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Heute morgen, sagte sich Helga Braun, als sie erwachte, muß ich mit mir allein sein. Dieser Morgen muß mir ganz allein gehören. Nach dem gestrigen Abend – –
Sie erhob sich leise, um den Gatten nicht zu stören, und kleidete sich zum Ausgehen an. Dann bereitete sie ihren Tee und stand, während das Wasser brodelte, am Fenster, das sie weit geöffnet hatte. Eine herbe würzige Luft drang herein. Die Morgensonne war schon heraus und entlockte der schimmernden Alsterfläche und den herbstlichen Baumalleen den Duft kräftiger Gesundheit. Der zog zu ihr herüber und in ihr Blut und ließ sie mit klaren Augen in den jungen Tag sehen. Gesund werden, gesund werden! rief es in ihr. Das wollte sie, das mußte sie. Sie hatte einen Anspruch darauf, sich auszuruhen, und über diesen Anspruch wollte sie nachdenken.
Als sie ihr Frühstück genommen hatte, verständigte sie die Aufwartefrau, daß sie einen Spaziergang machen werde. Die Frau möchte dem Herrn mitteilen, daß sie gegen Mittag zurück sein würde. Dann nahm sie einen Wagen und ließ ihn über Barmbek den Weg nach Ohlsdorf nehmen.
Aus ihrem Halbverdeck ließ sie den Blick über die Landschaft gleiten, ohne sie festzuhalten. Alle ihre Gedanken waren nach innen gekehrt. Sie erinnerte sich jedes Wortes, das Richard Marschall am Tage vorher mit ihr gesprochen hatte, jedes Wortes, das er ihr als Gruß mitgebracht hatte. Und ihrer Müdigkeit am Abend, gegen die es kein Ankämpfen gegeben hatte, bis die Müdigkeit in ein Wohlbefinden übergegangen war, wie sie es nie verspürt hatte, als wenn sie einmal in stillen Stunden ein Volksliedchen gesungen hatte …
Sie wurde unruhig, denn in ihren Ohren lag es noch wie der Nachklang einfacher, beruhigender Weisen, wie man sie Kindern singt. Wo kam er her? Hatte ihr Gatte sie gesummt, als er am Abend in das Schlafzimmer getreten war? Nein, nein, Robert Braun summte keine Schlummerlieder. Aber am Abend war es gewesen. Immer deutlicher stieg es in ihrem Bewußtsein auf. Sie war in den Wagen gestiegen und hatte mit todmüden Sinnen ihren Kopf an Richard Marschalls Schulter sinken lassen. Sie hatte sich wieder aufrichten wollen und nicht gekonnt. Und dann war es gewesen. Während sie sich auf die Worte besann, kam es wie ein fröhliches Kinderlächeln auf ihre Züge. Und plötzlich stand der Augenblick vor ihr, da sie erwacht war, und durch das enge Coupé war noch der letzte Ton des leisen Gesanges gezogen.
Richard Marschall hatte gesungen. Hatte sie in den Schlaf gesungen. Hatte ihr, wenn auch nur wenige tiefe Atemzüge lang, die Ruhe gebracht, die sie wie eine Errettung ersehnte. Richard Marschall! – –
Und das Lächeln hielt an und hielt immer noch an, als ihr langsam die Tränen in die Augen stiegen und die schmalen Wangen hinabflossen, bis sie auf ihre Hände tropften, die sie im Schoß gefaltet hielt.
Er war ihr Freund. Und einmal hatte er ihr mehr sein wollen. Daran konnte sie sich ganz ruhig erinnern, ohne daß das Gefühl des Weibes in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sie hatte ihn gern, und oft seiner gedacht. Wie man sonnenbeschienener Tage der Kindheit gedenkt. Ihre Erinnerungen, die so wenig zu verschenken hatten, konnten ohne ihn nicht auskommen. Ihr Liebesleben gehörte ihrem Gatten – hätte ihm gehören sollen, wenn er es geweckt hätte. Geweckt und gepflegt. Und er hatte nicht das eine und nicht das andere getan. Er hatte nur seine eigene Art gepflegt, hatte schnurgerade die Linie seiner Lebensbahn gezogen und war darauf einhergeschritten, sicher, daß ihre Füße in seinen Spuren folgten. Diese eigenmächtige Sicherheit aber, die die Wunschkraft anderer einfach beiseite schob, sie war das Beschämende für die, die widerspruchslos Gefolgschaft leistete. Und Helga, mit weitgeöffneten Augen über die flache Landschaft blickend, von der sie nichts sah, fragte sich zum ersten Male, weshalb sie denn, mit welcher Berechtigung sie denn – Helga Braun hieße.
