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6.

Richard Marschall hatte schon am frühen Morgen eine Elbfahrt nach Blankenese angetreten. Er wollte sich von den frischen Seewinden, die herüberströmten, den Tumult des nächtlichen Banketts aus dem Kopfe jagen lassen. Er selbst war diesmal ein mäßiger Zecher geblieben, denn er hatte zu seiner Verwunderung bemerkt, wie Braun, gegen seine sonstige Gewohnheit, den Champagner wie Wasser behandelte. Aber er war zu keinem tieferen Nachdenken gekommen. Denn die Redewut war entfesselt, und es gab Toaste über Toaste und einige darunter, die eine Erwiderung beanspruchten. Erst nach drei Uhr hatte er sein Hotel aufsuchen können, nachdem er vorher gesorgt hatte, daß Robert Braun, dessen schwere Zunge gewaltsam gegen Vormundschaft und Einmischerei in seine Privatangelegenheiten protestierte, in einer Nachtdroschke geradenwegs nach Hause gefahren wurde.

Nachdem er beim Erwachen einen Blick in die Morgenzeitungen geworfen hatte, die in fachmännischer Weise über seine Oper berichteten und einmütig die unbekümmerte Sonderstellung des Komponisten und die machtvolle Wirkung seines neuen Tongemäldes anerkannten, begab er sich zum Telegraphenamt, drahtete kurz an Johanna Grube und die Generalintendanz seines Theaters und bestieg an den St. Pauli-Landungsbrücken ein Dampfboot, das ihn an Klein-Flottbek und der Teufelsbrücke vorüber nach Blankenese führte. Er stieg die terrassenartigen Straßen hinauf, suchte vergebens einen Blick über die Elblandschaft zu gewinnen, über der noch ein silbriger Nebel schwamm, und begann ziellose Streifereien durch die märchenhaften Parks der Hamburger Handelsfürsten und das weithin sich erstreckende Land an der Unterelbe. Die Sonne arbeitete sich mählich durch, und es wurde ein heller, frischer Vorwintertag.

Richard Marschall wanderte und wanderte. Er lief in den endlosen Parks, die trotz ihrer winterlichen Starrheit das Bewußtsein ihrer Schönheit trugen, immer wieder in die Irre, aber was wollte das besagen! Bei jeder Wegbiegung stand er vor einem neuen, unvorhergesehenen Ausblick und sah im Elbtal siegreich die Sonne die Nebel niederzwingen. Dann verlor er sich auf Feldwegen und zwischen Ackerbrüchen, auf deren harten, braunen Schollen der Reif wie Filigrandeckchen ruhte.

In irgend einem ländlichen Wirtshaus nahm er eine Mahlzeit ein. Dann trieb es ihn weiter. Denn in seine Gedanken war noch immer keine Ordnung gekommen. Noch immer nicht konnte er den Ausgleich finden zwischen der Helga Braun, wie er sie als heißaufwallende ›Hadwiga‹ gesehen hatte, und der Helga Braun, die im Wagen, still winkend, an ihm vorübergefahren war. Und Robert Brauns wildes Zechen stand ihm vor Augen. Nie hatte er den nach strenger Vorschrift Lebenden über den ersten Durst hinaus trinken sehen, selbst in den Studienjahren bei Professor Faller nicht, der doch so gerne bewies, daß die Musikantenkehle »ein Ding an sich« sei.

Sollte das ungestüme Drauflostrinken Brauns ein Betäubungsmittel gewesen sein? Dann – ja dann mußte auch Helgas leidenschaftlicher Gesang – eine Betäubung – –? Aber weshalb? War etwas geschehen? Bereitete sich etwas vor? Oder war es gar schon zu spät?

Auf ihm lag es wie eine drückende Last. Aus der Ferne schien ihn etwas zu rufen. Er blieb stehen und horchte, und seine Lippen preßten sich fest aufeinander. Es fiel ihm ein, daß er diese unfaßbare Unruhe schon am Morgen gespürt hatte, als er das Schiff bestieg. Dann war sie in der frischen Seebrise verflogen. Und nun war sie wiedergekommen. Nun? Seit Stunden schon. Sie hatte ihn überhaupt nicht verlassen. Hinter jedem Gedanken lugte sie her. Jetzt wußte er es. Und in seinem Blut begann es zu sieden, trotzdem der Atem so mühsam ausholte und das Herz so harte, schwere Schläge tat. Bei jedem Schritt, den er weiter ging, riß ihn etwas zurück, und plötzlich machte er kehrt und sprang quer über die Äcker und lief ohne Besinnen durch die Wiesen, bis ihm die Brust hämmerte und er einhalten und den tollen Lauf mäßigen mußte.

