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49. Kapitel

Heinrich saß in der gemütlichen Stube seines Onkels. Es waren nun seit seiner Verwundung durch den Hirsch vier Monate vergangen; die Kräfte waren zurückgekehrt, doch das Bein blieb schwach. Wenn sich Windholz in Haus und Hof bewegte, war ihm nichts anzumerken. Er konnte auch regelmäßig in seiner Werkstatt arbeiten, ohne daß ihm der Schenkel zu schaffen machte. Nur zu wandern war er nicht mehr imstande.

Ein Arzt, den er in Berlin aufgesucht hatte, war nach langer Untersuchung zu dem Schluß gekommen, daß Sehnen verletzt waren, die, nicht korrekt verheilt, das Bein nach kurzen Wegen schnell ermüden ließen.

Es war in der Tat so, daß selbst ein Gang durch das Dorf Heinrich stark hinken machte. Es war aus mit dem Leben eines Zugvogels. Ohne Pfeffer wäre es allerdings auch nur eine halbe Freude gewesen, und doch glaubte Heinrich mitunter, er müsse mit dem Schädel gegen die Wände rennen, so ungewohnt war ihm das seßhafte Leben. Eines wurde ihm klar wie nie vorher; daß er glücklich sein konnte, ein Handwerk erlernt zu haben. Die Arbeit allein ließ ihn über diese schwerste Zeit seines Lebens hinwegkommen.

Da er bei einem Meister gelernt hatte, der etwas verstand und in das Handwerk, das er liebte, viel Persönliches hineinlegte, konnte Heinrich mehr als ein Durchschnittstischler. So wenig es mit seiner Wanderlust und dem stark entwickelten Sinn für Abenteuer übereinzustimmen schien: er hatte seine Arbeit immer mit Interesse ausgeführt. Der Onkel raffte sich in dieser ernsten Angelegenheit zu mehr als nur zwei Worten auf und sagte: »Du weißt, Heinrich, ich habe dir, was dein Wanderleben anbelangt, immer die Stange gehalten, denn es ist selten, daß einer ganz seiner Neigung lebt wie du und doch ein ordentlicher Kerl bleibt. Da du aber dein zweites Ich, deinen Pfeffer, verloren hast und eines deiner Beine kaputt ist, solltest du aus der Not eine Tugend machen und die andere Seite deines Wesens nach außen kehren. Leicht ist es nicht, aber es gibt wohl nichts Elenderes als einen alternden Mann, der über die Landstraße humpelt und musiziert und dem die jugendliche Spannkraft fehlt.

Wer auf die Fünfzig lospilgert, dem schmeckt es nicht mehr, irgendwo in einem Heuschober zu erwachen und, steif von der Kälte, die bis in die Knochen gedrungen ist, aus dem Rucksack zu frühstücken. So einer ist dann auch nicht immer heiter, wenn er mit den Menschen zusammenstößt, und das muß ein Wandermusikant sein, der was verdienen will.

Allein aus dem Umgang mit der Natur fröhlich sein kann nur ein junger Mensch. Wenn wir älter werden, müssen wir unser tägliches Quantum Fröhlichkeit mit einer gehörigen Portion Arbeit erkaufen. Die läßt sich aber nur vollbringen, wenn man seßhaft ist.«

Der Alte hatte ausgesprochen, was Heinrich seit langem gefühlt hatte, wenn er sich auch gegen diese Erkenntnis wehrte. Nun wollte er diesen Weg gehen.

Doch er mußte noch um eine sehr windige Ecke, ehe er in der neuen Art zu leben sich selbst wiederfand.

*

Solange Windholz' Gedanken noch auf den Straßen weilten, auf denen er mit seinem Schnauzer unstet, aber glücklich gelebt hatte, mußte ihm das heimatliche Dorf, sein Haus und sein Hof zu eng sein. Doch Onkel Anton hatte schon recht, die Arbeit half über manches hinweg, und gediegene Aufträge wurden ihm genug gebracht, denn man sah ja, er konnte nicht mehr weg, der Vogel war am Fuß gefesselt.

Wenn er nicht in der Werkstatt arbeitete, war im Hof und im Garten manches zu erneuern, denn Onkel Anton war mit den Jahren recht langsam geworden. Abends und an den Sonntagen saßen die beiden Männer in der Stube des Alten und beschäftigten sich mit den kleinen Sängern. Doch obwohl Heinrich viel für die Waldvögel übrig hatte, war er bei dieser Liebhaberei des Onkels nur eine Art Gast. Daher brachte er sich eines Tages, im Frühjahr, ein sehr schönes Paar schwarzer Trommeltauben mit, die er bei einem Züchter in der Stadt erworben hatte. Sie waren belatscht, das heißt, ihre Füße waren mit langen Federn geschmückt, und eine reizende Doppelhaube zierte ihre Köpfe. Das Paar fing im April zu brüten an und bildete den Anfang einer Zucht von sehr feinen Tieren, die Windholz im Laufe der Jahre heranziehen sollte.

Schwester Regine hatte seit der Wendung in ihres Bruders Leben viel von ihrer Rauhheit aufgegeben, ihr gutes Herz wurde offenbarer. Es rührte sie, wie sehr sich der Bruder bemühte, aus der ihm durch »die Heimsuchung«, wie sie es nannte, aufgezwungenen neuen Lebensweise das Beste zu machen, und sie beschloß, entgegen allem, was ihr für sie selbst erstrebenswert erschien, ihrem Bruder eine Frau zu suchen.

