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8.

Richard Marschall ging an diesem Tage nicht mehr heim und auch in den nächsten Tagen nicht. Bis gegen die letzten Tage des Semesters ließ er sich im Konservatorium nicht mehr sehen. Er saß am Bette des Freundes, der wie der Docht erlosch, mit dem er sich einstmals verglichen hatte, und nur noch in kurzen Stunden seine Lebensgeister aufflackern ließ. In die Nachtwachen teilte er sich mit Johanna Grube. Wenn sie ihn ablöste, schlief er mit horchender Seele auf einem Diwan neben der geöffneten Tür. Tagüber aber saßen sie meist zusammen an seinem Bette und zwangen sich zu fröhlichen Gesichtern; denn Franz Grube quälte es, jemand um seinetwillen traurig zu sehen. Da lachten sie ihm zu Gefallen. Das war ihr größtes Opfer.

Sonst durfte keiner an sein Bett herantreten außer dem Arzt.

An jedem Morgen erschien Helga Nuntius, um nach dem Verlauf der Nacht zu fragen. Aber auch sie ließ der Kranke nicht vor, so sehr er auf ihren Besuch wartete und so sehr seine Augen aufleuchteten, wenn er ihren Schritt vernahm. Johanna mußte ihr an der Tür ein paar gute Worte sagen.

»Weshalb soll ich das Kind durch meinen Anblick erschrecken?« sagte er. »Nun behält sie doch ein leidliches Bild des Freundes in der Erinnerung und wird nicht schaudern, wenn sie an mich denkt.«

»Es kommt aber doch darauf an, was dich freut,« entgegnete ihm Richard Marschall.

Dann wiegte der Kranke den Kopf in den Kissen hin und her.

»Sterbende sind Egoisten,« erwiderte er, »das weiß ich sehr wohl. Sie meinen, das ganze Weltall müsse auf dem Kopf stehen um des Abscheidens eines einzigen Menschenwurms willen. Als ich zum ersten Male starb – du verstehst mich, Richard – da glaubte ich das auch, da erwartete ich den Einsturz der Welt jeden Tag. Dann verwunderte ich mich, daß nichts erfolgte, daß kein Mensch deshalb langsamer oder schneller hinter seinen Geschäften herlief. Und dann verlernte ich auch das Verwundern. Seit zwanzig Jahren bin ich tot und sollte nicht weiser geworden sein? Sieh, Richard, wenn ich nun, was ich gewiß gerne möchte, Fräulein Nuntius hier an meinem Lager hätte, so wäre das für mich eine Freude von Stunden und für sie eine Qual, die ich nicht bemessen kann. Und ich gehe, und sie bleibt. Das wäre doch ein betrügerischer Handel. Ich bin wohl zeitlebens ein schlechter Kaufmann gewesen, aber ein ehrlicher.«

Und das Sterben des Freundes gab Richard Marschall die Lebensreife.

Wenn er den Arzt, der Morgens und Abends zur Untersuchung erschien, hinausbegleitete, um das Resultat zu erfahren, zuckte der alte Sanitätsrat die Achsel.

»Es ist nichts als das Fieber, und das Fieber ist alles.«

»Gibt es denn keinen lokalen Krankheitsherd, den man bekämpfen könnte?«

»Die Lungen, die Lungen! Es geht eben zu Ende.«

»Eine Luftveränderung vielleicht?«

»Sie kriegen ihn ja nicht aus Frankfurt fort. Vor Wochen hab' ich ihm schon vorgeschlagen, der Hitze zu entfliehen und den Sommer in einem Luftkurort der Schweiz zuzubringen. Wissen Sie, was er mich darauf gefragt hat? ›Wenn ich es tue, Herr Doktor, welche Gnadenfrist geben Sie mir dann noch? Nach Ihrem besten Ermessen und auf Ehrenwort.‹ ›Ja,‹ hab' ich geantwortet, ›vielleicht bis zum Winter, vielleicht länger.‹ Da lachte er und meinte: ›Ich mache nur sichere Geschäfte. Außerdem schließt das Konservatorium erst am letzten Juni. Da habe ich doch wenigstens meine Freunde in der Nähe und höre hie und da ein Volkslied.‹ Volkslieder, das ist nämlich seine fixe Idee.«

»Also gar keine Hoffnung?«

»Jeder Tag, den er noch hat, ist ein Geschenk Gottes.«

Dann ging Richard Marschall ins Zimmer zurück und tat sehr aufgeräumt und klopfte dem Kranken auf die Schulter. »Na ja, na also, hab' ich's nicht gesagt? Nur nicht verzappeln wollen.«