Die Sonne ging nieder. Kaum war es vier Uhr nachmittags. Als er in Blankenese eintraf, mußte er eine Stunde bis zum Abgang des Schiffes warten. Wie er diese Stunde verbringen sollte, war ihm unklar. Nie, glaubte er, würde sie vorübergehen. Dann stieg er auf den Süllberg, setzte sich dicht an die Terrassenbrüstung des Wirtsgartens und blickte hinunter auf die Elblandschaft. Und die Natur gab ihm die Ruhe.

Goldrot leuchtete die unabsehbare Flache des gewaltigen Stromes zu ihm auf, mit violetten Tinten durchsetzt und smaragdgrünen Farbenstreifen, wo flaches Wasser über Sandbänke glitt. Die niedergehende Sonne tauchte tief in ihn hinein, und ihre Glut drang bis auf den Grund und schuf eine Farbenpracht von überwältigender Größe, die bis in die weite Ferne reichte und sich die Horizonte unterwarf zu einer einzigen grenzenlosen Flut. Und der Purpur durchsetzte sich mit schwarzen Längsstreifen, über die das Dämmer kroch und vorsichtig den grauen Mantel warf über Glühen und Fließen. Aber den von der See hereinkommenden Schiffen, deren Signallichter bunt flimmerten, winkten aufflammende Feuerzeichen im Strom, weiße Laternen am Strand, und die Lichter der von Hamburg kommenden Dampfer. Als wären farbige Edelsteine über das Nachtgewand des Stromes gestreut. Ein mächtiger Schiffskoloß ließ in langgezogenen Tönen die Dampfsirene ertönen. Wie das Brüllen eines Stieres, der sich freie Bahn erzwingen will, klang die schaurige Musik.

Richard Marschall sprang auf. Es war dunkel um ihn her, und mit der Dunkelheit war die Unruhe aufs neue gekommen und huschte hin und her durch seine Seele, daß er nicht begriff, wie er hier oben hatte sitzen können und genießen, während drüben in der Stadt – – Und wieder stand er am Rande seiner Erkenntnis und schalt sich einen Gespensterseher, den der Alb bedrücke, aber während er sich schalt, rannte er die Straßen hinab zum Anlegeplatz, und auf dem Schiff wanderte er rastlos auf und ab und maß es die Länge und die Breite, setzte sich nieder, starrte in die spritzenden Schaumwellen, sprang wieder auf und verglich seine Uhr mit der eines Matrosen. Bei der Landung rief er die nächste Droschke an und fuhr auf kürzestem Wege in sein Hotel.

»Endlich!«

Mit wenigen Schritten war er beim Portier. »Nichts angekommen?«

»Zwei Depeschen, Herr Hofkapellmeister.«

Er riß sie auf, knüllte sie zusammen und steckte sie in die Tasche. Es waren Glückwünsche von Johanna Grube und von der Generalintendanz seines Theaters.

»Sonst nichts? Hat niemand nach mir gefragt?«

»Herr Opernsänger Braun.«

»Ah – –«, machte Marschall. Alles in ihm hielt den Atem an. »Wann war das?«

»Heute vormittag um zehn und heute nachmittag um vier. Der Herr sagte, daß er Sie in einer wichtigen Angelegenheit sprechen müßte.«

»Danke,« sagte Marschall. »Wenn Herr Braun wiederkommt, lassen Sie ihn auf mein Zimmer führen.«

Er stieg langsam die Treppen hinauf, drehte in seinem Zimmer das elektrische Licht an und setzte sich in die Sofaecke. Dabei dachte er nur immer, wenn Braun doch gleich kommen wollte, wenn er doch auf der Stelle käme – –. Ein paarmal trieb es ihn, die Wartezeit abzukürzen und nach Uhlenhorst hinauszufahren, um Braun in seiner Wohnung aufzusuchen. Aber er bezwang sich. Wer bürgte ihm dafür, daß Braun um dieselbe Zeit nicht bei ihm anklopfen würde.

Da klopfte es. Hart und heftig.

»Herein!«

Er hatte sich erhoben, und seine Augen suchten mit dem ersten Blick alles aus dem Eintretenden herauszulesen.

»Sieh da,« sagte Robert Braun und blieb in der geöffneten Tür stehen, »also wirklich!«

»Es tut mir leid, daß du dich zweimal schon vergeblich herbemühtest. Ich war in Blankenese. Tritt näher.«

Braun trat ein und ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen.

