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5.

Frankfurt lag im Schnee. Die Novemberstürme hatten in einer einzigen Nacht das Laub von den Bäumen gejagt und es heulend in den Main getrieben. Wilde Regengüsse waren gefolgt. Wie Aufwaschfrauen hatten sie sich auf die Anlagen der Stadt gestürzt und nicht eher geruht, bis die letzte Erinnerung an die schwelgenden Feste, die sich der Sommer bis in den Herbst hinein gegeben hatte, hinweggetilgt war und die Bäume, des Schmuckes beraubt, blankpoliert umherstanden, wie gut abgeriebene Möbelstücke in einem nüchternen Haushalt, der nach einem ungewöhnlichen Festabend schnell wieder in die Alltäglichkeit zurücksinkt.

Die Menschen greifen verdrossen zur Arbeit, dann wird die Gewohnheit ihrer Herr, und noch eine Spanne des täglichen Einerleis, und sie wissen nicht, daß es je anders war.

Helga Nuntius hatte ihren Freund Marschall kaum wiedergesehen. Wenn sie nicht im Konservatorium war, saß sie daheim am Klavier, oder mit ernster Stirn über einen Klavierauszug gebeugt, oder auch: sie huschte in dämmernder Abendstunde an die Tür, horchte hinaus, ob sie unbelauscht sei, schlüpfte ans Fenster und ließ das Rouleau herab und verwandelte sich in ein andres Wesen. Mitten im Zimmer stand sie mit leisem Atem und fremdglänzenden Augen. Und während ihr Mund Textworte murmelte und zuweilen ein festerer Ton den Rhythmus des Gesanges markierte, hob sie die schönen, schlanken Arme in immer vollendeteren Linien, glitt sie in immer elastischeren Bewegungen durch den Raum, nahte sie sich schalkhaft ihrem Sessel, als vermutete sie den Liebsten des Herzens dort, umschlang ihn stürmisch mit der fröhlichen Liebe des Kindes oder wich entsetzt, mit allen Zeichen des Schreckens und der Verzweiflung im blaß gewordenen Gesicht, streckte abwehrend die Hände, taumelte und stürzte hinterrücks zu Boden, daß ihr weiches Haar wie eine Welle an ihr hinfloß. Dann erhob sie sich lauschend auf den Arm, und das heimliche Spiel begann von neuem. Ein Summen von Melodien, ein Wiegen und Schmiegen des Körpers, ein Gleiten und Schreiten, ein heiteres Tändeln der Hände, und wieder ein leidenschaftliches Aufbegehren, ein sehnsuchtsvolles Drängen, ein schmerzensvolles Zusammensinken und ein Sterben in Schönheit.

Sie war nicht mehr Helga Nuntius. Sie war Anna, die Braut des dämonischen Heiling, sie war Mignon, die weltfremde, sie war Elsa oder Evchen, aus Wagners Geist geboren. Lautlos war ihr Tun, aber immer mehr wich das Spiel, und bald war es ihr, als lebte sie ein zweites seltsames Leben, sobald sie sich eingeriegelt und die Fenster verhängt hatte.

Einmal hatte sie Herr Johann Bettermann doch belauscht. Vor dem Schlüsselloch hatte er gehockt und hindurchgeblickt, den Mund vor Staunen weit geöffnet. Da war sie durch das Zimmer geschwebt, einen Schleier um die jungen Schultern, den sie mit feingespreizten Fingern hob und senkte. Was sie sang und sprach, konnte er nicht verstehen, aber er sah sie tanzen mit einem hinreißenden Gesichtsausdruck und mit den Gegenständen im Zimmer Spiele treiben, als wären es lebende Wesen, und plötzlich – er spürte den Schreck noch tagelang in den Knochen – sah er sie wie vom Blitz getroffen zusammenbrechen, daß er aufgeschrieen hätte, wenn sie nicht schon wieder auf den Füßen gewesen wäre und den entsetzlichen Sturz noch einigemal still wiederholt hätte.

