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5.

Es war der letzte Abend der Festspiele. Den ganzen Tag über hatte Richard Marschall auf ein Telegramm gewartet, das er sich von Johanna Grube erbeten hatte. Als er um halb sechs Uhr ins Theater ging, war noch keine Nachricht eingetroffen. Da starb die Erwartung in ihm und machte einer großen Leere Platz, die er nicht auszufüllen wußte. »Der Brief des Rechtsanwalts wird nichts Erfreuliches zu melden gehabt haben,« sagte er sich und preßte die Lippen aufeinander. »Nun ist alles so gut wie vorbei. Johanna sinnt über die Form nach, es mir möglichst schonend mitzuteilen.«

Seine Musiker schauten verwundert zu ihm auf, als er müde den Taktstock hob. Er fing die Blicke auf, und eine heiße Röte lief ihm bis in die Stirn. »O nein,« murmelte er, »das wollen wir hübsch auseinander halten.« Und mit einem Ruck war er der alte. Sein Temperament sprang über auf Orchester und Bühne, und er gab es aus, als hätte es Pfennigwert, und als er zum Schluß auf die Bühne mußte, um die letzten Ovationen entgegenzunehmen, fühlte er ein angenehmes Schwanken unter den Füßen.

»Liebster Freund,« sagte der Generalintendant und legte ihm vertraulich den Arm um die Schulter, »morgen treten Sie einen vierwöchigen Urlaub an. Alle Achtung vor Ihrem Nervensystem, aber wir wollen länger daran haben. Unser Kunstinstitut basiert nicht zuletzt auf Ihrem Namen.«

Er dankte mit abwesenden Blicken. Er hätte schon daran gedacht, sein Heimatsdorf aufzusuchen und im väterlichen Pfarrhaus eine Zeitlang auszuspannen.

»Meine ergebensten Empfehlungen an den Herrn Pfarrer. Also morgen reisen Sie?«

»Morgen reise ich.«

»Liebster Marschall, Sie machen mir mein Amt so schön. Wenn Sie mir jetzt noch die Sängerin engagieren könnten, Sie wissen schon, die uns fehlt, die Frau Nuntius. Aber ich will Sie jetzt nicht mit neuen Berufssorgen quälen. Recht, recht gute Erholung und herzlichsten Dank für die Erfolge.«

Sie schüttelten sich die Hände, und Richard Marschall nahm den Weg nach Hause. Jetzt fühlte er erst die Abspannung ganz. Das Gehirn war so träge geworden.

Als er in seinem Junggesellenheim Licht machte, sah er die Abendpost auf dem Tisch liegen. Er durchblätterte die Briefe, und dann stutzte er plötzlich. Sein Gehirn schien doch nicht so träge zu sein. Es strengte sich an, sich auf diese Schriftzüge zu besinnen, die der Umschlag trug, den er gerade in Händen hielt, und es besann sich. Da flog auch schon zerfetzt die Papierhülle herunter, und er saß mit vorgestrecktem Kopf und überschlug in der Eile eine halbe Seite, die er nun Zeile für Zeile nachzuholen sich zwang.

»Lieber Richard!« –

Da stand »Lieber Richard!« Und es blieb am Kopfe des Bogens stehen, so oft er auch während des Weiterlesens mit Herzklopfen hinschielte, ob sich die Anrede nicht in »Lieber Freund« oder »Verehrter Herr Marschall« verwandeln würde.

 

»Lieber Richard! Als ich heute in die junge Morgensonne hinausschaute – ich hatte das Zubettgehen aufgegeben, weil mich immerfort ein Wunsch plagte, ein Wunsch, ganz für mich allein – da lag drüben in der Villa Phönix Herr Bettermann im Fenster und rief mir zu, daß übermorgen abend die Einweihung seines neuen Hauses vor sich gehen solle. Und ich übernahm es, Sie zu übermorgen abend herüberzubitten. Das Haus ist streng gotisch geworden, und wer es nicht glauben will, dem beweist es Herr Bettermann an den zuckerhutförmigen Türen und Fenstern. Ich weiß, Sie werden Ihrem alten Freunde die Ehre nicht versagen. Und wenn ich auch von mir sprechen darf – ach, lieber Richard, es ist so schwer und doch so leicht. Aber mündlich muß es sein. Bitte, kommen Sie!