Ich bin immer Helga Nuntius geblieben, sagte sie sich, auch nach dem Sakrament der Ehe, auch an seiner Seite.
Und sie folgerte weiter: Wenn ich aber Helga Nuntius geblieben bin, so bin ich fünf Jahre lang nicht seine Frau, sondern nur seine Kunstgenossin gewesen. Ich habe für ihn das Relief gebildet. Wohl, wohl, er hat mich lieb, auf seine Weise. Aber – blitzschnell tauchte der Gedanke in ihr auf – wenn ich meine Stimme verlöre? Würde er mich dann, wenn auch nur auf seine Weise, weiter lieb haben? Würde er mich nicht als eine Fessel empfinden, und ich viel ärmer von ihm gehen, als ich gekommen bin?
Und dann stellte sie sich, ernst bis in ihr letztes verschwiegenstes Denken, die Frage: Wie weit, da du immer seine Liebe berechnest, wie weit reicht deine Liebe? – –
Da war es ihr, als schaute sie in ein wildes, unbekanntes Land voller Dornengestrüpp, durch das angstvoll ein Sonnenstrahl sich wand, ohne hindurchzudringen. Und es zog wie ein kühler Luftzug über sie hin, obwohl der Tag windstill war und voll warmer Herbstschönheit.
Was ist das – meine Liebe?
Sie rüttelte sich auf und versuchte, das Wort in ein Bild zu verwandeln. Aber wie sie sich auch mühte und mühte, ein Bild zu gewinnen, auf das sie hindeuten könnte: Das ist meine Liebe, so ist sie! es wollte ihr nichts in den Sinn, daran sie sich klammern, das sie mit Armen umfangen konnte, keine Stunde des Zueinanderdrängens, keine Stunde des Herzerschließens und Weltvergessens, keine Stunde seliger Furcht und noch seligeren Erlöstwerdens. Nur die Stunden gemeinsamer Kunst, gemeinsamer Triumphe, die von außen kamen.
Sie wußte nichts von ihrer Liebe, deren Regungen sie nur empfand wie das wesenlose Sehnen nach einer großen, großen Ruhe nach fünfjähriger Wanderung.
Nach fünfjähriger? – – Ihr war's, als müßte das länger sein, als zählten alle die Jahre mit, in denen sie mit dem immer stiller werdenden Vater einsam im Walde gesessen hatte, und ihre Seelen ununterbrochen auf der Wanderung gewesen waren.
Nein, von ihrer Liebe konnte sie kein Sprüchlein sagen.
Und mit einem Male wurde es ihr, als ob sie schreien müßte, einen Notschrei, der über Erde und Himmel jagte: Hier liegt eine Liebe, die man vergessen hat! Nehmt mich mit! Ich bin doch auch eine Frau wie andere. Weshalb bin ich ausgeschlossen? Weshalb gab man mir in meiner Kunst das Echo der Gefühle und nicht ihre Wahrhaftigkeit? – –
Ich weiß nicht mehr, was ich denke, sagte sie sich und setzte sich geradeauf. Das ist die Kunst – das ist das Leben. Ich habe nur die Brücke nicht gefunden. Deshalb schwebe ich in der Luft.
Und dann fühlte sie, daß sie diese Brücke finden müßte, wollte sie nicht an sich selbst sterben.
Der Wagen hielt vor dem Zentralfriedhof.
»Zurück?« fragte der Kutscher.
»Nein, warten Sie!«
Wie war sie nur auf den Gedanken gekommen, die Gefilde der Toten aufzusuchen, wo sie nach dem Leben verlangte? Was wollte sie auf diesem fremden Gelände, auf dem nur die Schatten unbekannter Schicksale lagen?
Sie gab sich keine Antwort. Sie ging durch das Eingangstor und stand in einem Wunderland. Mitten aus Sand und Heide wuchs es empor wie ein Garten Eden. Um die blanken Stämme der Baumalleen, die von allen Seiten aufeinandertrafen, ringelte sich die weiße Sonne. Immergrünes Gebüsch schmiegte sich die Wege entlang, Beete, gesättigt in den Farben bunter Herbstblumen, schufen dem Auge ein Aufleuchten und dem Herzen den Mut, weiterzugehen, stille Haine lockten die Verzweifelten zur Sammlung, und silberne Seen, die aus Rasengrün und Rankengewirr hervorlugten, gossen Heiterkeit in das abgewandte Gemüt.