Eine halbe Stunde später war sie zum Abendessen erschienen, frisch und fröhlich, und hatte einen urgesunden Kinderappetit entwickelt. Herr Bettermann aber hielt in sich verschlossen, was er erspäht hatte. Ihm war, als trüge er das Geheimnis der schönen Melusine in seiner Brust, und verstohlen nur strich er dem märchenhaften Hausgast über die Schulter, um festzustellen, daß er wirklich Fleisch und Bein in seinen vier Wänden beherberge. Daß Herr Johann Bettermann über sein Erlebnis nicht sprach, auch Frau Lena gegenüber nicht, hatte einen tieferen Grund. Denn auch Herr Bettermann lebte zuweilen ein zweites Leben. In dieser Nacht beschloß er, seine kleine Freundin daran teilnehmen zu lassen.

Es war Mitte Dezember geworden, und Frankfurt lag im Schnee. Schon in der Morgenfrühe hatte der Meister an Helga Nuntius' Zimmer gepocht, um ihr die merkwürdige Naturerscheinung mitzuteilen. Flugs war sie gewaschen und angekleidet und stand nun mit dem strahlenden Hausherrn am Fenster der Wohnstube. Der Schnee lag wohl einen Fuß hoch. Die Hausdächer trugen Galerien und die Dachreiter am Grubeshof spitze Zipfelmützen so hoch wie Zuckerhüte. Die Stadt war in eine feierliche Stille eingehüllt, in eine verhaltene Freude.

»Fräulein Nuntius – –?«

»Ja, Herr Bettermann –?«

»Was sage Se derzu?«

»Schön – – –!«

»Des is mei Wetter, speziell das meine.«

Es war ein geheimes Triumphieren in seiner Stimme.

»Ich liebe es auch …« sagte das Mädchen und dachte an die verschneiten, blauweißen Wälder der Heimat, in denen es jetzt lautlos umging wie altgermanischer Winterzauber.

»Ja, Fräulein, wann Sie möchte – –«

»Was denn, Herr Bettermann?«

»Awwer Sie dürfe mich alte Frankforter Börger net auslache …«

»Hab' ich so schlechte Eigenschaften, Meister?«

»Ach, Fräuleinche – so was glaabe Sie selwer net. Ich förcht' nur manchmal, daß Ihne mei Ohhenglichkeit lästig werd.«

»Meister Bettermann, ich hab' Ihnen doch auch schon Liebeserklärungen gemacht.«

Da lachte er, daß sein Kindergesicht glänzte.

»Net iwwel. Awwer ich nehm's for wahr.«

»Wahr und wahrhaftig.«

»Also Sie wolle werklich? Fräulein, Sie wisse gar net, was for e Freid ich an Ihne erleeb.«

Frau Lena trug die dampfende Kaffeekanne ins Zimmer und schenkte die Tassen voll.

»Mann, Mann,« sagte sie kopfschüttelnd, »was redst du nur unserm Fräulein wieder vor. Wenn du nur wenigstens Hochdeutsch reden wolltest. Ein gebildeter Christenmensch kann dich doch gar nicht verstehen.«

»Ich werd' mich bemühen. Aber verstanden haben Sie mich doch, gelle, Fräulein? Guck her, Mutter, Leut' wie das Fräulein und ich verstehen sich, und wenn der eine Botokudisch und der andre Sachsenhäuserisch red't.«

Und er zwinkerte dem Mädchen listig zu und machte hinter Frau Lenas Rücken ein paar hastige Handbewegungen, die da ausdrücken sollten: »Nichts verraten. Es bleibt unter uns.«

»Was denn?« flüsterte Helga.

»Ah so – –. Heut abend, Fräulein.«

Als sie durch den Schnee zum Konservatorium stapfte, war ihr wunderlich froh zu Mute. Der Reiherstutz auf ihrer polnischen Pelzmütze nickte bei jedem Schritt, und in dem grünen Tuchkostüm, um dessen Saum ein fingerbreites Pelzstreifchen lief, hob und dehnte sich ihr junger Körper, daß die schräggeknöpfte Ulanka warm und fest die feingezeichnete Büste umschloß.