»Also wirklich!«

»Was willst du denn nur mit deinem ›Also wirklich‹? Natürlich bin ich's. Überzeug dich.«

»Mit deiner gütigen Erlaubnis.« Und rasch auf ihn zutretend, fragte er heiser: »Bist du allein?«

»Aber, Menschenskind, ich bin doch ein alter Einspänner.«

»So plötzlich?«

»Du, hör mal, das ist beängstigend. Was ist denn los? Was willst du von mir wissen?«

»Wo du seit aller Herrgottsfrühe gewesen bist, will ich wissen.«

»In Blankenese. Hat dir das denn der Portier nicht gesagt?«

»Portiers sagen, was man ihnen aufträgt. Also du bleibst dabei, in Blankenese gewesen zu sein?«

»Das klingt ja fast wie ein Verhör!?«

»Ist es auch.«

Richard Marschall reckte sich auf.

»Wir sind keine dummen Jungens mehr, Braun. Wir wissen, was ein Wort wiegt. Vergiß das gefälligst nicht. Und nun erkläre dich deutlicher, wenn ich bitten darf.«

»Schön, schön. Wir wollen uns nicht aufregen. Ob das die Sache jetzt überhaupt noch wert ist! Also auch in – in Blankenese warst du allein?«

»Selbstverständlich.«

»Und – und – du hast gar keine Ahnung, wo Helga ist?«

»Helga?!«

Richard Marschall griff nach der Tischkante. Totenblaß starrte er dem Frager ins Gesicht. »Um Gottes willen, weiter, weiter!«

»Du hast – gar keine Ahnung?«

»Spar dir doch die unnütze Fragerei! Weiter!«

»Und du hast auch – keine Ahnung von ihrem Vorhaben gehabt?«

»Um alles in der Welt, Mensch, von welchem Vorhaben? Wovon redest du denn eigentlich?«

»Daß sie bei Nacht und Nebel auf und davon ist.«

»Helga?«

»Frau Braun-Nuntius.«

Er überhörte die Zurechtweisung. Vor seinen Augen flimmerte es, tanzten Sterne und dunkle Punkte, und sein Gehirn arbeitete fieberhaft. Dann schüttelte er den Kopf. »Wahnsinn, Tollheit.«

»Mein lieber Freund, ich bin durchaus bei Verstand. Sonst wäre ich nicht hier.«

»Hier? Immer wieder: hier? Deine Kombinationen werden unheimlich … Du!« mit fester Hand packt er ihn beim Rockaufschlag, »du willst doch damit nicht etwa sagen – –?«

»Was denn? Nun bin ich wirklich gespannt.«

Richard Marschall ließ den Rockaufschlag fahren.

»Nein,« sagte er, »das käme einer Beleidigung deiner Frau gleich.«

»Bitte, geniere dich nicht.«

»Braun! Du bist nicht bei Sinnen.«

»Ich wiederhole es dir im vollsten Bewußtsein seiner Tragweite.«

»Braun!« Er schrie es ihm ins Gesicht. »Ich verbiete dir, in diesem Ton weiterzureden. In meinem Beisein wird die Frau, die ich als Helga Nuntius gekannt habe, nicht beleidigt. Auch nicht von dir! Auch nicht von ihrem Mann!«

»Was fällt dir ein?«

»Mir fällt ein, was jedem anständigen Menschen einfällt. Die Ehe ist doch nicht das Verhältnis eines Paschas zu seiner willenlosen Sklavin, die er malträtieren kann? Du hast um Helga Nuntius geworben, du hast sie gebeten, deine Frau zu werden, freiwillig ist sie es geworden. Ja, sinken denn Frauen, die man bis zur Hochzeit angeschwärmt hat als das Höchste, vom Tag der Eheschließung an auf das Niveau eines unmündigen Kindes herab, das man schuhriegeln, schelten und strafen kann?«

»Du verteidigst diese Frau, als ob du besondere Rechte hättest –«

»Zwischen Mann und Frau gibt es nur gegenseitige Rechte. Die habe ich nicht. Ich habe nur meine Verehrung für eine Frau, die ich vor Jahren lieb gewann.«

»Und die du noch liebst?«

»Die ich noch liebe.«

»Und Helga – wußte darum? Du hast es ihr gesagt?« stieß Braun hervor.

»Armer Freund,« sagte Richard Marschall, »du scheinst dir sonderbare Begriffe von einer wahrhaftigen Verehrung zu machen. Man beleidigt doch das nicht, was man verehrt.«

Robert Braun ging mit zusammengezogenem Mund im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor Marschall stehen.

»Dein Wort darauf, Marschall.«

»Wenn du es für nötig hältst: ja! Deine Frau denkt übrigens gar nicht an mich.«

Robert Braun ließ sich schweratmend auf einen Stuhl nieder. Er starrte vor sich hin und überlegte. Dann zog er einen Brief aus der Tasche und reichte ihn, ohne aufzusehen, Marschall.