Ihre Helga.«

 

»Ihre – Helga!« Und auch das blieb stehen und änderte sich nicht.

Da begann Richard Marschall mit leiser Stimme ein Lied zu singen, und es wurde lauter und lauter, je häufiger er es von vorn begann, und der Raum war voll von den Worten, die sich zu festlichen Girlanden ineinanderschlangen:

»Laßt uns die Becher bekränzen – kränzen – –«

Nie hatte es ihn so nach der Heimat getrieben. Wie ein Kind hatte er Sehnsucht nach seinem alten Herrn. Nach einem Menschen, der ihm nahe stand, dessen Blut sein Blut sei, mit dem er einen Tag und eine Nacht schwatzen, lachen, jubilieren könne. Denn dann erst war – übermorgen!

Als er am nächsten Mittag in Höchst den Zug wechselte, um Eppstein im Taunus zu erreichen, ebbten sich seine überschwenglichen Gefühle, denn das Bild seines Vaters rückte näher und näher. Und als er von Eppstein aus zu Fuß durch den Wald wanderte und den Kirchturm des Heimatsdorfes erblickte, sah er seinen alten Herrn ganz deutlich vor sich, am alten Schreibtisch, den ein Stoß orthodoxer Streitschriften bedeckte.

Ob ich wirklich mit ihm darüber spreche? dachte er. Über was denn? Ich weiß ja selber nichts als ›Lieber Richard‹ und ›Ihre Helga!‹ Das genügt doch wahrhaftig nicht, um eine Traurede in Auftrag zu geben.

Aber er schritt dennoch kräftig aus.

Vor dem Hause lag der Spitz in der Sonne. Sein Freudengeheul scholl bis ins Haus hinein. Da erhob sich der Pfarrer von seinem Schreibtisch, trat ans Fenster und schob das wilde Rosengeranke beiseite, das einst seine heitere Frau gepflanzt hatte. Es war alles wie bisher. Auch sein Anruf: »Heda, ist Besuch da?«

»Dein Jung' ist angekommen!«

»Ei der Tausend! Herein, herein!«

Da stand auch schon der alte Herr auf der Schwelle und breitete die Arme aus. Noch immer hielt er sich strack und steif, seine rote Gesichtsfarbe hatte einen bräunlichen Hauch bekommen, und die feinen Narben, die Erinnerungszeichen der Studentenzeit, waren durch die faltigere Haut krummer geworden. Aber seine hellen Augen leuchteten wie Jünglingsaugen.

»Du, das hast du aber gescheit gemacht.«

»Freut's dich? Dann bleib' ich bis morgen mittag.«

»Das wäre! Hast du Urlaub?«

»Vier Wochen!«

»Und ausgerechnet vierundzwanzig Stunden hast du mir davon zugedacht? Du, dir ist wohl – –« und er tippte dem Sohn an die Stirn.

»Na, darüber sprechen wir noch, Vater. Vielleicht komm' ich zurück und bleib' länger. Das hängt von dir ab.«

»Das ist die neue Richtung,« lachte der alte Herr. »Von dem Betragen der Väter hängt das Betragen der Söhne ab. Komm doch mal herein, daß ich dich näher betrachte.«

Aber er betrachtete ihn doch mit Stolz. »Das Früchtchen scheint sich ja entwickelt zu haben.«

»Das war doch nicht anders zu erwarten. Bei der Rasse!« Und Marschall klopfte dem alten Herrn auf die breite Schulter.

»Hör mal, auf den sterblichen Leib kommt es nicht an, wohl aber auf die unsterbliche Seele.«

Aber es glitt doch ein Schmunzeln über das gesunde Gesicht.

»Jetzt wollen wir Kaffee trinken. Im Garten, wenn du willst. Dann machen wir einen Spaziergang durchs Dorf, damit die Guste unterdes das Kalb schlachten kann.«

»Du, Vater, deine biblischen Zitate schmecken nach der Legende vom verlorenen Sohn. Vielleicht fällt dir auch mal was Hübscheres ein.«

»Die Hauptsache ist, daß dir der Braten schmeckt. Schenkst du mir dann einen Teil deines Urlaubs, so nehme ich feierlichst das Gleichnis zurück.«

»Im besten Seelsorger steckt doch ein Handelsherr,« kopfschüttelte der Sohn. »Aber es ist mir nicht unlieb. Es bringt uns menschlich näher.«

Der Garten prangte in Sommerpracht. Die Bienen summten um die Blumenrabatten und machten den Schmetterlingen die Schenken streitig. Die Obstbäume hingen voll reifender Früchte, und die Gemüsebeete standen in saftig grünem Schmuck. Friedlich lugte das rote Dach des Pfarrhauses herüber.