Helga Braun wanderte durch die Alleen und Blumenwege und schaute über die Hügelreihen. Sie wartete auf einen schwermütigen Hauch, der sich von den Gräbern erheben würde, um in den Saiten ihres Herzens nach verwandten Klängen zu wühlen. Sie wartete auf ein Todesbangen, das noch stärker sei als ihr Lebensbangen. Aber je weiter sie schritt, desto lichter und freudiger wurde es in ihr, desto lauter wurden in ihr die Stimmen, die ihr von der Jugendkraft sprachen, von den Menschenhoffnungen, die bis zum Grabe nicht schweigen sollen, von der Schönheit der Welt, die selbst über das Land der ewig Stummen noch Schönheit ergießt.
»O du wunderbarer Garten,« sprach sie ganz laut. Und die Stimmen in ihr antworteten: Um wieviel wunderbarer muß erst der unermeßliche Lebensgarten sein für den, der Augen hat, zu sehen.
Und sie schritt weiter und weiter, über die zierlichen Brücken der Weiher, durch die dunkelgrünen Tannen- und leuchtendweißen Birkenhaine. Und mit jedem Schritt verlor sich mehr und mehr ihre Sehnsucht, und aus ihren Wünschen stieg ruhig wie die Sonne aus dem bewegten Meer das Wollen.
Nicht im Leben eine Tote sein! Wer sterben will am Ende der Tage, muß wissen, wofür! … In der Stadt der Toten fand sie den Schlüssel zum Leben.
Und wie sie sich umwandte und die Wege zurückschritt, wußte sie, daß sie auch den Mut gefunden hatte, den Schlüssel zu gebrauchen.
Sie nickte den Denkmälern zu und strich mit weicher Hand über Rasen und Ranken der Hügel.
Ich danke euch, dachte sie, ihr habt mich ein Großes gelehrt. Wir müssen etwas mit hinabnehmen unter die Erde, einen Schein von der Sonne des Tages, einen Duft aus den Gärten, in denen wir glücklich waren, dankbare Erinnerungen. Denn das wird das Weiterleben sein.
Diese Erinnerungen sich zu schaffen, das war ihr Wollen.
Und ihre Augen blickten nicht mehr nach innen, sie blickten fest und klar über den Ruheplatz der Toten hinaus auf die lebendige Flur, und als sie aus dem hohen Tor hinaustrat, schreckte sie die kahle herbstliche Landschaft nicht, die sich zum Winterschlaf bettete. Ihr war's, als hörte sie aus der Tiefe der Felder das Drängen der Wintersaat, die zuerst den Frühling erblickt.
Da atmete sie tief auf und dehnte den jungen Körper, daß das Blut schneller kreiste, und sie lächelte, als sie ihr rasches Blut verspürte, an das sie nie zuvor geglaubt hatte.
Mit heller Stimme rief sie den Kutscher an. Der fuhr zusammen und traute seinen Ohren nicht. Wie konnte ein Mensch, der vom Friedhof kam, so fröhlich sein!
»Nun zeigen Sie, was Ihr Pferdchen kann. Sie bekommen doppelte Taxe.«
Da sauste das Gefährt an Heide und Acker vorüber die Landstraßen entlang, und der Kutscher knallte mit der Peitsche wie ein verliebter Postillon, und die reine, herbe Luft schuf Helga Braun rote Wangen und ihrer Brust, die sich unter dem weichen Tuche straffte, ein Glücksgefühl ohnegleichen.
Das ist ja Musik, dachte sie. Lieder ohne Worte, Lieder ohne Worte … So trat sie in das Haus, aufrecht und frisch an Körper und Geist.