Und Franz Grube lachte über das hagere Gesicht. »Spitzbube, ich verzappele ja gar nicht.«

An einem Abend fiel der Kranke in einen tiefen Schlaf. Seine Kräfte waren erschöpft. Richard Marschall saß mit Johanna Grube schweigend an seinem Bett, und beide horchten sie auf seine Atemzüge. Die Schatten fielen in das Zimmer, und es wurde dunkel. Aber keiner dachte daran, Licht zu machen. Als die Uhr zum Schlag aussetzte, zuckte der Schlafende zusammen. Da erhob sich Marschall auf den Zehenspitzen und hielt den Perpendikel an. Und von Zimmer zu Zimmer ging er geräuschlos und brachte überall die Uhren zum Stehen. Dann saß er wieder neben der unermüdlichen Pflegerin, und beide horchten sie in die große Stille hinein.

Vom Dom hatte es Mitternacht geschlagen. Und von Sankt Leonhard, der Paulskirche und der Katharinenkirche war in kurzen Abständen die Antwort erfolgt. Auf der Gasse war das Leben erloschen. Da regte sich Johanna Grube und tastete nach des Freundes Hand. »Richard, wie soll ich Ihnen das vergelten? – –«

»Johanna, wie kann man nur davon sprechen!«

»Sie wissen ja nicht, was für ein Trost Sie mir sind!«

»Ich glaube, ich bin bei Ihnen stark im Vorschuß,« murmelte er.

»Das war vielleicht einmal,« gab sie zurück, »aber es ist schon lange her.«

»Ich wollte Ihnen mit meinen Sorgen nicht beschwerlich fallen. Und außerdem – ein leichtsinniger Mensch wie ich, dem glaubt man so was ja auch nur aus Höflichkeit.«

»Richard, dürfen Sie wirklich so sprechen?«

»Na ja. Heut heißt sie Luise und morgen Helene, und kommt man dann mit einer, die – die –«

»Die Helga heißt« – sagte das große Mädchen leise.

»Die Helga heißt,« fuhr Marschall finster fort, »nun was dann? Würden Sie sich nicht totlachen, wenn ich Ihnen in so buntem Wechsel plötzlich Liebesjammer vorführen wollte?«

»Nein,« sagte sie und preßte seine Hand, »ich würde mich nicht totlachen. Einen jeden Menschen trifft's einmal.«

»Aber jeder Mensch hat nicht so ein schlechtes Führungsattest wie ich.«

»Glauben Sie, daß die Liebe danach fragt? Die wahre Liebe muß immer etwas zu verzeihen und zu bemuttern haben.«

»Bei Helga Nuntius war es das Ausschlaggebende. Sie hatte kein Zutrauen zu mir. Ich hab' das herausgefühlt, wenn sie auch von ihrer Kunst sprach. Und ich – ich kann mich eben nicht verstellen.«

»Nein, Richard, das dürfen Sie nicht. Das ist ja gerade das Schöne an Ihnen.«

»Nun kann ich mich an meiner eigenen Schönheit erfreuen.«

Sie hatte die Hand zurückgezogen und starrte in die Dunkelheit. Und nach einer Pause, während er seine Gedanken über die Gasse nach Johann Bettermanns Haus gesandt hatte, hörte er wie aus der Ferne ihre leise Stimme: »Vielleicht finden Sie – ein anderes Glück.«

»Nein,« sagte er ganz ruhig.

Da wurde es wieder still in dem dunklen Krankenzimmer. Die beiden Pfleger blickten unverwandt auf das Bett, dessen weiße Laken gespenstisch leuchteten, horchten auf die Atemzüge des Schlafenden und verglichen die Glockenschläge, die vom Dom herüberschallten, mit der Klangfarbe des Glockenschlags von Sankt Leonhard, der Paulskirche und der Katharinenkirche. Dann kroch ein grauer Streifen durchs Fenster und ließ die Konturen schwach erstehen. Marschall blickte auf. Er fühlte, daß die Augen der Freundin auf ihm ruhten, und er erschrak, als er im Zwielicht ihre feuchten Wimpern gewahrte und die stille Blässe ihres Gesichts.