Unterwegs traf sie Schüler und Schülerinnen des Konservatoriums. Sonst war sie ihnen aus dem Wege gegangen, denn der gewollt freie Ton und das mit Bewußtsein zur Schau getragene freie Benehmen hatten sie stets abgestoßen. Heute, in den verschneiten Anlagen, in der herben, reinen Wintermorgenluft, verspürte sie nur die gleiche Jugend. Und als einer der jungen Schar den Schnee ballte und sie mit wohlgezieltem Wurfe traf, zog sie mit einem Ruck die Handschuhe herab und nahm das Gefecht auf. Man kam ihr zu Hilfe, man focht gegen sie, mit fliegendem Atem, kurzem Lachen, unterdrücktem Aufschrei, und der sonst so stille Promenadenweg hallte wider von dem Jubelchor der Sieger, die, wo sie noch eines Besiegten habhaft werden konnten, ihn zum Schlusse noch der Wohltat einer Schneewäsche teilhaftig werden ließen.

Verspätet erst kam sie zur Stunde des Professors Faller.

»Fräulein Nuntius, jetzt wird einmal deutsch gered't. Glauben S' wirklich, ich lass' mir auf der Nase herumtanzen? Fräulein, dös wär' Aberglauben. Vor einer halben Stund' geh' ich durch die Promenad' zu diesem Zirkus für Halsgymnastik und Gliederverrenkung, und vor einer halben Stund' schon hab' ich Sie g'sehen, wie Sie sich mit den Labans und den Schnattergänsen aus der Klass' von dem Strohkopf – wollt' sagen hochverehrten Herrn Kollegen – im Schnee g'rauft haben. Fräulein Nuntius, wenn S' absolut werden wollen wie die andern – o bitt' schön, ich hab' nix dagegen, aber schon gar nix. Nur auf die Stund' bei mir verzichten S' dann, nicht wahr, einem alten Mann zulieb. Ich fürcht' mich bei dem Warten so sehr zwischen die leeren Wänd'.«

Helga Nuntius war so beschämt, daß sie nicht zu antworten vermochte. Sie stand in dem großen Bühnenzimmer, in dem heute eine Szenenprobe mit Braun stattfinden sollte, und als sie nun den Kopf hob, um an den polternden Lehrer einen bittenden Blick zu richten, bemerkte sie, daß ihr Partner bereits anwesend war und gelangweilt an einer Kulisse lehnte. Da biß sie sich auf die Lippe, entledigte sich ihres Jaketts, nestelte die Mütze herunter und trat vor.

»Ich bin bereit,« sagte sie.

»Sehr lobenswert. Aber noch lobenswerter hätt' ich eine Entschuldigung g'funden.«

Noch einmal streifte sie mit raschem Blick das Gesicht Brauns. Es hatte sich nicht um eine Nüance geändert. Kein kameradschaftliches Zuwinken, und auch kein Zeichen von Bedauern, gegen seinen Willen die Zurechtweisung anhören zu müssen.

Da erhob sich in ihr der zornige Stolz.

»Herr Professor, ich hätte nichts lieber getan, als mich sofort entschuldigt. Aber da es Ihnen nur auf eine Demütigung ankam –«

»Auf eine – auf was?«

»Ja, Herr Professor. Ich habe Ihnen noch nie wegen Unpünktlichkeit Grund zur Klage gegeben. Heute habe ich einen Tadel verdient. Etwas andres aber ist es, ob ich ihn vor ganz überflüssigen Zeugen verdient habe.«

»Dös, das muß wahr sein! Braun, haben S' gehört? Ach nein, Fräulein Nuntius, das hätt' Ihnen auch die Frau Mutter erklären können, was die Umgangsformen zu bedeuten haben.«

»Das hat mich mein Vater gelehrt.«

»Der Herr Vater? Respekt! Sagen S', war's ein Herr Graf oder – oder gar ein Herr Schulmeister.«

»Es war mein Vater,« sagte sie mit schwerem Atem und sah ihn fest an.