»Aber Helga – ja, aber Helga – mir fehlen die Begriffe!«
»Weshalb denn nur? Weil ich den Tag nicht mehr verschlafen will? Ach, Robert, du hättest mit draußen sein sollen! Man wird wieder Mensch, und das ist über die Maßen herrlich.«
»Ja, bist du denn ganz unklug geworden? Und erhitzt obenein! Du scheinst dir ja nicht einer einzigen Pflicht bewußt zu sein, nicht einmal der einfachsten des Sängers, sich zu schonen!«
»Dafür der Pflicht des Menschen, zu atmen! Versuch's auch, Robert!«
»In dieser tückischen Herbstluft zu atmen? Hast du denn vergessen, daß du heute abend eine große Rolle zu singen hast? Helga! Das ist doch das Benehmen eines Kindes, eines gedankenlosen Backfisches. Wie soll ich mich denn eigentlich zu dir stellen, um dir das begreiflich zu machen?«
»Schilt mich aus, schilt mich wie ein Kind. Das will ich ja gerade. Dann fühl' ich, daß ich jung bin.«
»Helga,« sagte Robert Braun und trat ihr mit gerunzelter Stirn näher, »dein Benehmen ist unverantwortlich. Aber heute will ich darüber hinwegsehen. Wir stehen vor einer großen Partie, die wir zum ersten Male singen, da möcht' ich keinen Streit. Nur weil ich meine Stimme für den Abend zu schonen habe, lass ich deinem Vorgehen, das gegen jedes künstlerische Gewissen ist, für diesmal seinen Lauf. Du wirst jetzt mit mir frühstücken. Die Frau hat ein paar warme Gerichte telephonisch herbeordert. Und dann wirst du dich sofort hinlegen, gut zudecken und ruhen, damit du bis zum Theater diese alberne, mehr als einfältige Exkursion wieder aus den Knochen hast. Bitte sehr, und jetzt keine lange Wechselrede! Ich von uns beiden weiß wenigstens, was ich an einem so überaus wichtigen Tage meinem Organ schuldig bin.«
»Lieber Robert, dann mußt du mich eben allein reden lassen. Denn mit dir reden muß ich, so leid es mir tut, daß dir die Stunde ungeeignet erscheint. Ich habe keine geeignetere.«
Robert Braun drückte auf die Klingel. Er war nicht willens, sich seinen Appetit schmälern zu lassen, zumal da er den Aufwand an physischer Kraft, deren er am Abend zur Bewältigung seiner anstrengenden Rolle bedurfte, genau zu berechnen verstand. Schweigend wies er seiner Frau einen Stuhl an, und die Aufwartefrau servierte.
Helga ließ sich ohne Zögern nieder. Sie nahm von den Speisen und trank ein Glas Wein. Und während längst Messer und Gabel bei ihr ruhten, beobachtete sie mit einer stillen Zufriedenheit, wie ihr Gatte der Mahlzeit alle Ehre antat. Nie zuvor war ihr aufgefallen, welch ein starker Esser er war.
Robert Braun legte die Serviette hin, nickte seiner Frau kurz zu und erhob sich, um sich ins Schlafzimmer zu begeben.
»Verzeihe, Robert …«
»Ja, was denn noch? Ich habe jetzt meine Ruhe nötig.«
»Und ich? Ich möchte, daß auch ich einmal in Betracht gezogen würde.«
»Es ist wohl selbstverständlich, daß auch du jetzt Ruhe nötig hast.«
»Jetzt nur? Nein, Robert, ich habe sie schon so lange nötig und werde sie auch so lange nötig haben, daß diese Viertelstunde schon geopfert werden kann.«
»Aber was willst du denn nur von mir? Ich hoffe doch, daß du nicht auf deine gestrigen Hirngespinste zurückgreifst. Also mach es kurz!«
»Das steht in deiner Hand. Du nennst Hirngespinste, was mir Lebensnotwendigkeit heißt. Robert, ich habe dich vor einigen Tagen schon darum gebeten. Es war kein Leichtsinn. Den habe ich nie besessen, und er wäre mir vielleicht ganz gut gewesen, um mich über manches leichter hinwegzusetzen. Ich fühle, daß ich am Ende bin, Robert, daß ich dicht vor dem Ende stehe, kann ich mir und meiner verlorenen Jugend jetzt nicht gerecht werden. Bitte, lache nicht! Es ist mir so furchtbar ernst. Wenn ich dies Scheinleben fortsetzen müßte, würde ich zu Grunde gehen.«
»Liebe Helga, das sind Phantastereien. Wie oft soll ich das wiederholen! Es stirbt sich nicht so leicht, wie deine rückwärts gewandten Mädchengefühle dir vorspiegeln möchten. Besonders in der Kunst stirbt es sich nicht so leicht, die hält in Atem.«
»So sehr, daß ich atemlos geworden bin.«
»Warte den heutigen Abend ab. Deine ›Hadwiga‹ wird ein Erfolg ersten Ranges sein, wenn du dich zusammennimmst. Und wenn man dich ein halbesdutzendmal vor die Rampe gerufen hat, wirst du nicht begreifen, woher du ein paar Stunden vorher alle die dummen Gedanken nahmst. Bis dahin: Auf Wiedersehen.«
»Nein, nicht bis dahin!« Sie trat neben ihn an die Tür und legte die Hand auf die Klinke. »Diese Aussprache muß zu einem Entschluß führen. Ich bin durchaus nicht aufgeregt. Ich bin so klar mit mir, wie ich es leider bis heute niemals war. Ich werde heute abend die ›Hadwiga‹ singen und sie mit allem, was in mir ist, singen. Richard Marschall und seine Schöpfung sollen nicht unter meinen persönlichen Angelegenheiten leiden. Aber dann sollen auch meine persönlichen Angelegenheiten einmal in den Vordergrund treten, Robert. Das war während unserer Ehe noch nie der Fall. Da du selbst nicht darauf gekommen bist, da du selbst nur immer in dich hineinsiehst und nie in mich, so bin ich es mir schuldig, sie zur Sprache zu bringen.«
»Wo hinaus willst du?« fragte er ärgerlich.