»Was ist Ihnen, Johanna? Der Morgen kommt, und ich habe die letzten Stunden nicht nach Ihnen gefragt.«

»Was will das besagen! Höflichkeit unter Freunden? Nein, Richard, unsere Freundschaft soll anders sein.«

Er war betroffen von der Weichheit ihrer Worte. Dann beugte er sich vor und nahm ihre Hand. Und während er sie küßte, fuhr sie ihm leise über das Haar und sagte ohne Übergang: »Ich muß es noch einmal wiederholen, Richard, damit Sie mich recht verstehen: Die wahre Liebe muß immer etwas zu verzeihen und zu bemuttern haben. Sie sagen, Sie haben die wahre Liebe. Also wird es an Ihnen sein, zu verzeihen und zu bemuttern. Ob heute, ob eines Tages, danach fragt die wahre Liebe nicht. Sie weiß nur, sie ist immer da.«

Richard Marschall sah sie großen Blickes an. Über sein Gesicht ging ein Leuchten. Das Morgenrot war ins Zimmer gekommen.

»Wo haben Sie nur das Trösten gelernt?«

»Vielleicht aus mir selbst, vielleicht von meinem Bruder Franz. Wir letzten Grubes scheinen eine besondere Liebesmission erhalten zu haben.«

Da stand er auf und zog das große Mädchen in seine Arme.

»Schwesterherz,« sagte er nur.

»Bruder Richard,« lächelte sie tapfer.

Das Zimmer war voll von der Sonne des jungen Tages. – –

Gegen acht Uhr schlug Franz Grube die Augen auf. Genau zu der Zeit, zu der Helga Nuntius anzufragen pflegte. Aber er horchte heute aufgeregter als sonst nach dem Treppenhaus hin.

»Sie wird gleich dasein,« redete ihm Marschall zu, »bleib hübsch ruhig liegen.«

»Johanna,« flüsterte der Kranke, und sie kam an sein Bett. »Wenn sie heute kommt, laß die Tür offen. Ich möchte ihre Stimme gern hören.«

»Ja, Franz,« sagte die Schwester, und sie fühlte, wie ihr das Herz klopfte. Sie hatte seine Bitte richtig verstanden, und über das Bett hin suchten ihre angstvollen Augen die tröstenden Züge Marschalls. Leichte Schritte kamen die Treppe herauf. Da faßte sie sich, lächelte dem Bruder zu und ging zur Tür.

Richard Marschall hatte dem Freund den Arm um die Schultern gelegt und ihn sanft aufgerichtet. Wie den gebrechlichen Körper eines Kindes hielt er ihn, der vorgebeugt in den Kissen saß und die fieberhaft glänzenden Augen nicht von der Tür ließ. Jetzt ging eine Spannung über die elfenbeinernen Züge. Er hatte Helga Nuntius' Stimme vernommen.

»Darf ich ihn denn nicht endlich sehen, wo es ihm doch besser geht?«

»Er – ist noch nicht – empfangsbereit.«

»Wollen Sie mich dann rufen lassen? Ich habe heute die letzte Stunde im Konservatorium. Sie brauchen nur zu Bettermanns hinüberzuschicken.«

»Die letzte Stunde im Konservatorium.« Leise bewegte der Kranke die Lippen.

»Ich werde Sie ganz bestimmt rufen lassen,« erwiderte Johanna Grube, »gehen Sie nur fröhlich an Ihr Tagewerk. Und viel Glück zum guten Studienabschluß.«

»Ich möchte, daß Sie ihm diese Rosen geben. Sie sind noch taufrisch. Ich habe sie mir in der Frühe selbst abschneiden lassen.«

»Franz wird sich sehr freuen, daß Sie so früh schon an ihn gedacht haben.«

Und wieder nickte der Kranke.

»Grüßen Sie ihn herzlich von mir und sagen Sie ihm, daß ich ihm zum ›Guten Morgen‹ die Hand drücke.«

Franz Grube horchte, bis ihre Schritte sich verloren hatten. Dann ging die Tür ins Schloß, und Johanna trat ans Bett und reichte ihm stumm die Blumen. Er nahm sie mit zitternden Händen, preßte sie an sein Gesicht und atmete noch einmal tief auf in ihrem Duft. Leise hatte ihn Marschall in die Kissen zurückgleiten lassen.

»Es ist so still,« flüsterte der Kranke nach einer Weile. »Weshalb gehen die Uhren nicht? Die Welt bleibt darum wirklich nicht stehen.«

Da brachte Marschall in allen Zimmern die Uhren wieder in Gang, und ihr heiteres Ticken erfüllte die Luft.