Der alte Meister rückte mit den Augen weg, blinzelte, schielte noch einmal von der Seite auf das aufgerichtete Mädchen, und plötzlich wandte er sich gegen die Bühne und gegen Braun.

»Wer hat Sie eigentlich g'heißen, in der Kulisse herumzustehn, wie?« schrie er den jäh Zusammenfahrenden an. »Haben Sie denn eigentlich nicht g'hört, daß ich mit dem Fräulein zu reden g'habt hab', was?«

»Aber erlauben Sie mal, Herr Professor –«

»Erlauben? Ich habe Ihnen aber nix erlaubt. Sie wollen ein Künstler sein und wissen noch nicht einmal, was sich als Mensch schickt? Kruzitürken, Herr, sorgen Sie, daß man endlich auch die Künstler für anständige Kerls hält, und nicht für Himmelhunde. Ich bitt's mir aus. Ausgered't is!«

»Herr Professor, wir befinden uns hier nicht auf dem Kasernenhof.«

Aber der Wütende saß bereits am Flügel, das Liebesduett zwischen Elsa und Lohengrin vor sich, und intonierte.

»Das süße Lied verhallt – – –«

sang Braun mit aller Schönheitsgewalt seiner Stimme.

Eine Pause von Sekunden.

Der Professor hatte die Hände von den Tasten gehoben, und nun lag er, mit beiden Armen die Klaviatur umspannend, und lachte … lachte aus vollem Halse. »Das süße Lied verhallt!« stöhnte er. »Na ja, 's is verhallt. 's war süß, mein Lied, was? O Gott, das süße Lied verhallt …«

Und nun lachte auch Helga Nuntius, und selbst Braun grinste in sich hinein.

»Na, Kinder, schließt's halt Frieden mit mir. War mehr laut als bös g'meint. Nur, weil i an euch den Narr'n gefressen hab' und stolz sein möcht' auf euch. Da ist jetzt die Nuntius. Zwei Jahr' hat sie bei der Mutter studiert und die Mutter war meine beste Schülerin und ist längst die große Nuntius! Was soll ich dem Kind von der großen Nuntius noch viel beibringen? Mir ist der Ehrgeiz der Herren Lehrer fremd, die wie manchmal die Herren Ärzt' immer glauben, es ging' gegen die Berufsehr', wenn s' nix finden. Alsdann, Kind. Du hast ja meine Method'. Bist also Blut von meinem Blut, und der Vergleich mit der Berufsehr' war billig. Aber länger als das eine Jahr halt' ich dich nicht. Das wär' mir Diebstahl. Übers Jahr bist im Engagement, und jetzt wird nix als Repertoire studiert. 'nauf auf die Bretter!«

Helga Nuntius stand auf der kleinen Bühne. Sie zögerte. Jetzt, im nüchternen Licht des Tages wiederholen, was sie in der Verschwiegenheit des gesichtereichen Winterabends geübt, schien ihr ganz undenkbar. Sie fühlte, wie eine heiße Scham in ihr heraufkroch, ihre Wangen dunkel färbte und ihr den Atem benahm.

Braun näherte sich ihr und öffnete die Arme. Da schloß sie in tödlicher Verlegenheit die Augen und ließ sich an seine Brust sinken.