»Da, lies. Ich muß zum Entschluß kommen.«

Und Richard Marschall las Helga Nuntius' Brief an den Mann, von dem sie sich geschieden hatte. Als er ihn zu Ende gelesen hatte, las er ihn zum zweiten Male. Und zum dritten Male begann er ihn von vorn, und nun las er langsam und in greller Deutlichkeit zwischen den Worten …

»Bist du fertig?«

»Du brauchst mir keinen Kommentar zu geben, Braun. In der einen Briefseite liegt ein ganzes Tagebuch.«

»So! Und damit hättest du deine Ansicht ausgesprochen?«

»Ja, Braun.«

»Auf gut Deutsch: du rätst mir, in die Scheidung zu willigen?«

»Von ›raten‹ kann nach meinem Dafürhalten keine Rede mehr sein. Die innere Scheidung ist ja schon erfolgt.«

»Und du meinst, daß Helga dabei beharren würde? Daß ich ihrer Laune einfach die Zügel lassen sollte?«

»Du mußt selbst am besten wissen, ob die Frau, die fünf Jahre an deiner Seite gelebt hat, im stande ist, den schwersten Schritt im Leben aus einer Laune heraus zu tun.«

»Nichts weiß ich, nichts! Was kenn' ich denn von ihr? Wie sie aussieht, ja! Wie sie singt, ja! Aber was sie denkt, während sie so oder so aussieht oder dies oder das singt: was hinter ihrer Stirn vorging, das hab' ich nie gewußt. Sie war nicht mitteilsam. Hab' auch nie gefragt. Denn ich war nicht neugierig darauf. Ich hatte genug mit der Kunst zu tun, und daß wir nicht zu lang' in der zweiten Reihe ständen. Und dafür hab' ich gesorgt. Ich hab' meine Pflicht erfüllt. Sie nicht!«

Da sah Richard Marschall tief hinein in ein armes, vereinsamtes Frauenleben, dem man sein Recht an die Jugend gestohlen und das man mit goldenem Flitter statt mit der goldenen Sonne geschmückt hatte. Und er sah sie, wie sie aus den Fenstern des Eilzugs mit immer müder werdenden Augen hinausgeblickt hatte auf die vorübergleitenden fruchtschweren Felder und die lockenden Wälder, deren grüne Zweige die Fenster streiften, als streckten sie die Arme aus nach der gejagten Frau. Und seine lebensfrohe Natur stand erschüttert vor dem Bild eines jungen Menschenkindes, das endlich aus einem täuschenden Traum des Scheins erwacht war und sich todwund nach Dingen sehnte, die er und die Lebensstarken und Lebensfrohen als die natürlichsten Lebensbedingungen blindlings zu nehmen gewohnt waren. Sie war aufgewacht, Helga Nuntius war aufgewacht. Und war gegangen und wußte nicht, ob sie das Gehen nicht verlernt hatte. Wo blieb denn der Freund, daß er grünen, erdkräftigen Boden unter ihre heimatlosen Illusionen schob als Wurzelland? Und auf einmal war ihm, wie am Tage schon, als hörte er ein fernes Rufen … Da verstand er es, und er verstand seine Freundespflicht.

»Du also,« sagte er, »würdest ihr zuliebe dein Leben nicht ändern?«

»Frag doch gleich, ob ich mir mein Begräbnis bestellen möchte. Mein Leben, das ist mein Beruf. Ich brech' meinen Weg nicht in der Mitte ab.«

»Selbst wenn du siehst, daß sie zu Grunde geht?«

»Andernfalls geh' ich zu Grunde.«

»Dann bleibt nichts als die Lösung. Braun, willige ein. Ihr könnt nicht euer Lebenlang Tote mit euch herumschleppen. Ich will jetzt nur von dir sprechen, da du die Sprache doch am besten verstehen wirst. Was würdest du gewinnen, wenn du Zwang ausübtest und sie nicht freigäbst? Die Partnerin deiner Kunst hast du verloren, denn gemeinsam mit dir auftreten wird sie nie wieder. Um ihre Gedankenwelt aber hast du, wie du selbst sagst, dich nie gekümmert, also hast du sie auch nicht verlieren können. Du würdest dir daher deinen Weg nur nutzlos erschweren und dein Gleichgewicht einem Phantom opfern. Willige ein, Braun, willige ein. Helga hat, als sie sich frühzeitig genug von dir schied, auch für dich das Beste getan.«

Robert Braun war ans Fenster getreten und ließ seine Blicke über das abendliche, großstädtische Treiben am Alsterbassin schweifen.