»Das ist schön,« sagte Grube mit einem Seufzer der Befriedigung. »So hab' ich's immer gern gehabt, Leben um mich her. Dann war mir oft, als lebte ich selber noch – in der Vergangenheit.« Er winkte Freund und Schwester näher zu sich heran. »Eins müßt ihr mir versprechen. Wenn ich nun sterbe –«

»Du stirbst nicht, Franz – –«

»Wenn ich nun sterbe, laßt keine Trauerzeremonien an mich heran. Man bestattet einen Toten nicht zweimal. Einmal hab' ich mich schon selbst bestattet, mit Tränen und zerrissenem Herzen und allem, was dazu gehört. Nun aber ist es wie eine Auferstehung. Und ihr lieben Menschen sollt mich unter euch leben lassen. Versprecht mir das.«

»Franzl! – –«

»Ich möchte, daß es sei, als ob ich gar nicht fehle. Nur keine Sterbegesänge! Ihr müßt ja selbst sagen, daß das nicht zu mir passen würde. Singt mir mein Lebenslied. Denn ich habe selbst einmal erfahren, wie schön das Leben ist, und ich hätte es gern gelebt.«

»Alles, was du willst, Franz, verlaß dich darauf. Und nun ruh dich aus.«

»Ich komme ja nun bald dazu. Für Johanna ist gesorgt, und du, Richard, wirst dich nicht unterkriegen lassen. Wenn es euch gut geht, denkt auch einmal an die Kleine, die mir die Blumen brachte. Sie wird es von all den Menschen, die ich zurücklasse, am nötigsten haben.«

Sein Atem ging schneller, und beruhigend legte ihm Richard Marschall die Hand auf die feuchte Stirn.

Dann kam der Arzt. Die Untersuchung währte nur wenige Minuten.

»Heute dürfen Sie ein Glas Sekt trinken, Herr Grube.«

»Das weiß ich, Herr Doktor. Ich werde es auf Ihr Wohl leeren.«

»Sie sind ein dankbarer Mensch,« murmelte der alte Hausarzt, drückte seinem Patienten die Hand und ging.

»Er wird im Laufe des Tages auslöschen wie ein Licht,« sagte er draußen zu Marschall.

Aus Marschalls Kehle rang sich ein wütendes Schluchzen.

»Still, still, um Gottes willen! Die letzten Stunden eines Sterbenden sind heilig. Tun Sie ihm zuliebe, was Sie ihm an den Augen absehen können. Er war ja von Haus aus ein Mensch der Freude. Lassen Sie demgemäß seinen Ausgang sein. Adieu, mein wackerer junger Freund!«

Richard Marschall stierte mit brennenden Augen dem Manne nach, der in einem unsichtbaren Sarge die Hoffnungen des Hauses Grube hinaustrug. Er hätte ihm zuschreien mögen: Bleiben Sie, bleiben Sie! Er hätte ihm nacheilen mögen und ihn beschwören. Aber die Glieder waren ihm wie abgeschlagen. Die Schritte des Arztes hallten durch das Haus, dann über den steinernen Flur. Die eichene Haustür schloß sich dumpf. Und es war Richard Marschall, als wäre ein luftleerer Raum zurückgeblieben.

Er rang nach Atem und zwang seine Sinne. Die Mahnung des Arztes fiel ihm ein. Da streckte er sich, ging ins Zimmer zurück und brachte dem Sterbenden mit fester Hand das ihm gestattete Glas Sekt.

»Unser braver Doktor,« sagte Franz Grube und leerte es. Dann bat er: »Gib mir noch eins.« Und als Marschall es ihm gefüllt hatte, hob er es mit seinem zitternden Arm gegen die Schwester und den Freund. »Leben, dir trink' ich zu!«

Dann wurde es so still, als wäre es schon wieder Nacht geworden. Und doch schien die fruchttreibende Sommersonne voll in das Zimmer und suchte und suchte …

Wieder wachte der Kranke auf. Seine Augen gingen hastig in der Runde.

»Wünschest du etwas, Franzl?«

»Ja,« hauchte er, »und ihr müßt es mir erfüllen. Still, nichts entgegnen! Das Sprechen wird mir – ein bißchen schwer. Also ihr sollt mir jetzt schon – Adieu sagen. Und Richard soll sich – ans Klavier setzen. Könnt ihr es – hereinrollen? Es geht leicht. Johanna, Hausmütterchen, du wirst dich – neben ihn setzen. Ihr seid ja wohl – Lebensfreunde, und ich will – euch beide sehen. Und wenn ich dann – winke, dann – steht ihr ruhig auf und – geht ruhig hinaus.«

Sie sprachen kein Wort. Sie schoben behutsam das Klavier aus dem Nebenzimmer herein und traten zum Abschied an sein Lager. Mit schmerzender Willensanstrengung hielten sie die Tränen zurück, denn sie sahen die heitere Gefaßtheit in seinen Augen. Die durften sie ihm nicht nehmen.

»Leb wohl, Johanna! Du tiefe, glückliche Natur. Du bist der Friede. Und du, mein Richard, du Sonnenkind. Du bist die Freude. Ach, ich möchte euch küssen.«

Da beugten sie sich über ihn und umfingen seine schwachen Schultern und küßten ihn mit ihren zuckenden Lippen.