»Nun macht's euch bequem, Kinder!«

Sie fühlte sich von Braun sanft auf den Diwan gezogen, und das Blut ging ihr wie eine breite Woge durch die Brust, als des Gralritters Glückesjauchzen in immer gewaltigerer Empfindung an ihr Ohr schlug:

»Elsa, mein Weib – –!«

Sie setzte ein. Mit verhaltener Stimme noch. Aber dies kurze Ringen zwischen dem drängenden Geben und der scheuen, heimverlangenden Zurückhaltung gab ihrem Ton und ihrem Wesen einen so keuschen, jungfräulichen Reiz, daß selbst in dem hochmütigen Gesicht ihres Partners ein Staunen aufstieg vor dem reinen Weibestum, dessen Stimme er hier zum ersten Male vernahm. Unwillkürlich paßte er sich ihr an. Das auflodernde Liebesfeuer erhielt einen klareren Schein, die Zärtlichkeit der Alleinseinsfreude war von einem Hauch dienender Verehrung umweht, ihre Seligkeit war die von schönen stolzen Kindern, und es lag über sie ausgebreitet wie ein Lenztag der Poesie …

Der alte Meister am Flügel hatte Not, seine Erinnerungen zu bekämpfen. Vor seine Augen legte sich ein Nebel, und aus dem Nebel hob sich Baireuth, das heilige Mekka der Musik, und auf der Bühne des Festspielhauses stand er, er selbst, wie der Junge dort oben, und ein andrer stand neben ihm, mit einem so scharf herausgearbeiteten Profil, wie er es nie wieder gesehen, ein Samtbarett auf der wuchtenden Stirn, und der Mann war der Göttliche selbst, war Richard Wagner, und der Göttliche klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Bravo, Faller. Sie werden für mich singen. Ihnen vertraue ich den heiligen Gral, Faller.«

Der alte Sänger vergriff sich in den Tasten. Da kam er zu sich. Was denn nur? Der Meister hatte ihm den heiligen Gral vertraut. Nun war es an ihm, ihn in die rechten Hände weiterzugeben.

Droben schwoll die Stimme Elsas immer leidenschaftlicher an. Das Frauenwunder vollzog sich. Das Wunder, das durch eine einzige Liebesstunde das Kind zum Weibe wandelt.

Ernst und erhaben führte Braun seine Partie. Er hatte den großen Stil gefunden. Und wie vordem Braun sich gezwungen gesehen hatte, seinen Helden dem bräutlichen Wesen des Mädchens anzupassen, so wirkte jetzt seine edle Größe hinreißend auf Helga Nuntius, und sie war wie in ihrer Kammer und vergaß sich selbst und den Ort, an dem sie stand, und es war ein Wildvisionäres in ihr und ihrem Spiel, bis sie, gebrochen von der Tat der Elsa, sich an Lohengrins Brust warf und ohnmächtig an ihm herab zu Boden sank …

Da ließ Faller die Erinnerungen herein. Den Kopf tief über die Klaviatur gesenkt, spielte er für sich weiter und weiter. Motive kamen und kamen, sie klangen an, verweilten wie ein Sonnenlicht, bevor es weiterhuscht, und machten lautlos fast dem nächsten Platz. Jung-Siegfried schmiedete sein Schwert, Herr Walter Stoltzing ließ sein Preislied tönen, und Held Tristan, der Seligste der Unseligen, rief nach der Frau der Frauen.

Die jungen Leute auf der Bühne waren längst schon aus ihren Rollen herausgeschlüpft. Sie waren Helga Nuntius geworden und Robert Braun, nach den Menschen der Illusion Menschen des Tages. Und die Menschen des Tages standen, der eine rechts, der andre links an der Kulisse, die Bühne zwischen sich, und es war ihnen peinlich, sich anzusehen, weil sie noch die Umarmungen fühlten, jene der Menschen der Illusion. Der Illusion – –? Aber sie hatten sich doch umarmt. Wie konnte man danach sich kühl verbeugen: Adieu, mein Fräulein; Adieu, mein Herr? Helga Nuntius wußte nicht, wie sie die Bühne verlassen sollte.

Drunten am Flügel wurde es still. Fallers knochige Hände lagen ausgespreizt auf den Tasten. Auf den verknitterten Handrücken sprangen ein paar blaue Adern auf und ab. Jetzt drehte er den Kopf, und die jungen Leute sahen, daß seine Augenränder stärker gerötet waren als sonst.