Der alte Pfarrer schlürfte seinen Kaffee und hatte seine Freude an dem segenreichen Sommertag.

»Das waren die Tage, die deine Mutter über alles liebte. Wenn alles um sie her summte und brummte, blühte und duftete und Früchte trug. Dann ließ sie dich auf dem Knie reiten und rief: ›O du schöne, schöne Welt! Jung', da mußt du hinein!‹«

»Und der Junge ist hineingegangen,« sagte Richard Marschall leise, »und heute weiß er, daß die Mutter recht hatte. Sie ist schön, die Welt, Vater.«

Der Alte sog an seinem Pfeifenrohr. Dichte Wolken blies er in die Luft.

»Ja, ja, ja,« brachte er endlich hervor, »es gibt doch Tage, an denen ich die Mutter sehr vermisse. Wenn man in das kanonische Alter kommt, dann schaut man mit ganz andern Augen in solch einen Sommertag. Dann leuchtet er ganz anders. Und unwillkürlich blickt man schärfer in die Büsche, ob man da nicht ein helles Kleid schimmern sieht. So eins, wie Mutter trug, als sie eine junge Frau war.«

»Sie ist nicht alt geworden,« sagte Richard Marschall sinnend.

»Nein,« fuhr der Alte fort, »der Himmel hat ihr nur die Jugend geschenkt. Des Herrn Wege sind unerforschlich. Oft habe ich darüber nachgegrübelt, ob er es ihretwegen so eingerichtet hätte, denn damals fing mein Glaube an, ein eifernder Glaube zu werden, und ihre sinnenfrohe Weltlichkeit, die nur an Gottes Güte glaubte und nicht an Gottes Zorn, stand oft verständnislos vor mir und sah mich mit erschrockenen Augen an.«

»Vater – –!«

»Ich weiß, was du sagen willst. Es wäre ein Ausgleich geschehen, wenn sie leben geblieben wäre, sie hätte mir die allzu starren Ecken genommen und mir statt der Broschüren, über denen ich sitze und mich errege, den Wanderstab in die Hand gegeben. Und wir wären in den Wald hinausgezogen, und sie hätte mich gelehrt, in der Natur zu lesen, die Gott also erschaffen, und in ihrer eigenen frohen Seele, die so stark genießen konnte und dennoch so rein war. Auch darüber habe ich nachgedacht. Und ich hab' mir sagen müssen: Sie hätte die Jugend immer behalten, auch wenn der Himmel sie mir hier gelassen hätte. Darum muß es wohl meinetwegen gewesen sein, und nun denk' ich zuweilen, ob ich die Prüfung richtig verstanden habe.«

»Vater – so hast du nie mit mir gesprochen.«

»Es hat auch lange genug gedauert, mein Junge, bevor die Hoffart, die in jedem Menschen steckt, die Gedanken an die eigene Zweifelhaftigkeit vorließ. Seit ich ihnen aber einmal gnädige Audienz erteilte, um ihre Beschwerden mit einer Kanzelbewegung abzutun, kamen sie ungeniert wieder und gebärdeten sich bald wie Hausfreunde. Da hab' ich mich denn mit ihnen auseinandergesetzt, und nun lächeln wir uns nachsichtig zu. Ja, an solchen Sommertagen, mein Junge, wenn alles Prangen in hellerem Licht steht, und man sitzt allein und sucht aus der Vergangenheit ähnliche Tage heraus, dann denkt man unwillkürlich dies und das und ob das Leben nicht ebensogut mit einem Gott wohlgefälligen Burschenlied zu nehmen ist, wie mit einem Gott wohlgefälligen Choral.«

»Burschenlied,« entschied Richard Marschall.