»Spiel jetzt,« bat er, und seine Stimme war unhörbar fast.

Da gingen sie zum Klavier, und Marschall saß vor dem Instrument, daß er den Freund im Auge hatte, und Johanna saß neben ihm an der Tür.

Richard Marschall spielte; Phantasien, stille, traurige Motive. Dann sah er, daß Franz Grube unruhig wurde, und lenkte über, und aus den Tasten quollen frischere Töne, ein Volkslied hob an zu singen, perlte aus in Variationen und schlug die Brücke zu einem zweiten Volkslied, und ein drittes, ein viertes folgte. Als marschierte ein langer Zug laubgeschmückter Menschen in den Sommer hinein.

Franz Grube war mit einem Lächeln eingeschlafen. Sein Atem ging leiser und leiser.

Und immer weiter spielte Richard Marschall, von Lenz und Liebe, von Jugend und Glück. Und Johanna Grube hatte sich in ihrem Stuhl weit zurückgebeugt und den Kopf gegen den Türpfosten gelehnt, und über ihr unbewegliches Gesicht rann Tropfen auf Tropfen.

Es ging gegen Mittag. Sie hatten es nicht bemerkt. Da brach Marschall mitten in einer Melodie ab.

Franz Grube saß in seinem Bett aufrecht. Ohne Hilfe hatte er sich emporgearbeitet. Und nun winkte er den beiden zu. Ihr habt es mir versprochen, stand in seinem gespannten Blick.

Richard Marschall erhob sich. Mit festem Griff faßte er Johannas Hand, warf noch einen langen Blick auf den Freund und verließ, ohne sich umzuwenden, mit dem Mädchen das Zimmer.

Franz Grube war zurückgesunken. Der Todeskampf hob an. Seine Hände fuhren über das weiße Linnen. Jetzt hatten sie die Rosen erreicht, und die Finger schlossen sich krampfhaft um die Stiele.

Da trat eine Erkenntnis in seine Augen.

Aus seiner kämpfenden Brust quoll etwas hervor, ein Stammeln kam über seine Lippen – ein fremder Frauenname.

Und einsam, die Rosen auf der Brust, kämpfte er ungesehen den letzten Kampf. Schamhaft und männlich.

Die langen, müden Glieder dehnten sich, und es war eine lautlose Ruhe.

Franz Grube war nicht mehr. – – –

*

Und zur selben Stunde, da der Freund den Schritt in das Unbekannte tat, tat Helga Nuntius den Schritt in ein anderes Unbekanntes.

Es war eine Unruhe in ihr, seit sie am Morgen den Grubeshof verlassen hatte, eine eigentümliche Unrast, die sie immer wieder aufschreckte, und über die sie sich keine Rechenschaft zu geben vermochte. Lange vor der Zeit kam sie ins Konservatorium und wanderte durch die Räume, in denen sie studiert hatte, und die Unrast in ihrem Blut wanderte immer mit. Sie wollte sich glauben machen, es sei die Abschiedsstimmung, aber sie fühlte, daß es etwas anderes war, die Furcht vor einem Kommenden, dessen Wesen sie nicht kannte. Es waren Ahnungen in ihr ohne Form und Gestalt, und ihr Lachen wurde zum Weinen, und ihr Weinen zum Lachen. Heut zum ersten Male vermißte sie ein liebes Wort, eine starke Hand, und eine Sehnsucht überkam sie, eine Sehnsucht nach ihrem Vater, der auch keine starke Hand besessen hatte. Nie zuvor hatte sie sich seiner Art so verwandt gefühlt. Wie seltsam, daß sie heute daran dachte …

Als sie in das Übungszimmer zurückkehrte, fand sie Professor Faller vor. Auch er schien nervös; denn er gab ihr nur hastig die Hand, um alsbald ihre Hand noch einmal zu ergreifen und sie so lange in der seinen zu halten, daß es dem Mädchen peinlich wurde.