»Kinder,« sagte er, »nur nicht sterben müssen.«

»Aber, Professor, was für Gedanken!«

»Nur nicht sterben müssen … Nein, nein, es ist nicht wegen der Furcht. Es ist nur wegen der Musik … Gott Vater im Himmel, wie ist es möglich, von der Musik Abschied zu nehmen – –«

»Herr Professor,« rief Braun herunter, »wir wollen zusammen einen Frühschoppen trinken!«

Aber Fallers Ohr vernahm die Lockung nicht.

»Wenn ich mir denk': da hab' ich dring'standen, so tief oft, daß mir die Tonwellen über dem Kopf zusammeng'schlagen sind, und hab' mich reingebadet selbst von dem dicksten trübsten Lasterschlamm des Lebens, ausg'holt mit weitgestreckten Armen und hinein in die Flut, bis man nicht äußerlich, bis man innerlich so rein, so unsagbar rein und leicht war – Ja, ja, ja … Das ist die Kunst. Die absolviert und heiligt alles. Wenn man an sie glaubt. Wenn – man – an – sie – glaubt.«

Keiner sprach. Und nach einer Pause fuhr er fort.

»Nur nicht sterben müssen. Ich glaub' ja immer noch. Und wenn's denn sein muß, will ich als Konservatoriumsprofessor weiter glauben.« Er schlug auf die Tasten, daß sie klirrten. »Wie darf denn nur ein Künstler alt werden? Wie darf er denn nur das Grab sehen? Die andern, o, die andern! Die haben's leicht, den Römer spielen und sich das Laken über die Nasenspitz' ziehn. Sie gehn halt aus dem Leben. Aus rein nichts als aus dem Leben! Und wir? Wir gehn halt aus dem Leben und aus der Kunst! Wir verzichten auf die Seligkeit. Und sie erhoffen sie erst. Kinder, Kinder, grübelt's nicht nach, es macht wahnsinnig. Wie kann man nur von der Musik Abschied nehmen – –«

Nun standen die jungen Leute neben ihm am Flügel. Helga Nuntius preßte die Hände ineinander, um sie nicht um den Kopf des Lehrers zu schmeicheln und ihn wortlos zu streicheln. Robert Braun nestelte an seiner Uhr. Jetzt zog er sie.

»Zwölf,« sagte er. »Ja, Herr Professor, ich für meinen Teil nehme jetzt von der Musik Abschied.«

»Machen S' die Tür hinter sich zu, aber g'schwind!«

»Ich hole Sie heute abend ab, ins Restaurant Falstaff.«

»Mensch, wagen Sie sich nicht in meine Näh'! Kunstbanause, Sie! Was wissen Sie von der Kunst, von der Musik? Werden Sie ein einziges Mal heulen können, wenn's Sie packt? Oder auch nur einen tieferen Schnaufer tun? Wie eine Kuh behandeln Sie die Musik, wie eine Kuh! Breitspurig sitzen Sie drunter auf Ihrem Dreibein, als ob Sie Mysterien orakelten. Aber in Wahrheit haben Sie die Kuh beim Euter und ›stripps, strill, stripps, strill‹ melken Sie sich die eignen Eimer voll. Wenn die Million in bar rund ist, schmeißen Sie den Dreibein gegen die Wand, und die Musik ist Ihnen Hekuba. Pfui Deixel! Und jetzt befreien Sie mich von Ihrem geehrten Anblick!«

»Mahlzeit, Herr Professor!«

Keine Antwort.

Die Tür schloß sich knarrend. Da erhob der alte Sänger den Kopf, blickte verwundert um sich und begann aus Leibeskräften »Braun!« zu rufen.

»Wünschen Sie noch etwas, Herr Professor?«

»Haben S' denn eigentlich schon g'sagt, um welche Zeit Sie mich abholen kommen?«

»Ich denke, um neun.«

»Na, sagen wir acht. Die Tag' sind ohnehin kurz genug.«

»Schön, pünktlich um acht. Auf Wiedersehen! Morgen, Fräulein Nuntius.«

Da nahm auch Helga Nuntius Jakett und Pelzmütze, um stillschweigend zu gehen.