»Was du sprichst, ist sehr klug.«

»Diesmal ist die Klugheit die Wahrheit.«

»Diesmal nur? Sonst nicht?«

»Das hat dich deine Ehe gelehrt.«

»Ah so – –!«

Dann wandte er sich um und griff nach seinem Hut. Der hochmütige Zug, den schon der Konservatoriumsschüler gehabt hatte, lag auf seinem Gesicht.

»Nein,« sagte er, »ich bin nicht gewohnt, anderen nachzulaufen. Wer nicht mit will, der mag am Wege sitzen bleiben. Einer vagabundierenden Frau wegen werde ich mir meine Kunst und meine Zukunft nicht zerklittern lassen. Morgen übergebe ich die Scheidungsklage dem Rechtsanwalt. Du kannst es ihr sagen, wenn du sie siehst. Denn du siehst sie ja.«

Kein Wort entgegnete Richard Marschall. Mochte der andre in Bitterkeit oder Spott verfallen, er hörte es nicht. Er hörte nur ein fernes Rufen, und nun hatte er die Botschaft darauf.

»Gute Nacht,« sagte Robert Braun. »Verzeihe die Belästigung.«

Da trat Richard Marschall auf ihn zu und wollte seine Hand fassen. Es war eine starke, drängende Dankbarkeit in ihm, der er eine äußere Form geben mußte. Aber der Sänger blickte schon nach der Tür.

»Leb wohl,« sagte er da nur.

Vom Fenster aus sah er den einstmaligen Kameraden davonfahren.

Und dann wandte er sich um und reckte die Arme weit aus, als täte er aus tiefster Seele einen Schrei …

»Helga! Keine Furcht! Freunde sind da!« –

Was nun zuerst? Wo sie suchen, die Weltfremde?

Das Blut strömte ihm zum Gehirn, wenn er dachte, sie ginge jetzt durch eine fremde Stadt, planlos, müde … Und schutzlos! Schutzlos!

»Nein, nein,« beschwichtigte er seine Aufgeregtheit, »sie wird den Fuß zuerst auf vertrauten Boden setzen. Frankfurt,« schoß es ihm durch den Sinn. Und jubelnd und lachend wiederholte er: »Frankfurt!«

Um fünf Jahre war er jünger geworden. Nur der Richard Marschall war geblieben, der, wo er hinschaute, Sonne erschaute. Mitten im hastigen Kofferpacken war er – da hielt er inne, und seine Arme fielen schlaff herab.

»Und wenn sie sich nun nicht nach Frankfurt gewandt hat – –? Dann wäre die Reise umsonst und ein, zwei Tage verloren. Herrgott, was kann ihr in den Tagen passieren? In dieser Verfassung? Wenn die Schwermut sie packt –? Was tun? Ich darf doch nicht ins Blaue hinein abenteuern!«

An Johanna Grube depeschieren!

Und ohne weiteres nahm er Hut und Mantel und eilte zum nächsten Telegraphenbureau.

»Helga Nuntius gestern nacht abgereist. Bitte um Drahtantwort, ob sie bei Ihnen ist oder bei Bettermanns. Dringend! Marschall.«

Dann ging er mit ganz langsamen Schritten, als könnte er dadurch die Zeit abkürzen, in sein Hotel zurück, suchte sein Zimmer auf, packte den wahllos hineingezwängten Inhalt seines Koffers wieder aus und begann, ganz systematisch Kleider, Wäsche und Noten zu ordnen und sie sachgemäß aufs neue zu verpacken. Das half ihm über eine halbe Stunde hinweg. Und dann saß er in einem Fauteuil des Hotelzimmers, die Arme auf den Knieen aufgestützt und den Kopf in den Händen vergraben, um nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu hören, um nur die Minuten zu zählen. Während der elektrische Funke seine Worte über Berge, Täler und Flüsse jagte, bis sie sich in Frankfurt am Main auf schmalem Papierstreifen wieder zusammenfanden, und ein Bote ihn nahm und ihn in die Bleidenstraße zu Johanna Grube trug, und Johanna Grube die Worte tief erblassend las und hinübereilte zu Bettermanns und nach wenigen Minuten weiter zum Telegraphenamt. Und wieder machte sich der elektrische Funke auf und jagte die Antwort von Süden nach Norden, und als die Petrikirche die zehnte Stunde hinüberrief zum Alsterbassin, stand Richard Marschall aufrecht in seinem Zimmer und riß die Verschlußmarke von einem Telegramm und las:

