Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Glocken begannen im Nebel zu bellen wie kleine Hunde, die im Schlafe gestört wurden.
Das Dorf schlief noch. Aber da und dort rührte es sich schon, Holzschuhe klapperten, Fenster erhellten sich, Stimmen kamen aus dem Nebel. Am Hafen unten schloß der Maire den Schuppen auf, in dem sich das Rettungsboot befand. Der Nebel war so dicht, daß man keinen Menschen sah, bevor man ihn anrannte, und wenn man mit jemand sprach, so zerfloß sein Gesicht in Schleiern.
Zurufe, Flüche, Durcheinander. Ein Seil schleifte am Boden und unsichtbare Hände zogen es straff. Ich griff zwischen ein paar Fäuste hinein und zog an. Räder knarrten und das Rettungsboot erschien gespensterhaft hoch und lang auf dem Wagen. Schatten warfen sich in die Radspeichen und eine Kette von Schatten hielt den Wagen hinten am Seil fest, damit er nicht zu rasch den Steig hinabrollte. Wie ein schwerfälliges, hundertfüßiges Ungeheuer aus der Vorzeit bewegte sich das Boot zum Meer hinab und die Welle spritzte gegen seinen Bauch.
»Vorwärts!« schrie ich. Da draußen warteten sie –
»Wir müssen warten, bis es Tag wird! Man sieht ja nicht die Hand vor den Augen!«
»Wo ist Kedril? He, Kedril, Pilot, dein Tag ist gekommen. Das ist eine Arbeit für dich. Ich zeige dir, wo der Dampfer liegt.«
»Mein Freund,« antwortete Kedril, »nicht für tausend Franken könnte ich das Boot hinausbringen. Bei diesem Meer! Wir müssen auf die Ebbe warten.«
»Wenn du es auch sagst, Kedril!« Ich war entmutigt, ich ging.
Im Dorf rannte ich gegen Noel, der sich ganz in geöltes Leder verpackt hatte und ein Fernrohr in der Hand trug.
»Nun,« rief er mir zu, »habe ich es Ihnen nicht gesagt, als Sie Sturmvilla mieteten, alle Schiffbrüche vollziehen sich dicht vor Ihren Augen – haha!«
Ich gab ihm keine Antwort. Ich lief nach Sturmvilla zurück. Nichts war als Nebel, das Branden des Meeres und alle drei Minuten grollte Creach in der Ferne wie ein todwundes Tier.
Etwas scharrte zwischen den Klippen. Es war Jean Louis. »Ein Dampfer ging in die Klippen – hühü!« sagte er und lachte idiotisch. »Rosseherre war wieder die erste –«
»Was kann man tun?« fragte ich.
»Was man tun kann? Nichts. Hühü! Die Klippen sind wie Messer da draußen. Sie fahren alle an derselben Stelle auf. Sie werden vom Strom abgetrieben und hören Creach erst, wenn sie festsitzen.« Er trappelte hin und her und spähte auf den Boden. Eine Gruppe von Fischern, Frauen und Kindern sammelte sich an, und alle spähten sie auf die ankommende Welle mit vorgeneigten Köpfen und gierigen Augen. Sie waren die Abkömmlinge von Seeräubern und ihr Herz hatte das Meer gehärtet. Was war ein Schiffbruch für sie? Es hatte Nächte gegeben, da drei Schiffe scheiterten, und wiederum hatte man in drei Nächten nacheinander die Sturmglocken geläutet.
Etwas Dunkles trieb ans Land und alle stürzten sich gleichzeitig darauf. Es war das Wrack eines kleinen, schwarzen Bootes. Wie ein zertrümmerter Brustkorb. Dann wichen sie plötzlich alle zurück: mitten in der Welle stand ein Mensch, der von Wasser troff und die Arme nach ihnen ausstreckte. Er fiel vornüber und die Woge trug ihn ans Land und legte ihn schweigend nieder. Die nächste Welle fuhr über ihn hin und er bewegte sich, als ob er sich aufsetzen wolle. Dann zogen Jean Louis und ich ihn weiter aufs Land.