»Nicht so rasch!« wehrte der alte Herr. »Aber nun mein' ich oft, es ginge – beides zu seiner Zeit – –«

»Machen wir das Exempel darauf! Vater, heute abend geht's über deinen Weinkeller.«

»Soll ein Wort sein, Junge. Aber vorher – wie gesagt: beides zu seiner Zeit – gehst du mal mit in die Kirche. Wir wollen die Orgel spielen.«

Gemächlich schritten sie durch den Garten, wie zwei alte Freunde, die sich wohl verstehen, und an jedem Blumenbeet machten sie Halt.

»Du, Vater, wenn du mir das vor zehn Jahren gesagt hättest. Das wäre eine fröhliche Wissenschaft gewesen.«

»Es mögen jetzt – warte einmal,« und der alte Herr rechnete nach, »sechs Jahre mögen es jetzt sein, da hab' ich mich in den Gedanken verbissen. Du warst mit dem jungen Mädchen hier gewesen. Dort zwischen den Rabatten stand sie und schnitt Salat. Das ist mir noch deutlich gegenwärtig. Dann schaute ich euch lange nach, wie ihr auf eiligen Füßen in die Welt zurückschrittet, in der ich auch einmal ein junger lustiger Student gewesen war und – aus der die Mutter war. An dem Abend kam's. Denk dir – es ist beschämend – an dem Abend hab' ich zwischen meinen Jugenderinnerungen den alten Zecher gespielt. Und es ist mir gut bekommen.«

»Das ist die Hauptsache,« betonte Richard Marschall.

Der Pfarrherr war stehen geblieben.

»Wie hieß sie doch noch?«

»Wer?«

»Das junge Mädchen, mit dem du mich damals überfielst.«

»Helga Nuntius. – Hat sie dir gefallen?«

»Ich bin den Eindruck lange nicht losgeworden. Sie war wie ein Geschöpf, das nur in einem mondbeschienenen Park zu Hause ist. Meine Sympathien sind sonst nicht so schnell bei der Hand. Aber der habe ich nach dem Mond die Sonne gewünscht. Was ist aus ihr geworden?«

»Eine große und eigenartige Bühnenkünstlerin, Vater.«

»Verheiratet?«

Richard Marschall tat einen tiefen Atemzug. Dann sagte er ruhig: »Sie war es. Es ist möglich, daß gestern die Scheidung erfolgt ist.«

»Die Schei– –? Das hätte ich nicht erwartet. Das ist ja entsetzlich.«

»Warum denn, Vater?«

»Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden. Das ist kein leeres Wort.«

»Und wenn's der liebe Gott gar nicht zusammengefügt hat?«

»Was heißt das? Auf Sophismen lasse ich mich nicht ein.«

»Ja, Vater, es werden doch auch Ehen geschlossen, bei denen die Liebe gar nicht mitgewirkt hat. Das wirst du als Geistlicher doch am allerbesten wissen.«

»Dann ist es ein Verstoß gegen die göttliche Ordnung gewesen, oder, wie ihr Neuerer sagt, gegen die sittliche Ordnung. Also strafbar. Wer zu freveln wagt, muß auch den Mut haben, die Folgen zu tragen. Das wäre mir eine traurige Gesellschaft.«

»Und wenn eine Unschuldige davon betroffen ist? Die aus Unkenntnis gehandelt hat?«

»Welcher Mensch kann von sich sagen, daß er sich im Stande der Unschuld befindet. Lies im ersten Buch Moses den Sündenfall.«

»Ich lese lieber im Evangelium die Worte des Heilands: Wer ohne Schuld, der werf' den ersten Stein.«

Der alte Herr nahm das Pfeifenrohr aus dem Mundwinkel und sah den Sohn scharf an. Und dann wechselte er das Thema.

»Gehen wir zur Kirche? Die Orgel hat sich famos eingespielt.«

»Gern. Soll ich wieder den Blasebalg treten?«

»Wenn's dir Spaß macht? Sonst kann ich den Kirchenjungen holen lassen.«

»Natürlich macht's mir Spaß. Schon, weil wir dann allein bleiben.«

»Du,« sagte der alte Herr und plinkte mit dem Auge, »das ist verdächtig. Heraus mit der Sprache! Willst du mich etwa anpumpen, du Heimtücker?«

»Deinen Geldbeutel am wenigsten. Vielleicht dein gutes Herz.«

»Der hat etwas auf dem Kerbholz,« murmelte der Alte. »Aufgepaßt!« Und der Sohn erriet die Gedanken des Vaters und murmelte: »Donnerwetter, Achtung!« So gingen sie die Dorfstraße entlang, und der greise Pfarrherr lehnte die Pfeife gegen die Kirchentür, schloß auf und betrat mit dem Sohn den dämmerig kühlen Raum. Und dann hatten sie beide keinen Gedanken mehr, als den an die Weihe des Ortes. Bis die Orgel ertönte. Da fehlte ihnen beiden etwas. Der Gesang.