»Helga weder bei mir, noch bei Bettermanns. Zu jeder Hilfe bereit. Bin in Sorge um Sie beide. Johanna.«

Da wurde es dem Mann zu eng zwischen den Wänden, und er warf den Mantel über und zog den Hut in die Stirn und wanderte durch die Straßen, immer grübelnd und mitten in Gedanken aufgeschreckt und dann hastig und quälend weiter grübelnd. Todmüde und abgespannt bog er beim Millerntor in das St. Pauli-Viertel ein, und als der Lärm der ewigen Jahrmarktsstadt auf ihn eindrang, rettete er sich in das nächstgelegene Weinrestaurant und saß ganz hinten in einem kleinen Ecksofa und trank ohne abzusetzen ein Glas schweren Rotweins und schenkte sich aufs neue ein und trank wieder. Das rieselte durchs Blut und gab neue Spannkraft und rief die zerflatternden Lebensgeister zur Ordnung.

Er lehnte sich zurück und sah sich um. Nur wenige Gäste saßen im Lokal und horchten auf die Weisen einer Zigeunerkapelle, die vom Podium herab ihre Pußtalieder geigte. Und auch die wenigen gingen, um vor Mitternacht noch in einem Bierrestaurant unterzukommen oder in einem der vielen Schanklokale, in denen der Trunk von zarten Händen, wie es seebefahrene Männer lieben, auf die Tischplatte gerückt wird.

Dann war Richard Marschall allein mit dem grollend rechnenden Wirt und den braunen Ungarn, die nach ihm hinüberschielten und ihre Instrumente verpackten.

»Weshalb spielen die Leute nicht?« fragte er den Wirt.

»Es lohnt sich nicht,« knurrte der Mann. »Nach Polizeistunde ist nichts mehr zu verdienen.«

»Aber ich möchte noch nicht gehen.«

»Ich kann doch für Sie allein nicht Licht brennen. Wenn's noch eine ganze Gesellschaft wär', schlöss' ich die Tür ab.«

Da sah sich Marschall aufs neue durch die Straßen irren, ohne den Gedanken, den er suchte, gefunden zu haben, und er fühlte, daß er bleiben müsse, um hier zu suchen.

»Schließen Sie ab,« sagte er, »Sie sollen schon auf Ihre Kosten kommen, und die Burschen dort auch, wenn sie spielen. Geben Sie mir eine Flasche Henkell und stellen Sie jedem der Leute auch eine hin. Na also!«

Der Wirt ließ die eisernen Rollläden herab, verschloß die Tür und holte den Sekt. Auf dem Podium entstand ein Tuscheln. Dann trat der Primas an Marschall heran und fragte unterwürfig: »Befällen der gnädige Herr aus Oper oder Walzer oder ungarisches Lied – –?«

»Spielt, was ihr wollt. Hier habt ihr Handgeld.«

»Küss' die Hand, gnädiger Herr.«

Und wieder entstand ein freudiges Tuscheln auf dem Podium, und der Wirt stellte die Sektflaschen hin und bediente Marschall selbst, der mit halbgeschlossenen Augen in der Sofaecke lehnte, und der Primas trat wieder vor und rief: »Ihr Wohl, gnädiger Herr,« und das halbe Dutzend brauner Burschen rief es ihm nach. Dann wurde es plötzlich still. Und nun sang die Primgeige vor, und die zweiten Geigen und Bratsche und Cello nahmen die Melodie auf und gaben sie an den Zymbalspieler weiter, der sie mit silbernen Sternen untermalte. Die Dämpfer auf den Instrumenten, spielten die Zigeuner. Träume im Mondschein …

Die spannen sich durch den Raum und umspannen jeden Gegenstand und umspannen Richard Marschall, bis er vom Sekt abließ und die Augen schloß und sich gefangen nehmen ließ.

Wie das wohl tat – –! Die Geigen für sich denken, seine Gedanken in verzitternde Töne umsetzen lassen. Ganz leicht fühlte er sich und fast körperlos. Ach du geliebte Musik, dachte er nur noch, du kannst auch Helferin sein … Und er empfand einen Strom von Wärme.

Der Primas setzte die Geige kaum von der Schulter. Der Sekt spornte ihn und seine Leute an, und die Hoffnung auf Beute. Die klagenden Lieder gingen in tolle Walzerweisen über, die heißen Tanzrhythmen in weiche, schwerblütige Phantasien, die ins Blut drangen und die Seele weinen ließen ohne Grund und Ursach'.