»Die Musik zehrt mich auf, die Musik und immer nur die Musik. Ich kann keine fünf Jahre mehr warten, bis ich anfangen darf, an mich zu denken. Du mußt es mir doch ansehen, daß ich ausspannen muß. Welcher Mensch führt denn ein so ruheloses Leben, ohne sich umzuschauen, ohne einmal zu verweilen!«
»Das klingt ja fast wie deines Freundes Marschall Moral von der Fußwanderung. Das ist doch ein eigentümlicher Gleichklang.«
»Das ist gar nicht eigentümlich, das ist das Wahre und Natürliche. Dafür, Robert, wirst du doch in den Jahren deines Bühnenlebens das richtige Empfinden nicht verloren haben? Dann müßtest du sehr unglücklich sein.«
»Unglücklich –? Erlaube mal, daß ich dir mit einem Beispiel aus deiner nächsten Blutsverwandtschaft beispringe. Art läßt doch nicht von Art, nicht wahr? Also –: deine Mutter!«
»Was ist mit ihr?« fragte Helga rasch. Ihre Brauen zogen sich zusammen, und in ihre Mundwinkel kam ein Zucken. »Was hat meine Mutter mit dieser Unterredung zu tun?«
»O, ich erwähne sie nur, um dir zu zeigen, daß man sich im Getriebe des Bühnenlebens sehr wohl glücklich fühlen kann, ohne philiströse Anwandlungen an sich herankommen zu lassen. Ah ja, deine Mutter! Das ist eine Frau, das ist eine Künstlerin! Nimm dir ein Vorbild daran!«
»Nein!« sagte Helga Braun hart.
Er starrte sie an, als hätte er nicht recht gehört, als stände eine fremde Gestalt vor ihm.
»Nein –?« wiederholte er gedehnt. »Soll das etwa besagen, daß du deine Mutter – mißachtest?«
»Über meine Mutter steht mir kein Urteil zu, höchstens –«
»Höchstens –?«
»Ein tiefes, schmerzhaftes Bedauern,« und sie sah zur Erde.
»Das ist doch geradezu lächerlich. Deine Mutter war ein Glückskind und ist es noch, weil sie in ihrem Leben an nichts anderes gedacht hat als an ihre Kunst.«
»Meine Mutter,« sagte Helga Braun und hob den Blick nicht von der Erde, »hat in ihrem ganzen Leben an nichts anderes gedacht als – an sich.«
»Helga!«
»Als an sich.«
»An ihre Kunst! An die Musik!«
»O ja – ihre Musik. Die hatte sie lieb. Aber sie war ihr im Grunde doch nur ein Mittel zum Zweck. Denn sie konnte nicht leben, ohne gefeiert zu werden, und die Kunst half ihr dazu. Sie konnte nicht leben, ohne überall zu sein, und die Kunst deckte auch ihre Unrast. Und zum dritten konnte sie nicht leben, ohne sich so jung vorzukommen wie das jüngste Mädchen, wie – ja, wie ihre Tochter, und die Kunst gab ihr auch diesen Schein. Siehst du, so sehr war meine Mutter ein Glückskind, so sehr hat sie – an die Kunst gedacht.«
»Und wenn es so wäre, es wäre für dich kein Grund, sie zu bedauern.«
»Verstehst du das denn nicht?« fragte sie leise. »Weil meine Mutter die Kunst falsch aufgefaßt hat, nicht als eine Blüte des Lebens, mit der man die Menschen um sich her beschenkt, sondern so staunend selbstsüchtig, mit diesem verwunderten, naiven Eigennutz, deshalb bedaure ich sie so tief.«
»Eine Künstlerin muß Egoistin sein.«