Wenn sie auch im stillen hoffte, daß ihr die Zügel nicht gänzlich aus der Hand gleiten würden, so war sie sich doch darüber klar, daß mit dem Einzug der jungen Frau die besten Tage für sie selbst dahin waren.

Sie kannte eine, die ihr die richtige schien. Oh, niemand sollte glauben, daß die alte Regine sich bei ihrer Wahl von eigennützigen Motiven leiten ließ. Heinrich sollte eine gute und hübsche Frau haben, und jung mußte sie auch sein – nicht solch ein fleißiges, aber unscheinbares Lieschen, ein Dienstmädchen für die alte Regine, das man obendrein nicht zu bezahlen brauchte ...

Die Erwählte hieß Wera, und Regine wußte, daß sie einmal geäußert hatte: »Die Männer hier im Ort sind alle so langweilig, der einzige, der anders ist, treibt sich das ganze Jahr über auf den Landstraßen umher ...«

Eine Gelegenheit, Wera auf den Hof zu bitten, ohne daß es besonders auffiel, fand sich bald. Das kräftige, sehr gut aussehende Mädchen brachte einen Satz Gänseeier vom Hofe ihrer Eltern. In der Scheune, als die beiden Frauen einer Pute die fremden Eier unterlegten, meinte Regine: »Wie alt bist du eigentlich jetzt, Wera?«

»Sechsundzwanzig, Tante Regine, warum denn, seh' ich älter aus?«

»Nee doch, durchaus nicht, dein Bräutigam hat dir das doch sicher schon gesagt.«

»Ich habe keinen und will auch keinen.«

»Jaja, mein Kind, es ist eben nie alles beisammen. Entweder die Kerls sind langweilig oder sie haben sonst 'n kleinen Fehler, so ist es doch?«

»Du, Tante, ich glaube, du willst mich uzen, aber dein Bruder – auf den willst du doch hinaus – hat mich in seinem Leben noch nicht angesehen ...«

Für Regine, die die Welt kannte, war das vorerst genug. Jedenfalls fand sich jetzt häufiger ein Grund, der das junge Weib auf den Hof führte.

Es kam dahin, daß Heinrich das Mädchen vermißte, wenn er es zwei Tage nicht sah, und schließlich begannen die Neckereien zwischen ihm und Wera, die so oft der Beginn der Zärtlichkeiten sind.

Im Mai war es kein Geheimnis mehr, daß die beiden etwa im Herbst ein Paar würden.

Onkel Anton hatte diese Entwicklung kommen sehen. Ihm war auch klar, daß Regine diesen Keimling gepflanzt hatte. Als er einmal mit ihr allein in der Küche war, hielt er die Zeit für gekommen, die Frage anzuschneiden. Nach einigen dunklen Andeutungen von beiden Seiten sagte Regine plötzlich, indem sie ungeduldig auf den Tisch schlug, so daß Flocki bellend auffuhr? »Nu sag bloß schon, Onkel, was du an dem Mädel auszusetzen hast, denn darauf soll doch das ›Hum‹ und ›Na ja‹ hinaus!«

»Nee, Regine, so ist das nicht«, meinte der Onkel, indem er seine Nichte voll ansah, »an der Wera ist nichts auszusetzen, aber Heinrich sollte überhaupt nicht heiraten, dem gewöhnt keine mehr die Flötentöne an, der ist zu lange frei umhergeflogen, der verliert seinen unabhängigen Sinn nicht mehr ... Du wirst es ja nicht verstehen, aber den Pfeffer kann dem keine Frau ersetzen.«

Das war zuviel für Regine. Sie war voller Entrüstung darüber, daß jemandem ein Hund wichtiger sein sollte als eine Frau, und ließ den Onkel stehen.

*

Es sah nicht so aus, als sollte des Onkels Anschauungsweise sich bewahrheiten. Die Dinge gingen ihren Gang, und wenn Heinrich auch merkte, daß er anfing, seiner Wera manches einzuräumen, was er vor gar nicht langer Zeit für undenkbar gehalten hätte, so sagte er sich doch: Wenn zwei Menschen bisher für sich gegangen sind und nun ihren Weg gemeinsam fortsetzen wollen, müssen sie ihre Schrittlänge einander anpassen.

Heinrich war sehr verliebt in seine Erwählte und dachte nicht darüber nach, wie es später alle Tage werden sollte mit dem Verheiratetsein und den Rücksichten, Nachsichten und Vorsichten.

Wera war auch verliebt. Sie hatte in Heinrich Windholz den Mann gefunden, den sie mit sicherem weiblichen Instinkt gesucht hatte. Daß sie ihn in der ländlichen Abgeschiedenheit fand, war ein Wunder.

Das Mädchen war sich darüber klar, daß dieser eigenwillige, originelle Mann, den sie liebte, noch manche seiner Gewohnheiten ablegen mußte, wenn er ein erträglicher Ehemann werden sollte, und da Wera nicht zu den Menschen gehörte, bei denen das Gefühl stärker ist als der Verstand, so sagte sie sich bei aller Liebe für ihren Heinrich, daß sie sich ihren Zukünftigen schon »erziehen« würde.

Inzwischen vergingen Frühling und Sommer, und der Herbst rückte heran.


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