuckte da drunten in der Tiefe zwischen den Schaumkappen.
»Nun?«
»Sie sind verloren. Sie können nicht hinaus aufs Meer und nicht hinein in die Bucht, sie würden in die Felsen geschleudert werden.« Herr Boucher nahm den Stahlbügel mit dem Hörer über den Kopf und setzte sich vor den Apparat. »Ich habe eben ein Gespräch belauscht zwischen einem Dampfer und Lizard. Ich glaube ein Schiff ist gescheitert. Lesen Sie hier. Nein, nun höre ich nichts mehr.«
Es war eine Depesche des Cunardliners Celtic an Lizard. Die Celtic telegraphierte, daß sie den Kohlendampfer »Fullspeed« fünfzehn Meilen südlich Scilly-Islands passiert habe, ohne Maste und Kamin, Maschine in Ordnung.
»Ja, nun gehe ich wieder. Vielen Dank, Herr Boucher.«
Ich mußte hinunter! Es ist mir heute noch rätselhaft, wie wir, Poupoul und ich, den steilen Pfad zur Bucht hinuntergekommen sind, aber wir kamen hinunter, das ist eine Tatsache.
Ein Häufchen Fischer kauerte in den Felsennischen. Der Schuppen, in dem sich das Rettungsboot befand, stand offen. Sie konnten natürlich nicht hinaus zu dem kleinen zuckenden Segel. Es war sogar unmöglich das Boot ins Wasser zu bringen. Sie standen mit den Händen in den Hosentaschen schwiegen und starrten mit zusammengekniffenen Augen hinaus. Die Gischtfahnen gingen haushoch über sie dahin.
Vor der Türe des Schuppens saß ein Weib mit zwei Kindern und alle drei verfolgten regungslos das kleine Segel, das im Kreise zuckte. Das Weib hatte harte Augen und lächelte kalt und verächtlich.
»Sie ist die Frau des Patrons da draußen,« sagte mir ein Fischer. »Es sind drei Mann an Bord. Sie sind schon vierundzwanzig Stunden auf dem Meer. Sie haben nur einen Laib Brot und eine Flasche Schnaps mit. Lange können sie es nicht mehr aushalten. Sie sind hin!«
Als ich nach Hause kam, war Sturmvilla wie mit einem Aussatz bedeckt. Schaumballen schwirrten durch die Luft. Die Wut der Brandung zerrieb das Wasser zwischen den Felsen zu schmutzigem Schaum und der Wind trug ganze Blöcke Schaum davon. Vor meiner Türe lag er fußhoch und die Heide war weithin damit bedeckt.
Der Sturm hatte meinen großen Kamin wie mit der Zunge ausgeleckt. Kein Stäubchen war in meinem Zimmer mehr zu sehen.
In dieser Nacht schlief ich wenig. Ich dachte immerfort an das kleine Segel, das bei Stiff im Kreise zuckte. Nun waren sie dreißig Stunden draußen. Und immer im Kreise! Vielleicht konnten sie einen Kreis von zweihundert Meter Umfang segeln, das war alles, was sie sich erlauben konnten. Und kaum eine halbe Meile vom Land entfernt. Wie? Sie sehen das Feuer von Stiff vor sich, dicht vor den Augen, am Tage hatten sie deutlich die schwarze Flagge über dem Semaphor gesehen: das war der Tod, der da droben wehte, ihr Tod war es. Vielleicht sahen sie Häuser, in denen man sicher hocken konnte hinter den dicken Wänden und essen und trinken – und sie fuhren im Kreise, vor dem Tod her, der mit ihnen ein Spielchen trieb.
Die Nacht war voll von unbeschreiblichem Spektakel. Das Spritzwasser zischte über mein Dach und rieselte an den Wänden herab. Regenböen prasselten. Es tobte und toste. Es hörte sich an, als ob ein rasender Riesengorilla auf den Klippen hockte und mit den Fäusten auf seinen Bauch trommelte. Schreie durchschnitten die Luft, als ob Menschen von den Klippen herabgestürzt würden und im Falle schrien. Gelächter, Flüche. Es waren all die Seeleute, die draußen ertrunken waren, die schrien und die Fäuste über den Klippen schwangen. Sie jammerten, denn sie sollten die Heimat nicht wiedersehen. All die Schiffe, die hier gescheitert waren, fuhren noch einmal in dieser Nacht auf. Sie krachten, splitterten, sanken. Und durch den Lärm hörte ich das dumpfe Läuten des Meeres. Bis in die Tiefe war es aufgewühlt. Da drunten rollten alte behaarte Glockentiere hin und her und dröhnten.
Bum – baha – bum baha!
Aus dem Tosen aber hörte ich deutlich ein Heulen heraus, das fürchterliche Heulen einer einzelnen Stimme! Sie rechtete mit Gott und der Hölle und konnte kein Ende finden. Das war Poupon, der Mörder, den das Meer nicht wollte. Hörst du ihn? Zuweilen stieß er einen Schrei aus und stürzte sich hinab, aber immer kam er wieder, heulte, verfluchte Gott und die Welt und schleuderte dem Schöpfer Felsen ins Gesicht, Felsen, Felsen! Hörst du?
Der Teil der Heide, auf dem mein Haus stand, hieß der »englische Friedhof«. Vor zweihundert Jahren scheiterte hier eine englische Flotte von vierzig Segeln und die Leichen bedeckten den Strand. Man begrub sie hier. Ja, nun hörten auch sie, daß da oben etwas vor sich ging und kamen heraus. Sie johlten und lärmten, viele hundert Stimmen schwirrten durcheinander, aber ich glaubte doch jede einzelne zu verstehen. Das Haus war ihnen im Weg, sie mußten etwas demolieren, denn sie waren wild geworden. Sie warfen sich mit den Rücken dagegen. Sie stießen mit den Füßen gegen die Türe und lachten. Öffne, öffne, you damn’ rascal! Ich hörte sie ganz deutlich, ich hörte sogar, daß sie Englisch sprachen. Auf das Dach! Nun, da waren sie auch schon auf dem Dach, polterten, zerbrachen mir die Ziegel und schließlich brüllten sie zum Kamin herein. Viele zu gleicher Zeit: Ha! Ha! Ho! Ho! Son of a bitch. Hooo!
Ich setzte mich aufrecht und die Haare standen mir einzeln zu Berge.
Da aber ging ein schrilles Pfeifen über das Haus dahin, ein Schleifen, ich hörte wie sie sich entfernten, wie der letzte vom Dach herabglitt. Sie rannten johlend über die Heide. Wie ein Blitz, all die vielen Hundert zusammen. Ich hörte, wie ihr Gejohl mehr und mehr in die Ferne entschwand. Das Segel! Ja, das kleine zuckende Segel bei Stiff. Hier gab es Arbeit für sie, hier gab es etwas zu tun –
»Vielleicht sind sie eben untergegangen,« dachte ich laut und fror.