Er lag mit offenen Augen da, als ob er sehr erschrocken wäre, und lächelte mit geöffneten Lippen, daß man die Zähne unter seinem kleinen dünnen Schnurrbart sah. An der rechten Schläfe hatte er eine schwarze Schramme. Er war tot.
Die Fischer standen um ihn im Kreise. Jean Louis nahm die Mütze ab und schlug das Kreuz. Alle folgten seinem Beispiel. Creach knurrte in der Ferne, während sie das Gebet murmelten.
»Hier liegt er jetzt!«
»Es ist rasch gegangen mit ihm. Das Meer warf ihn gegen einen Felsen.«
Ein kleines Mädchen sagte leise und lachte vor Angst dazu: »Vater, er lacht ja!«
»Nun beruhige dich, alle Toten lachen.«
»Ein junger Mensch ist er.«
»Zweiundzwanzig.«
Das kleine Mädchen sagte und wieder lachte sie etwas: »Vater, er sieht mich an!«
»Alle Toten sehen dich an, beruhige dich!«
Dann durchsuchten sie ihm die Taschen. Aber der Tote besaß nichts. Eine Pfeife, ein Messer, ein rotes Taschentuch. In der Brusttasche seines kurzen Kittels fand sich ein Brief.
»Ein Brief!«
Ich zündete ein Streichholz an.
»Er heißt – wartet – er heißt Joe Gordon, der Dampfer heißt Indiana und kommt von Kapstadt.«
»Joe Gordon – Indiana –«
»Willst du die Streichhölzer nehmen?«
Der Brief war zerweicht und schwer leserlich. Er lautete ungefähr: »Dear Joe, wenn du nach Liverpool kommst, so besuche mich. Fahre nicht gleich wieder weg, wie das letztemal. Ich bin krank und mein Fuß tut mir weh. Ich gehe nicht mehr aus und warte auf dich. Das Leben ist recht elend, wenn einen die Kinder ganz vergessen. Deine alte Mutter.«
»Das Marineamt wird ihr eine Depesche senden.«
»Joe wird nicht kommen. Und sie ist alt und krank, hm.«
Da war auch plötzlich Rosseherre wieder da. Sie drängte die Leute zur Seite und schrie und warf sich weinend über den Toten. Sie sprach mit ihm, sie nannte ihn » mon cœur«, » mon petit« und schluchzte herzzerreißend.
Ich ertrug es nicht länger, ich ging.
»Vorwärts!« schrie ich. »Worauf wartet ihr denn noch?!«
Es war Tag. Das Rettungsboot sah wie ein Phantom im bleichen Nebel aus, unnatürlich hoch und lang, und die Welle leckte seinen weißen Bauch.
Gesichter gingen im Rauch. »Wir können unmöglich fahren.«
»Hunde seid ihr, wenn ihr nicht fahrt.«
»Aber das Meer ist schrecklich, wir kommen nicht zur Bai hinaus!«
Ich zitterte vor Erregung. Ich bot meine ganze Überredungsgabe auf. Aber sie blieben kalt und ruhig.
»Da draußen sind sie!«
»Hier sind unsere Frauen und Kinder.«
Chikel hatte morgens um fünf Uhr die Bar geöffnet und eine Lampe angezündet. Vielleicht ging es so! Ich ging umher und goß den Fischern ein. Sie hatten keine Phantasie. Sie sahen nicht, wie sie da draußen auf dem Wrack saßen, sich festklammerten und hofften, ah, pfui!
»Aber ihr müßt fahren!« sagte ich. »Das bißchen Meer, was für Leute seid ihr doch! Ich kenne euch nun so lange!«
Die Fischer rekelten sich.
»Unmöglich!«
»In die Hölle mit euch!«
Ich ging. Ich bebte vor Zorn.
Nebel. Dick und häßlich gelb, wie Eiter. Creach grollte alle drei Minuten, das Meer schlug.
Bei den Klippen standen die Fischer und lauerten auf alles, was geschwommen kam. Zerschmetterte Leichname trieben ans Land. Am Vormittag zählte man sieben, am Abend dreizehn. Der Nebel aber stand wie eine Mauer.