»No ja! Alsdann! Aus Kindern werden Leute. Wie ist denn nun der Entschluß?«

»Was denn, Herr Professor?«

»Ah so. – – Ich mein' halt nur. Wollen S' denn wirklich heut noch singen? Die letzte Stund'? Lernen können S' beim alten Faller nix mehr, als höchstens von Zeit zu Zeit die Stimm' reparieren, wenn S' einmal zu toll drauflos gewirtschaftet haben. Ihr geht hinaus als die großen Künstler, und mich laßt ihr hübsch im Schatten; dort, wo kein' Sonn' und kein Mond hinfallt. Mich Stimmenflicker – –«

»Was ist Ihnen nur, Herr Professor? – –«

»Schubertisch ist mir zu Mut, ganz miserabel Schubertisch. Dös ist halt meine unglückliche Liebe, Kleines, der Franz Schubert. Der hat die Künstlerseele gekannt wie kein Zweiter, mit ihrem Hochhinaus und ihrer kindlichen Hilflosigkeit. Singen S' mir zum Abschied was von Schubert.«

Da sang sie mit all dem seltsamen Empfinden, das heute in ihr wogte, Schuberts »Du bist die Ruh'.« Und als sie an die Stelle kam:

»Kehr ein bei mir, und schließe du
Still hinter dir die Pforten zu!«

öffnete sich die Tür und Robert Braun trat ins Zimmer. Gegen seine Gewohnheit ließ er sich lautlos auf einen Stuhl nieder.

Professor Faller wandte den Kopf. Das Lied war zu Ende.

»Braun!« rief er kurz.

»Herr Professor!«

»Jetzt Sie! Auch Schubert.«

Da sang er das »Lied an die Leier«. Seine muskulöse Gestalt hoch aufgerichtet, ein zwingendes Licht in den Augen, unbesiegbar in seinem Gesang, blickte er Helga Nuntius an und ließ Wucht und Weiche der seltenen Stimme, die das Denken benahm und das Blut aufrief, über sie hinströmen:

»Ich will von Atreus' Söhnen, von Kadmus will ich singen!
Doch meine Saiten tönen nur Liebe im Erklingen …«

Das war die Kunst, die große herrliche Kunst, der sie gehörte wie er. Und er lächelte sie an, und sie lächelte ihn versonnen wieder an, und doch war alles in ihr Erregung.

Beim letzten Ton des Liedes klappte Professor Faller barsch den Deckel des Flügels zu und verließ, ohne seinen Schülern einen Blick zu schenken, das Zimmer. Braun wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte. Dann trat er schnell auf Helga Nuntius zu. Noch stand die Siegesfreudigkeit des Sängers in seinen Augen.

»Fräulein Nuntius, was haben Sie beschlossen?«

»Ich werde in Kassel vorsingen und dann zu einer Verwandten meines Vaters reisen.«

»Warum nicht gar in Kyritz?«

»Kassel ist Hoftheater. Das ist ein guter Anfang. Ich habe Empfehlungen meiner Mutter.«

»Was da – guter Anfang – Empfehlungen! Leute wie wir brauchen keinen Anfang, wir springen an die Spitze. Und empfehlen werden wir uns selber. Das wäre! Die Misere durchmachen, von der kleinen zur mittleren und von der mittleren zur größeren Bühne und sich unterwegs wohl gar beim täglichen Repertoiresingen die Stimme verderben, unser Kapital! Nein, Fräulein Nuntius, das haben wir gottlob nicht nötig.«

»Sie gewiß nicht.«

»Und Sie ebensowenig. Jeder von uns allein würd' die Menschheit zum Erstaunen bringen. Wenn wir aber zusammen marschiert kämen, würden wir sie zur Begeisterung treiben, und kein Impresario und kein Direktor der Welt würde wagen, uns einen anderen Kontrakt zu geben als den, den wir ihm diktieren, und anderer Meinung zu sein als wir. Man würde uns nur zusammen engagieren und zusammen entlassen können. Das letztere aber würde kein Publikum dulden, vor das wir einmal hingetreten wären. Fräulein Nuntius, unsere Stimmen sind füreinander geschaffen, wie es nie zwei Stimmen waren.«

»Wenn Sie sich nun täuschten?« – –

»Darin täusche ich mich nicht. Übrigens würde Ihnen Professor Faller das lange schon bestätigt haben, wenn er nicht gewünscht hatte, Sie erst in Ruhe fertig zu unterrichten.«

»Ja – wie soll ich denn das nur anfangen?«

»Fräulein Nuntius, ich habe schon vorgesorgt. Mein Agent hat uns auf meine bisherigen Erfolge hin eine Tournee durch England und Schottland fertiggestellt. Für sofort. Im Herbst werden wir in Baireuth Probe singen, für die Festspiele im nächsten Jahr. Faller hat uns schon bei Frau Cosima Wagner angemeldet. Im Winter gastieren wir in London, in der Covent-Garden-Oper. Gewinnen wir in Baireuth, woran ich nicht zweifle, sieht uns der nächste Herbst in Amerika. Ein festes Engagement nehmen wir nicht an, nur für Gastspielmonate und große Zyklen. Wir wollen keine Handwerker, wir wollen Künstler sein.«

»Wer das könnte! – – So der Kunst leben!«

»Wir können es, Fräulein Nuntius.«

Sie sah in seine Augen, und sie wußte, daß er die Zukunft gewinnen würde.