»Und wenn die Künstlerin Gattin, wenn sie Mutter ist? Soll ich dir erzählen, wie es bei uns zu Hause aussah? Weil der Egoismus der Kunst mit ins Heim getragen wurde? Als meine Mutter meinen Vater heiratete, war es eine grenzenlose Liebe. Meine Mutter, die sich auszusprechen liebte, hat mir daraus kein Hehl gemacht, und mein Vater, – daß er an seiner Liebe zerbrochen ist, das sagt genug. Aber bald nach meiner Geburt, da kam schon die alte Unrast wieder über meine Mutter. Zuerst versuchte es Vater mit Reisen. Sie verbrauchte sein halbes Vermögen in wenigen Jahren, wie ein launisches Kind, und er hatte gelernt, dazu zu lachen. Dann wieder saß sie tagelang stumm daheim und quälte ihn mit ihrem Schweigen. Oder sie marterte ihn mit ihren Zornausbrüchen, ihren Tränen und ihrer Verzweiflung. Da ließ Vater sie wieder hinaus, auf die Bühne, und bald sang sie als Gast an den größten Theatern, und der Zauber ihrer Persönlichkeit verhalf ihr in der Gesellschaft zu ebenso großen Erfolgen, wie ihre Kunst es auf der Bühne tat. Baireuth folgte, und Amerika verwöhnte sie, wie nie eine Sängerin verwöhnt wurde. So wurde sie die große Nuntius, die gefeierte Nuntius. Und wenn mein Vater bei ihren kurzen Besuchen – sie war so fremd in ihrem eigenen Hause, wie sie bekannt in aller Welt war – mit leisen, verschämten Andeutungen von sich sprach, oder mit ernsten, eindringlichen Worten an ihre Mutterpflicht appellierte und auf mich hinwies, so war ihr Endreim: ›Was willst du, ich bin die gefeierte Nuntius.‹ – Sieh, das habe ich früher nicht verstanden, das ist mir erst in der letzten Zeit ins Gedächtnis gekommen, und jetzt – habe ich es verstanden.«
»Und was hat deine Mutter dabei versehen?«
»Sie hat dabei versehen,« sagte Helga Braun und sah ihn an, »sich die Liebe zu sichern. Weil sie nur an sich dachte, nur an ihren Namen, nur an ihr Wohlergehen und die Erfüllung ihrer Wünsche, so sehr, daß sie sich selbst um das Seelenleben ihres einsam aufwachsenden Kindes nicht kümmerte, hat mein Vater eines Tages zum Gewehr gegriffen und sich erschossen, weil er in seiner Gemütserkrankung und Menschenscheu die Liebe zu seiner Frau für eine Schmach hielt. Er hat gewaltsam die Liebe zu ihr geendet, ich habe sie nie empfunden, weil meine Mutter zu spät daran dachte. Wenn du das Künstlerleben meiner Mutter als Vorbild für mich wählst, lieber Robert, so hast du den unglücklichsten Griff getan. Das ist unedle Kunst, die so furchtbar selbstsüchtig, so – unedel macht.«
»Geht das letztere auf mich?« fragte Robert Braun hochmütig und kniff hinter den Kneifergläsern die Augen ein.
»Robert, ich bitte dich nochmals, hilf mir! Wir sind wohlhabend genug geworden, um uns eine längere Muße zu gönnen. Ich will ja auch nichts Übermäßiges von dir verlangen. Wenn du es für unmöglich hältst, jetzt noch das Gastspiel in Amerika gütlich zu lösen oder zu verschieben, so will ich alle Energie zusammennehmen und auch das noch absolvieren. Wenn du mir versprichst, fest versprichst, mich dann gleich nach Deutschland zu bringen und mit mir ganz uns und unserer Ehe zu leben.«
»Nein,« sagte Robert Braun kurz, »ich lasse mir kein Ultimatum stellen.«
»Besinne dich, bevor du meine Bitte abweisest. Denn ich kann dich nicht noch einmal bitten.«
Er ging ans Fenster und trommelte gegen die Scheiben.