Richard Marschall trat die Bälge, und der Alte zog die Register. Und als die brausenden Töne sich zu Harmonien ordneten und nach einer Bachschen Fuge der Riese Händel sein Haupt erhob und nach dem Messias rief, da horchte der Orgelspieler über die Brüstung hinaus, und auch der Blasbalgtreter spitzte die Ohren.

»Schade, daß jetzt die Kleine nicht da ist,« sagte der alte Herr.

»Die scheint dir ja mächtig ans Herz gewachsen zu sein,« reizte der Sohn und lachte in sich hinein.

Nach dem Abendessen blieben sie am Tische sitzen. Lustig kräuselte sich der Rauch ihrer Zigarren und trieb durch das offene Fenster in den träumenden Garten hinaus. Die Gläser waren gefüllt, und die beiden Menschen spürten ein Wohlbehagen.

»Wie lange hab' ich nicht pokuliert,« sagte der alte Herr und stieß mit dem Sohne an. »Zu mir kommt keiner. Der Schulmeister ist Abstinenzler, und die edle Gottesgabe allein genießen, macht melancholisch. Prost, mein Junge, sollst leben!«

»Dein Wohl, Vater. Weshalb läßt du deine alten Korpsbrüder nicht mal antreten oder trittst bei ihnen an?«

»Das letztere, nur das letztere! Das wird über kurz oder lang geschehen. In der andern Welt. Da haben sie sich nämlich versammelt und warten auf mich. Ich bin jetzt das älteste Semester, und das – das ist eine Ehre, die ihre zwei Seiten hat.«

»Ich gestatte mir auf das Wohl des ältesten Semesters einen Ganzen aufs Spezielle.«

»Danke dir. Möge dir diese Würde auch einmal werden.«

»Vorläufig bin ich zum Ritter geschlagen.«

»Was? Du?«

»Eigenhändig von meinem gnädigen Herrn. Vorgestern nach der Aufführung meiner ›Hadwiga‹. Ritterkreuz erster Klasse. Ist das nicht eine gute Flasche wert?«

»Ach du – entschuldige mal – da muß ich doch selbst mal in den Keller. Willst du mit? Dann nimm das Licht. Wir wollen einen Gang antreten, so ernst, wie er der Bedeutung der Ereignisse entspricht.«

»Du weißt einen Ritter zu ehren,« sagte Richard Marschall, als sie die Ausbeute ihrer Kelleruntersuchung auf dem Tische aufgebaut hatten. »Das ist für einen Landpfarrer kein schlechter Tropfen.«

»Der stammt noch aus der Zeit deiner seligen Mutter, mein Junge. Ich hab' ihn liegen lassen. Der beste Jahrgang.«

»Stamm' ich auch aus dem Jahrgang?«

»Ich will dich nicht beleidigen. Prost, Herr Ritter!«

»Es lebe die Stammburg, Vater!«

»Das ist ein gutes Wort, dem Weine angemessen. Ja, damals, als ich ihn einkellerte …«

»Erzähle, Vater. Das wird eine Nacht, um jung und Schwärmer zu sein.«

»Wäre nicht die erste, Richard. Gott, wenn mir so die Blume des Weines in die Nase steigt –. Das Marburg, das war doch ein prächtiges Nest. Oder lag's daran, daß wir jungen Burschen damals alles in die Begeisterung tauchten. Wie mir das immer in die Knochen ging, wenn der feierliche ›Landesvater‹ stieg.« Und er begann mit tiefer Stimme zu singen:

»Alles schweige! Jeder neige ernsten Tönen nun sein Ohr!«

Hell fiel Richard Marschall ein. Erst blickten Vater und Sohn aneinander vorüber, aber mählich wurde der alte Herr warm, und dann streckte er dem Jungen die Hand über den Tisch hinüber, und Auge in Auge sangen sie sich an.