»Fräulein Nuntius, würden Sie mir gestatten, an Ihre Frau Mutter zu kabeln?«

»Weshalb das?«

»Um mir ihr Jawort zu holen. Sie muß doch ihre Einwilligung zu einer Ehe geben.«

»Ich soll – Ihre Frau werden?« stieß sie, ganz blaß werdend, hervor. Und auf einmal wußte sie, was die Unrast in ihrem Blut zu bedeuten gehabt hatte, und die wesenlosen Ahnungen, die nicht lachen und nicht weinen konnten.

Braun nahm ihre kalten Hände. »Ja,« sagte er, »oder wenn Sie es lieber hören: meine Kunstgenossin.«

Das Wort bohrte sich in ihrem Hirn fest und ließ sie nicht mehr los. Und alle die Träume wurden in ihr lebendig, wie an dem Tage, an dem sie dies Haus betreten hatte, von fremden, farbentrunkenen Gärten, in denen silberne Brunnen rauschten, und weiße Tempelhallen ragten, angefüllt mit marmornen Göttern. Akkorde durchzitterten die Luft wie von unsichtbaren Harfen, und Melodien von getragener Schönheit drangen in ihr Ohr.

»Fräulein Nuntius, geben Sie mir die Erlaubnis?«

Sie stand unbeweglich und starrte in eine Ferne.

»Fräulein Nuntius, wir werden der Kunst dienen. Die Kunst ruft uns.«

»Ja,« sagte sie, »ich werde mit Ihnen sein.«

»Wir beide!« und er schlang den Arm um sie. Und sie wunderte sich in ihrer Mädchenseele, daß er sie nicht küßte wie ein Bräutigam die Braut …

Sie war Braut!

Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, und des Professors faltenreiches Gesicht lugte hinein.

»Treten Sie nur wieder ein, Herr Professor. Meine Braut hat nichts dagegen.«

Da kam er und schüttelte ihnen die Hand und sprach auf Helga ein, die ihn kaum verstand.

»Wissen S', die geschäftliche Seite, Fräulein, die geschäftliche Seite ist prima. Sie beide werden schon Aufsehen machen. Und im übrigen – wie gesagt, im übrigen – alsdann: ich gratulier'.«

Es pochte an die Tür, kurz und hart. Der Hausmeister stand draußen. »Fräulein Nuntius, es ist ein Mann da, der Sie sofort zu sprechen wünscht.«

Über den Korridor rannte Herr Bettermann auf sie zu. Sie sah ihm an, daß etwas Außerordentliches geschehen sein müsse, denn er hatte die blauleinene Schürze umbehalten und knitterte die Mütze in der Hand.

»Er is tot, Fräulein.«

»Herr Bettermann!«

»Sie hatte ihn bei den Schultern gefaßt und starrte ihn entsetzt an.

»Er is vor ere halwe Stund' hinübergegange. Aber Fräulein, Fräulein, Sie müsse Standhaftigkeit zeige.«

Ihr ganzer Körper zitterte. Und dann weinte sie und weinte, und Herr Johann Bettermann hielt hilflos ihren Kopf und fuhr ihr mit breiter Handfläche immer wieder über das von Tränen überströmte Gesicht.

»Es is als e Jammer,« murmelte er. »Widder e alt Frankforter Haus weniger.«

»Ich komme sofort mit,« sagte sie und sah sich fassungslos nach Braun um.

Dann fuhren sie zusammen nach dem Grubeshof, und unterwegs erzählte Herr Bettermann, daß Herr Marschall seit zwei Wochen nicht von dem Krankenbett gewichen sei, weil man den Tod hätte kommen sehen, und es wäre nur nicht davon gesprochen worden, weil der Herr Franz Grube ein so bescheidener Mensch gewesen sei und seinetwegen keinem eine trübe Stunde hätte schaffen wollen.

Und Helga Nuntius sah die langaufgeschossene Gestalt des Freundes vor sich und verstand all seine zarte Rücksichtnahme und weinte aufs neue in ihr Tuch, trotz der Mahnung Brauns, sich zu schonen.

Herr Bettermann aber berichtete weiter, daß er vor dem Konservatorium die jungen Herren getroffen hätte, die immer in den Grubeshof gekommen wären, Volkslieder zu singen, und nun seien sie alle auf dem Weg, um den Toten zu sehen und ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Der Wagen rasselte über das Pflaster der Bleidenstraße. – –

Im Sterbezimmer saß Richard Marschall am Bett des toten Freundes.