Und wie von seinen Melodien fortgezogen, stieg der Primgeiger auf den Fußspitzen vom Podium herab und immer geigend kam er dem einsamen Träumer näher und näher und beugte sich zu ihm hinab, und die Geige sang in das Ohr hinein wie ein Hauch, und in dem Hauch war dennoch die Sinnlichkeit des Lebens, und Wünsche, Hoffnungen, Erinnerungen …

Wie eine ferne, kaum vernehmbare Traumresonanz tönte das Orchester. Nur der feine, singende Ton der Primgeige blieb lebendig und wurde so fein, daß er in die verschlossenste Seelenfalte drang und Antwort heischte.

»Ah, die Musik, die Musik …« wiederholte Marschall und sein Atem ging tief und behutsam, um die Bilder nicht zu verjagen, die wie Gespinste an seinem inneren Blick vorüberzogen.

Und der Bursche wiegte die Geige vor ihm hin und her, und es war, als ob singendes Mondlicht aus den Saiten flösse, und das singende Licht nahm den Träumer auf und wanderte mit ihm zu der Frau, die er als Mädchen in der alten Mainstadt gesehen hatte, das Mädchen aus der Fremde, das aus stillen Wäldern herabgestiegen war in die lauten, verwirrenden Täler der Menschen.

Aus – stillen Wäldern – –?

Richard Marschalls Augen öffneten sich weit. Er sah den Primas nicht, der mit wiegender, singender Geige, unterwürfig wie ein Hund, vor ihm herumkroch, die Burschen nicht, die mit verträumten Augen die Phantasien ihres Meisters aufnahmen und auf ihren Instrumenten nachzittern ließen. Er sah nur immer, hochaufgebaut, stille Wälder vor sich und ein kleines Jagdhaus darin, vor dem ein Kind saß und sich mühte, durch die Wipfel zu schauen.

»Der Kaufunger Wald,« sagte Richard Marschall laut.

Die Musik brach ab.

»Was befällen gnädiger Herr?« tönte es durch das Schweigen.

»Der Kaufunger Wald,« sagte Richard Marschall und stand steil und strack aufrecht. »Weg da, ihr Kerle! Das habt ihr gut gemacht. Der Kaufunger Wald!«

Der Wirt kam herbeigeeilt.

»Der Mann versteht Sie nicht. Haben Sie Wünsche?«

»Das Kursbuch.«

Er schlug den Frühzug auf. Seine Augen glänzten. Dann zahlte er die Zeche, belohnte die Zigeunerkapelle, die sich um ihn drängte, und drückte dem Primas kräftig die Hand.

»Bist ein braver Kerl. Und die Musik, die Musik – Herrgott nochmal, und nun hinaus aus der Bude!«

Durch die kalte Nacht fuhr er zum Hotel. Totenstill lagen die Straßen. Aber um ihn her jubelten tausend Geigen.

»Ich hab' dich, Helga, ich hab' dich. Du bist nach Hause gerannt. Wie alle Kinder es tun. Wenn man neue Kraft braucht, denkt man an die alte Scholle!«

Im Hotel schrieb er einen Brief an den Direktor des Stadttheaters, in dem er seine plötzliche Abreise entschuldigte, und einen zweiten Brief an die Generalintendanz seines Hoftheaters, in dem er um ein paar Tage Nachurlaub einkam. Die Uhr zeigte vier. Angekleidet warf er sich aufs Sofa. Aber schlafen konnte er nicht. Er horchte auf jedes Geräusch, das im Hotel entstand. Und er ertappte sich, wie er schon minutenlang immer denselben Refrain durch die Zähne pfiff:

Laßt' uns die Becher bekränzen – kränzen,
Laßt bei Gesängen und Tänzen – –

Da sprang er auf, wusch sich Gesicht und Hände in kaltem Wasser, öffnete die Tür zum Korridor und rief den Hausknecht an, der verschlafen über die Stiege schlürfte.

Eine Stunde darauf saß er im Schnellzug, der über Hannover auf Kassel zueilte.

»Nun aber vernünftig,« sagte er sich, als er wieder zu pfeifen begonnen hatte. »Kaufunger Wald! Zwei Worte, die meine ganze Wissenschaft bilden. Denn Jagdhäuser wird es dort ein Dutzend geben, und der Wald ist groß, der Himmel hoch und Helga Gott weiß wo.«

In Göttingen erkundigte er sich. Er habe eine Wanderung vor. Der Stationsvorsteher nannte ihm Witzenhausen. Dort solle er aussteigen und weiter fragen.