»Nimm den Becher, wackrer Zecher, vaterländ'schen Trankes voll!«

»Ach du, Junge, Richard, es hat doch was an sich! Wenn ein Menschenalter dazwischen liegt, merkt man es wieder. Der Anfang und das Ende bringen dieselben Träume. Wir laufen im Kreise und wissen es nicht.«

»Keine Rührung, Vater! Wozu? Jetzt wissen wir es, und wir wollen es mit Bewußtsein wissen. Das schmückt das Leben.« Und er stimmte aufs neue an:

»Hier sind wir versammelt zu löblichem Tun –«
»Drum, Brüderchen, ergo bibamus!«

sang der alte Herr mit kräftiger Stimme.

Und der Junge sang ihm entgegen:

»Was sollen wir sagen vom heutigen Tag?«

Und der Alte antwortete lächelnd:

»Ich dächte nur: ergo bibamus!«
»Er ist nun einmal von besonderem Schlag!«

sang der Junge.

Und volltönend der alte Herr:

»Drum immer aufs neue: bibamus!«

Und dann vereinten sie ihre Stimmen, und durch das ernste Pfarrhaus zog es in den Garten, den einst die junge Frau Pfarrerin in seiner bunten Heiterkeit gepflanzt:

»Er führet die Freude durchs offene Tor,
Es glänzen die Wolken, es teilt sich der Flor,
Da leuchtet ein Bildchen, ein göttliches, vor,
Wir klingen und singen: bibamus!«

»Vater, du, dich hätt' ich als Student sehen mögen!«

»Glaub's! War nicht der schlechteste.«

»Und der sanfteste auch nicht!«

»Der sanfteste? Na ja, ein bißchen wild hab' ich's schon getrieben.«

»Und zechen mußt du gekonnt haben!«

»Kann ich auch heute noch. Gute Schule, Herr Ritter, anders als heute! Zechen mit Begeisterung, für die Ideale: Vaterland, Burschentum, Liebe! Nicht für den sozialen Brei, der den jungen Leuten von heute im Hirn schwimmt. Wir, wir halten die Jugend! Prost!«

»Ich erkenn' meinen Vater nicht wieder. Man hat mir meinen Vater ausgetauscht!«

»Die Mutter hätt' bei mir bleiben sollen. In der Einsamkeit hatte ich nichts als mich. Da hab' ich an mir herumgewetzt und herumgeputzt wie an einer Klinge. Blank wurde sie und scharf auch, vielleicht zu scharf, aber alle die Inschriften, die sie mir einst so wertvoll machten, gingen verloren.«

»Nimm meine dafür, Vater.«

»Das wäre nicht übel,« meinte sinnend der alte Herr. »Oder liegt das an den hellen Sommernächten – –.«

»Auch in Marburg waren sie hell, und du hast nicht lange gegrübelt: woher und weshalb? Du hast sie genossen mit dem unangekränkelten echten Empfinden der Jugend. Vaterland, Burschentum, Liebe – was ist das für ein wonniger Dreiklang. Und die Marburger Mädchen? Was sagten die dazu?«

»Ja, mein Jung',« lachte der alte Pfarrherr, »dazu ließen wir sie gar nicht kommen.«

»Du gibst mir da schlechtes Beispiel, Vater.«

»Ach was, wenn man jung ist! Das lange Scharwenzeln und der moderne ästhetische Flirt waren damals nicht Mode. Ein Küßlein in Ehren! Ja, wenn man das immer langer Hand hätte vorbereiten wollen, dann wär ja die Jugend vorübergebraust, und wir hätten uns hinterher den Mund wischen können.«

»Das nenne ich ehrlich!«

»Ehrlich?« rief der alte Herr, und seine Augen glänzten. »Schön war's! Wunderbar war's! Du, als ich deine Mutter zuerst sah! Ich hatte ein kleines Vermögen, und sie hatte nichts als ihre jungfräuliche Schönheit und ihre Lustigkeit. Ja, glaubst du, da hätte ich erst Reihe herum gefragt, ob's erlaubt sei? Die oder keine! Damit war für mich alles erledigt. Und riesenstark fühlt man sich dabei. Gegen eine ganze Welt springt man auf. Diese oder keine!«