Franz Grube lag ausgestreckt auf dem weißen Lager. Sein Gesicht erschien fröhlich, auf der Brust hielt er die Rosen, die Helga Nuntius in der Frühe für ihn hatte schneiden lassen.

Und dann pochte es leise und scheu an der Tür, und die jungen lebenslustigen Konservatoristen, die im Hause ein und aus gegangen waren, mehr als im Konservatorium, traten mit tiefernsten Mienen ein, und man las es auf ihren Gesichtern, daß sie alle eine große Erschütterung verspürt hatten. Sie gingen einer nach dem anderen zu Johanna Grube und drückten ihr schweigend die Hand, denn Tröstungsworte waren ihnen nicht geläufig und andere hier nicht am Platz. Und von Johanna Grube gingen sie zu Richard Marschall und drückten auch ihm schweigend die Hand. Und dann umstanden sie das Bett und blickten stumm auf den Toten.

Als sich die Tür wieder öffnete, schaute sich keiner um. Sie vernahmen wohl einen schwankenden Schritt, aber sie hielten es nicht für taktvoll, Neugierde zu zeigen.

Und dann lag Helga Nuntius vor dem Bett auf den Knieen und schluchzte in die Kissen.

Richard Marschall stand am Kopfende des Bettes. Er hatte sie eintreten sehen, er hatte gesehen, wie sie sich im Zimmer von der Hand Robert Brauns gelöst hatte. Da wußte er, daß der heutige Tag ein doppelter Trauertag für ihn war. Helga Nuntius hatte gewählt …

»Liebes Fräulein,« sagte Johanna Grube tröstend und hob das Mädchen auf. Selbst in dieser Stunde fand sie noch Trost für fremdes Leid.

»Weshalb haben Sie mich nicht noch einmal zu ihm gelassen?«

»Weil er Sie lieb hatte.«

Da sah sie die Rosen auf seiner Brust. Und von den Rosen blickte sie hinüber zu Marschall und von Marschall zu Braun. Und sie empfand, daß dreifache Liebe sie umworben hatte: die Freundesliebe, die Menschenliebe und das, was die Kunst als Liebe zu vergeben hat. Es wirbelte ihr durchs Gehirn. Sie hätte etwas ungeschehen machen mögen und wußte nicht was. Es glitzerte ihr vor den Augen, und sie schwankte. Da trat Braun vor und legte den Arm um sie. –

Richard Marschall stand noch immer unbeweglich am Kopfende des Bettes. Die Gedanken, die von dem toten Freund zu der verlorenen Liebe abgeschweift waren, hatte er zurückgerufen und gebändigt. Diese Stunde durfte nur dem Abgeschiedenen gehören. Und je länger er in das blasse Antlitz blickte, umso mehr empfand er die Größe dieses Verlustes.

Es wollte ihm nicht in den Sinn, daß dieser Mensch daliegen sollte wie jeder andere Tote. Ein Franz Grube starb doch nicht wie ein Irgendjemand. Franz Grube hatte ein Besonderes zu fordern. Keine Trauerzeremonien des Alltags. Sein Lieblingslied!

Leise begann er zu singen …

Und ob die Worte seltsam kontrastierten zu der Schwere der Stimmung, er wußte: Das war es. Das war im Sinne Franz Grubes.

Die jungen Sänger horchten auf. Dann hatten sie begriffen. Und halblaut fiel einer nach dem anderen ein. Sie sangen nicht im alten fröhlichen Rhythmus, sie sangen andächtig und feierlich:

»Weg mit den Grillen und Sorgen
Brüder, es lacht ja der Morgen
Uns in der Jugend so schön!
Laßt uns die Becher bekränzen – kränzen,
Laßt bei Gesängen und Tänzen – Tänzen
Uns durch die Pilgerwelt gehn,
Bis uns Zypressen umwehn.«

So sangen sie dem Toten das Lebenslied. – –

Dann gingen sie hinaus, zurück in den Tag, vor dem nur das Leben besteht.

Und das Lied hallte Helga Nuntius im Ohr, als sie, von Braun geführt, hinüberging in Johann Bettermanns Haus, und es hallte ihr im Ohr, als sie in ihrer Mädchenkammer weinend am Fenster lehnte.

Da sprach mitten im Schmerz eine laute Stimme in ihr: Du bist Braut.

Die Tränen versiegten.

Braut? fragte sie sich und sie wartete auf ein starkes, freudiges Empfinden.

Und Helga Nuntius fand nichts als ein banges Lächeln.

So nahm sie Abschied.


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