Von dem hochgelegenen Bahnhof wanderte er in die freundliche Werrastadt. Der Wirt »Zum Löwen« stellte ihm einen Wagen. Aber die Jagdvilla eines Herrn Nuntius, der vor so und so viel Jahren verstorben sei, kannte er nicht. Vielleicht wüßte sie der Pfarrer, der am Ausgang der Stadt wohne und früher in Kleinalmerode gestanden habe, das ja nicht so weit vom Kaufunger Wald entfernt sei. Und Richard Marschall setzte sich in das Gefährt und fuhr zum Pfarrer. »Schade,« sagte der frohgemute Herr, »daß ich nicht mitfahren kann. Aber des Namens entsinne ich mich. Die kleine Jagdvilla muß gleich hinter dem Umschwang liegen. Das ist ein wundervoll einsamer Hochwaldrücken. Der hessische Förster in Kleinalmerode – es gibt nämlich dort auch einen hannöverschen – wird es dem Kutscher bestimmt sagen können. Gute Reise! Drei Stunden Fahrt werden Sie haben. Wirklich schade, daß ich nicht mit kann.«

Und Richard Marschall fuhr durch die befreiende Gottesnatur, die auch der Herr Pfarrer so sehr liebte, bald den Wald zur Rechten, bald den Wald zur Linken, und vor sich, den ganzen Horizont einnehmend, nebelgrau ein mächtiges Waldgebirge. Die Luft war lautlos. Und als der Wagen nach einstündiger Fahrt bergan vor dem Forsthaus hielt und der reckenhafte Förster den Reisenden freundlich beschieden hatte, begann es zu schneien. Ganz dicht fielen die Flocken, und Richard Marschall fuhr in den Kaufunger Wald hinein wie in einen Zauberwald, der sich geheimnisvoll verwandelt, wenn ein Mensch ihn betritt. Hinter ihm deckte der fallende Schnee jede Spur.

Die Dämmerung brach an, und noch immer fuhr Richard Marschall durch den schweigenden Wald. Kein Lebewesen kreuzte den Weg. Fern nur knackte es im Gehölz von wechselndem Wild. Der Schnee lag hoch auf Hut und Mantel. Aber er spürte nichts wie Freude. Wie eine heimliche Weihnachtsfreude, zu der der Schnee gehört und der deutsche Wald.

»Dort,« sagte der Kutscher und wies mit dem Peitschenstiel nach einer Lichtung, die an eine Waldwiese grenzte. Es war das erste Wort, das der Mann seit Stunden sprach. Der Schnee hatte ihn mundfaul gemacht.

Marschall sah ein Licht aufblitzen. Es warf einen weiten, breiten Schein.

»Ist das Haus bewohnt?« fragte er.

»Der Förster sagt, der jetzige Besitzer hätt' einen Jagdaufseher drin.«

»Da werd' ich also wohl für eine Nacht unterkommen können.«

»Ein gut' Trinkgeld tut immer Wunder.«

»Ach so. Prrr. Halten Sie mal.«

Richard Marschall stieg aus. Die letzte Wegbiegung wollte er zu Fuß gehen. Beim Schein der Laterne suchte er ein Zehnmarkstück heraus. Der Knecht sollte heut auch seinen Festtag haben.

Dann schritt er über den glitzernden Schnee dem Lichte zu, das jetzt im weiten Kreise auf Baum und Strauch ruhte. Der Schnee fiel nicht mehr. Eine heilige Waldesstille war ringsumher.

Und Richard Marschall trat aus dem Wald heraus in den Bannkreis des Lichtes. In seinen Ohren tönte die leise Heimatsmusik, die die Zigeuner gespielt hatten, als er in seinen Träumen den Wald sah und das einsame weiße Haus darin und vor dem Hause das Kind, das sich mühte, durch die Wipfel zu schauen.

Da stand es!

Aber es war hoch und schlank gewachsen und zum Weibe geworden.

»Helga!«

Sie stand ohne Hut und Mantel draußen und schaute in den nächtlichen Wald, den der Schnee mit einem Königshermelin geschmückt hatte. Mit einem Blick, in dem die Frauensehnsucht still die Flügel spannte.

»Helga!«

Da wandte sie sich um.

»Richard Marschall – –! Wie sonderbar, gerade dachte ich an Frankfurt und auch an Sie. Ich suchte mir meine Freunde zusammen.«

»Da bin ich, Frau Helga,« sagte er.

Es zitterte ein Lächeln um ihren Mund, ganz schwach, aber doch ein Lächeln.

»Kommen Sie. Ich bin hier zu Haus, wenn auch nur als Gast. Der Verwalter wird Sie beherbergen.«

Da ergriff er ihre Hand, die sie ihm entgegenstreckte, und führte sie in das Haus, aus dem sie den ersten ungeleiteten Flug in die Welt unternommen hatte, das Reich der Kunst zu suchen.


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