»Und dein Vater? War er einverstanden?«

»Mein Vater Superintendent? Na, mein Sohn, so ein Gesicht zu sehen, wünsch' ich dir nicht, wenn du eines Tages mit deiner Allerliebsten angezogen kommst. Erst hat er mich beiseite genommen und auf mich eingeredet, dann hat er gewettert, daß es nur so eine Art hatte. Aber das verschlug mir nichts. Ich will sie ja heiraten, ich, ich, ich! hab' ich ihm zugerufen. Wie könnt denn ihr wissen, was ich als Glück empfinde, was mein Glück ist? Und mein Schatz hat mich angelacht, und ich hab' sie in die Arme genommen, und trotz aller Vorstellungen und allen Zeterns hab' ich sie zu meinem Weibe gemacht. Herrgott, ich danke dir. Das hab' ich nie bereut.«

Er fuhr sich über die Stirn, schaute ins Weite und trank langsam sein Glas leer, als tränke er einem lieben Schatten zu.

»Vater, jetzt darf ich nicht mehr zurückhalten. Hörst du mir zu?«

»Jung', laß es was Schönes sein. Füll die Gläser wieder. Mir ist, als säße ich irgendwo in einer Laube mit meinem Leibfuchs, und wir hätten, wie es dazumal des öfteren geschah, die Theologie für den Abend beiseite gelegt und schwärmten von den geliebten Mädchen.

O du Entriss'ne mir und meinem Kusse,
Sei mir gegrüßt, sei mir geküßt …«

summte er und schaute in das flüssige Gold des Weines. »Wie der Wein warm macht. Ja, ja, der stammt noch aus der Zeit deiner seligen Mutter. Da war noch Wärme.«

»Ich hab' mich auch nach der Wärme gesehnt, Vater. Ich bin in den letzten Jahren so einsam wie du gewesen.«

»Einsam? Du? Und mitten in der Welt? Weshalb denn das?«

»Weil ich jemand lieb hatte, Vater.«

»Und – hast dich nicht getraut? O je, dich hätten wir in Marburg haben müssen.«

»Da hätte ich gelernt, gegen alle Welt anzukämpfen, glaubst du?«

»Das hättest du. Wenn man mit der rechten Begeisterung liebt, gibt es keine Verhältnisse, die nicht zu besiegen sind.«

»Vater, das ist die Stimme des Blutes. Ich liebe Helga Nuntius, und sie soll und muß meine Frau werden.«

Da setzte der alte Herr sein Glas nieder und erhob sich.

Und Richard Marschall erhob sich ebenfalls und zuckte nicht mit der Wimper.

»Die Frau läßt sich scheiden, Richard?«

»Sie hat ihren Anspruch an das Glück, wie wir alle.«

»Sie hätte es in ihrer ersten Ehe suchen sollen. Wer sucht, der findet. Aber vielen ist das unbequem.«

»Sie hat das Allergeringste verlangt, und hat es trotz fünfjährigen Suchens nicht gefunden.«

»Was kann das sein?«

»Die Heimat. Ein Plätzchen zum Ausruhen. Sie hat eine traurige Kindheit gehabt und eine kalte Ehe. Was sie für sich wünscht, ist nicht viel.«

»Du schätzest dich nicht hoch ein, mein Sohn.«

»Ich schätze mich so hoch ein, daß ich weiß, ich werde ihr die Heimat schaffen. Und dieser Heimatboden soll fruchtbar sein, für neue Wünsche und immer neue Erfüllungen.«

»Du willst mich wohl auf die Probe stellen, Richard. Aber du irrst dich, wenn du meinst, du könntest mich von den Überzeugungen abbringen, denen ich ein ganzes Menschenalter geopfert habe.«

»Und die ursprünglichen Empfindungen deiner Jugend? Wiegen die nicht zehnmal mehr als die aus tausend Schriften zusammenstudierten Überzeugungen? Wer war es denn, der, als er jung war, sich in seiner angefeindeten Liebe so riesenstark fühlte? Es war mein Vater. Wer war es, der nicht erst Reihe herum fragte, ob's erlaubt sei, und gegen alle Welt aufsprang und rief: Die oder keine? Wieder mein Vater. Und wer war es, der gegen alle Vorstellungen des eigenen Vaters die Liebste in die Arme nahm als sein Weib und nur die eine Antwort hatte, für die er soeben noch seinem Herrgott dankte und die er nie bereut hat: Wie könnt denn ihr wissen, was ich als Glück empfinde und was mein Glück ist? Zum dritten Male: mein Vater! Weißt du, daß ich ihn dafür mit heißester Liebe liebe, meinen Vater?«