Creach brüllte die ganze Nacht. Am nächsten Morgen war der Nebel dünner geworden, und plötzlich unterschied man im Düster draußen den Dampfer. Er lag schräg, sein Achterdeck stand über Wasser und bei jeder Woge stieg ein Turm von Gischt daran in die Höhe. In den Tauwänden hing etwas wie graue Flocken, das waren Menschen. Der Nebel zog und wir sahen sie nicht mehr.
Um zwei Uhr aber, zur Zeit der Ebbe, fuhr Yann hinaus.
Hoch Yann, und dreimal hoch!
Ja, plötzlich regte es sich auf dem »Arbeiter«, der draußen im Nebel inmitten der Sturzseen tanzte. Die Ankerwinde rasselte. Wir sahen einander an. Wie? Es zischte und aus dem Kamin quoll eine dicke Rauchwolke, die den »Arbeiter« in graue Nebelballen einpackte. »Der kleine Kapitän marschiert!« Ja, natürlich marschiert er! Das war Yann, der wie ein Mädchen weinte, wenn er betrunken war. Nun aber zeigte es sich, was in ihm steckte! Er hatte lange genug gewartet und nun ging er los und war nicht mehr zu halten. Entweder – oder. Gewiß hatte er die Zähne gezeigt, als seine Mannschaft zögerte. Eine Stunde lang rasselte die Ankerwinde, stoß- und ruckweise, der Anker saß fest. Plötzlich aber hörten wir etwas, ein fürchterliches Gebrüll – trotz der Entfernung. Das war Yann. Gleichzeitig bewegte sich der Nebeldampfer. Er fuhr rückwärts! »O, lala!« sagte Noel. Dann stellte er sich auf die Hinterbeine und stürzte kopfüber hinab, rollte und ging vorwärts. Wir sprachen kein Wort. Nur, da wir lange zusahen, wie sich Yann Zoll um Zoll den Weg erkämpfte, sagte einer: »Wenn die Maschine es aushält –!« Wir warteten stundenlang auf demselben Fleck und spähten in den Nebel hinein. So oft wir Yann tuten hörten, sahen wir einander an und regten uns.
Yann kehrte mit acht Schiffbrüchigen zurück. Es war ihm gelungen, ein Seil zu werfen, über das sie an Bord klettern konnten. Am nächsten Morgen ging das Rettungsboot hinaus und holte die zehn übrigen. Nun waren sie alle gerettet bis auf einen, einen Neger, einen Stoker, der sich nicht über das Seil wagte.
Man sah ihn den ganzen Tag über oben auf dem Mast hocken wie einen kleinen dunklen Klumpen. Der Nebel zog und verbarg ihn, der Nebel wurde dünner, und immer noch saß der Neger da. Der Mast hatte sich geneigt und ragte nur noch zum vierten Teil aus dem Wasser. Gegen Abend ging das Rettungsboot nochmals hinaus und fuhr so nahe wie möglich an den Mast heran. Gespenstisch wie der Fliegende Holländer tanzte das Boot im Nebel. Aber der Neger rührte sich nicht vom Platze. Am andern Morgen hatte sich die Mastspitze bis aufs Meer herabgesenkt. Das Spritzwasser ging über den Neger hin. Wieder fuhr das Boot hinaus, aber der Neger rührte sich nicht. Er hockte da und heulte. Er hatte den Verstand verloren. Am Abend, als sich der Nebel auf Augenblicke lichtete, war die Mastspitze leer.
Man grub eine Reihe Gräber in der Heide. Alle Fischer standen mit der Mütze in der Hand. Auch ich. Der Priester sprach, und der Totengräber spritzte in gleichen Zwischenräumen den Tabaksaft durch die Zähne ins Grab hinab.
Und nun erschien auch ein Fleckchen blauer Himmel zwischen den Nebelbänken.
In den Klippen aber saß ganz allein Rosseherre und starrte aufs Meer hinaus. Die winzige Mastspitze war gesunken. Von der »Indiana« war nichts mehr zu sehen.
Ich ging nahe an Rosseherre vorbei. Sie sang leise mit einer hohen, weinenden Stimme wie der Wind und wiegte den Kopf dabei.
Ich sah über die Insel: sie kam mir schrecklich vor.