»Nein,« wiederholte er und wandte sich nach ihr um. »Jetzt aufhören, wo wir derart in Mode sind, das hieße Selbstmord begehen. Unsere Ehe hat damit auch nicht das geringste zu schaffen. Über Mangel an Treue hast du dich jedenfalls nicht zu beklagen.«
»Aus Treue allein besteht eine Ehe nicht. Wir leben nebeneinander hin aus Gewöhnung und Nützlichkeitsgründen. Ach du, das macht ja so mürbe, das ist ja, als ob man in lauter graue Spinnengewebe eingewickelt würde. Ich muß frische Luft spüren. Ich halt's nicht mehr aus.«
»Soll ich etwa den schmachtenden Liebhaber spielen, der vor dir kniet und dich mit Rosen bekränzt?«
»Robert!« rief sie laut. »Den Ton nicht, hörst du, den nicht! Keinen Spott jetzt, wo es sich um Todernstes handelt. Du! Ich bitte dich noch einmal. Du siehst, daß ich innerlich leide, daß ich ganz vereinsame, daß eine Leere in mir ist, die du ausfüllen mußt. Kannst du mich denn so leiden sehen, stellst du denn deine Kunst um so viel höher als die Liebe zu deiner Frau? Dann – ja dann – ist es ein unwürdiger Zustand, in dem wir uns schon lange befinden, und es ist höchste Zeit, daß wir ihm ein Ende machen.«
»Wenn einer von uns beiden,« sagte Robert Braun, »getäuscht worden ist, so bin ich es wohl. Ich hatte ein ganz anderes, zielbewußteres Wesen in dir gesehen. Und nun habe ich keine Lust, die Konsequenzen dieser Täuschung zu ertragen. Was wir auf uns genommen haben, werden wir zu Ende führen. In meinem Sinne!«
»Aber dann,« erwiderte sie fragend, »ist doch ein gemeinsames Weiterleben – ausgeschlossen?«
»Du gefällst dir in Rätseln, Helga.«
»Ich sage, wenn du der Ansicht bist, so hat doch unsere Ehe ihre Berechtigung verloren.«
»Herrgott, sprich doch nicht immer von Ehe und Ehe, wie eine kleine Beamtenfrau. Bei uns handelt es sich um die Kunst.«
»Nein! Jetzt handelt es sich bei mir um die Ehe. Und jetzt, wo das Gespräch uns so weit geführt hat, bin ich ganz ruhig geworden. O bitte, fürchte nur nicht, daß ich dir eine Szene machen werde. Dazu hast du mir ja alle Kraft genommen, selbst wenn ich wollte. Und ich würde nicht wollen, nie!«
Sie trat dicht an ihn heran, und ihre ernsten Augen ließen den Blick nicht von ihm.
»Du hast eine Täuschung empfunden, Robert. Ich bitte dich um Verzeihung, daß ich sie dir bereitet habe. Aber du hast sie ja früh genug erkannt. Und ich – ich habe sie nun auch erkannt, in dieser Auseinandersetzung, die einen ganz anderen Ausgang haben sollte. Jetzt brauchen wir nicht mehr von einem Aufgeben der Pläne zu sprechen. Du kannst die deinen unbehindert ausführen. Du bist von dieser Minute an frei. Und da ich jetzt deine Frau nicht mehr zu sein vermag, wirst du mich wohl auch freigeben.«
Robert Braun staunte sie an. Dann warf er die Achseln hoch und antwortete kurz: »Unsinn!«
»Es wird dir nichts anderes übrig bleiben, lieber Robert. Das Wort ist einmal gefallen.«
»Ich sage: Unsinn!«
»Laß mich doch nicht an deinen Edelmut und deine vornehme Gesinnung appellieren.«
»Die haben hier gar nichts zu schaffen. Man läuft nicht auseinander, wenn man einmal verschiedener Meinung ist. Dann hat sich die Frau der besseren Erkenntnis des Mannes einfach zu fügen.«
»Und wenn die Frau an die bessere Erkenntnis des Mannes nicht mehr glaubt? Wenn sie überhaupt nicht mehr glaubt, daß sie die Frau dieses Mannes ist? Ich glaube nicht mehr daran, Robert. Uns bleibt nichts mehr übrig.«
»Ich werde doch wohl noch tun und lassen können, was mir beliebt,« sagte Robert Braun brüsk und wollte an ihr vorüber zur Zimmertür.
Aber sie vertrat ihm den Weg. »Das sollst du auch von diesem Augenblick an. Du – wie ich!«
Er stutzte. Der Ton in ihrer Stimme war ihm unbekannt.