»Richard, Richard, du sprichst doch von einer geschiedenen Frau!«

»Vater, wenn du Mutter kennen gelernt hättest, als sie müde und zerbrochen aus einer glücklosen Ehe gekommen wäre, wenn du gefühlt hättest, daß du, du allein im stande seiest, ihr das Glück des Lebens zu erschließen, weil deine Liebe zu ihr so schrankenlos groß und rein sei – würdest du an ihr vorübergegangen sein einer äußeren Form wegen?«

»Ich?«

»Hättest du den Kopf eingezogen und wärst vor dir selber davongelaufen?«

»Junge – ich?«

»Hättest du sie hinter dir her blicken lassen mit der Verzweiflung an Gott und den Menschen? Nur, weil die Orthodoxie nun einmal kein tolerantes Menschentum zuläßt? Oder hättest du dir gesagt, was dir jetzt oft in den merkwürdig hellen Sommernächten durch den Sinn geht: – beides zu seiner Zeit? Und hier bin ich Mensch und hier will ich es sein, so wahr Gott mich als einen solchen geschaffen hat, bevor ich die Buchstaben in seinen Büchern verglich?«

»Jung', Jung',« sagte der Alte, »hast du das von deiner Mutter oder deinem Vater – –?«

»Ich hab' es von meinen Eltern, denen ich für mein Leben danke, so wie es ist!«

Da ging der alte Herr mit gebogenem Rücken zum Tisch und griff nach seinem Glas. Und als er sich umwandte, hatte er den Rücken gestreckt, und in seinen Augen schwamm ein sonderbarer Glanz.

»Komm mal her, mein Junge, jetzt sollst du mir aber Bescheid tun.«

»Worauf, Vater?«

»Worauf? Auf meine Schwiegertochter! Prosit, Richard!«

Da lag der Kopf des Jungen an der breiten Brust des Alten. So eine Umarmung hatte der Pfarrherr lange nicht verspürt. Und er strich hin und her über das Haar des Sohnes und sagte nur immer: »Jung', mein Jung'. Ich werd' doch nicht meinen Jung' im Stich lassen.«

Und dann drückte er ihn auf einen Sitz nieder und setzte sich ihm gegenüber und bestimmte: »Jetzt aber kein Wort mehr darüber. Spar sie dir für deine Helga, wenn du dir das Jawort holst. Junge, du hast mich zum Wein verführt und die alten Zeiten heraufbeschworen. Bin ich so lange Mensch gewesen, kann ich's auch noch ein paar Stunden länger sein. Stoß an, Marburg soll leben!«

Er wollte keine Weichheit zeigen, der alte Herr. Aber in seinem Innern war ein Damm durchbrochen, und brausende Frühlingsgewässer drangen hindurch und überfluteten seine Brust. Und unaufgefordert begann er zu erzählen von Fahrten und Träumen und wie jung, wie jung er selber einmal gewesen sei.

Es ging auf die zweite Morgenstunde.

»Eine neue Flasche, Vater?«

Aber der alte Herr erhob sich und reckte lachend seine mächtigen Glieder.

»Da sprach der Scheich zum Emir:
Jetzt san mir full, jetzt gehn mir.«

»Voll von Begeisterung, Vater. Nur dem Leben die Brust bieten, wenn es einem Geliebte werden soll.«

»Junge, Junge, du hattest eine wunderbare Mutter,« sagte der alte Pfarrherr und ging leise hinaus …

Und Richard Marschall stand noch lange vor dem verblaßten Bilde, das an der Wand hing.

»Ja, Mutter, nun muß ich dir für meine Sinnenfreude noch einen besonderen Dank sagen. Weil ich durch dein Erbteil die Welt und das Leben so schön finde …! Helga und ich, wir werden's weiter vererben. Wenn ich sie nur erst hätte, die Helga. – – Gute Nacht, Mutter. Dein Erbteil ist in besten Händen.«

Der wilde Rosenstrauch, der die Fenster umrankte, zitterte dem Frühwind entgegen. Da strömte ein Duften aus der Nacht in den Morgen. – –


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