»Ich gebe dich nicht frei.«
»Ich bin es schon.«
»Du bist meine Frau. Ich habe Gewalt über dich. O nein, so leicht spielt man mich nicht aus. Versuch's nur!«
»Von Versuchen kann jetzt nicht mehr die Rede sein. Du hast unzweideutig die Täuschung ausgesprochen, und ich habe sie ebenso unzweideutig anerkannt. Muß ich denn deinen Stolz anrufen? Wärest du wirklich im stande, neben einer Frau herzuleben, die deine Frau nicht mehr zu sein wünscht? Fühlst du denn nicht, wie kläglich und erniedrigend das für uns alle beide sein müßte? Den Mut besitze ich. Ich gehe nicht mit.«
Robert Braun war blaß geworden. Als er sprach, klang seine Stimme heiser. »Du willst es doch nicht – auf einen Skandal ankommen lassen?«
»Ich? – Mir ist nichts widerwärtiger. Man kann doch auch, wenn man sich trennt, groß bleiben.«
»Aber wir trennen uns nicht. Es liegt durchaus kein sichtbarer Grund vor.«
»Müssen wir denn so lange warten, bis der Grund vor aller Welt Augen erkenntlich ist und jedermanns Hände darin herumwühlen dürfen? Das, was wir bisher, mit Recht oder Unrecht, heilig gehalten haben, das wollen wir doch nicht nachträglich durch den Schmutz ziehen. Dann, ja dann müßten wir uns schämen.«
Aber er wies sie heftig ab.
»Es liegt kein Grund zu einer Scheidung vor. Nie habe ich dich so behandelt, daß du Klage führen könntest.«
»Robert! Nimm mir doch nicht den letzten Glauben. Den an deine Ritterlichkeit. Ich will doch nicht von dir gehen und mit Haß und Verachtung an dich denken. Wirklich vornehme Menschen, Robert, warten doch nicht ab, bis sie mit Schelten und Schimpfworten sich die Kleider zerrissen haben. Menschen, die in einer Gemeinschaft gelebt haben, in der gegenseitige Achtung Grundbedingung war, wollen doch auch mit dieser gegenseitigen Achtung aus der Gemeinschaft heraustreten können. So nur allein ist es möglich. Mit besudelten Gedanken kann man doch nicht leben. Wir wollen uns die Hand geben und uns frei in die Augen sehen können. Dann ist es ein Dank, mit dem ich gehe.«
Sie reichte ihm die Hand hin. Ihre Augen umfingen noch einmal seine Gestalt. »Morgen, Robert, soll es sein. Der heutige Abend gehört Marschall. Ich werde morgen reisen.«
»Marschall – ah, Marschall!«
Sie lächelte nur. »Quäl dich nicht mit nutzlosen Gedanken, Robert. Meine Seele ist ganz rein.«
»Und nein und tausendmal nein! Ich gebe dich nicht frei. Ich denke nicht daran. Es liegt kein Grund vor, und was ich gegen dich gesagt habe, nehme ich zurück. Unsere Kunst gehört zueinander. Das ist auch eine Verpflichtung.«
»Es war, Robert, es war. Jetzt habe ich die Verpflichtung gegen mich.«
»Es gibt nur eine gemeinsame.«
»Es ist zu spät, Robert.«
Da drängte er sie beiseite und stürmte ins Nebenzimmer. »Versuch's!«
»Robert!« schrie sie auf und sank vor der verschlossenen Tür in die Kniee. Und den Kopf gegen das Holz gelehnt, schluchzte sie wild auf, und die heiße Bitterkeit ging langsam in ein wehes, wehes Weinen über, und sie weinte, wie sie schon einmal um einen Toten geweint hatte, um den vom Schicksal vornübergebeugten Freund vom Grubeshof. Schon einmal um einen Toten. Denn nun wußte sie: Robert Braun würde ihrem Gedächtnis fortan ein Gestorbener sein. – –
Sie erhob sich von den Knieen und zerdrückte mit den Fingerspitzen die letzten Tränen.
Heute abend, dachte sie mit ruhiger Gefaßtheit, werde ich in Marschalls »Hadwiga« als Frau Braun-Nuntius auf den Brettern stehen – –
Und morgen – –?
Und morgen werde ich als Helga Nuntius meinen Weg von vorn beginnen.
Vor ihren Augen lagen die herbstlichen Felder und Äcker.
Aber unter der Scholle drängten die Spitzen der Wintersaat, die zuerst den Frühling sieht.
Und ihre Augen verloren die herbe Wehmut und wurden gläubig. – –