»Behüt' Sie Gott, Kind! Die schlechten Beispiel' sind da, um die guten ins rechte Licht zu setzen. Sonst fänd' sich da kein Gott und kein Deixel heraus. Geschweige der unvollkommene Mensch. Bleiben S' hübsch brav und g'sund.«

*

Sie war den Tag über wie im Traum herumgegangen, wie in einem Labyrinth. Und sie suchte vergebens den Faden der Ariadne. Welch eine seltsame Gottheit war denn die Musik, daß sie die eigenen Jünger verwirrte? – –

*

Herr Johann Bettermann hatte den größten Teil des Nachmittags auf seiner Lederwage zugebracht. Ganz zusammengeduckt wie ein Kind, das mit mühsam verhaltener Erregung auf das Klingelzeichen des heiligen Christes wartet. Frau Lena war sein Wesen nicht entgangen. Aber sie ließ ihm gern seine Heimlichkeiten, zumal – da sie sie kannte. So lächelte sie ihm freundlich und aufmunternd zu, so oft sie über den Hausgang kam.

Als der frühe Abend hereinbrach und in der prickelnden Frostluft der Schnee leuchtete und glitzerte, als das Toben der Kinder auf den Gassen erstorben war und auch die Erwachsenen die wärmende Herdstelle suchten, klopfte Herr Bettermann an Helga Nuntius' Tür.

»Fräulein, wenn Sie jetzt möchte. Ich treff' Sie an der Katherineport'.«

Sie huschte aus dem Hause, und bald darauf band er die blaue Schürze ab und nahm den Hut vom Nagel.

»Mutter,« rief er in die Kolonialwarenhandlung, »ich hab' noch en bressante Gang. Guck als emol in mei Lederlädche.«

Dann zog er den Hut tief in die Stirn und schritt mit kleinen, eiligen Schritten zur Rendezvousstelle.

»Aber was soll denn eigentlich geschehen, Herr Bettermann?«

Er sah sich um, ob keiner ihnen folgte.

»Fräulein,« sagte er dann und dämpfte die Stimme, »Frankfort is preußisch. No, als meintwege! Was recht is, is recht. Mir verdiene derbei. Awwer des is jetzt e ganz neu Frankfort geworde. Die alt' brav' Frankforter Häuser werde immer seltener. Wo soll des hinführe? Da heißt es: Owacht gewe. Mir alt' Frankforter sein sozusage ein Familich. Und so halt' ich's denn for mei Pflicht, mein Familiemitglieder von Zeit zu Zeit zu revidiere. Besonners im Winter, wann sie dahäm sitze. Im Schnee kann mich kaa Mensch höre.«

Er schritt wacker voraus, und sie folgte ihm mit Kopfschütteln und doch mit fröhlich erregten, abenteuerlichen Erwartungen. Sie hatten eine abseits gelegene stille Straße erreicht, mit massiven Häusern und Vorgärten. Herr Bettermann drückte das Gesicht gegen das Eisenstaket. Helga Nuntius tat das gleiche. Dann nannte Herr Bettermann den Altfrankfurter Namen des Besitzers. Und flüsternd berichtete er. Von einer Französin, die sich der Herr Konsul zur Frau genommen. Von der Schönheit der Frau und ihren leichten Sitten. Und wie der Herr Konsul, der an seiner Vaterstadt mit Leib und Seele hänge, nunmehr ein Rittergut im Mecklenburgischen erworben habe und im Frühjahr schon für immer dorthin übersiedeln werde, nur um seine Frau unter Augen zu haben und den alten Frankfurter Namen vor ihr zu bewahren.

Herr Bettermann schien durch Mauern und Türen blicken zu wollen. »Wo werd er jetzt sitze als am Schreibtisch. Ganz alt geworde is er. Un vor sich hat er des große Hauptbuch seiner alt' Firma, wo drüwwer stehe duht: ›Mit Gott!‹ Un im Newezimmer liegt sei Frau auf einer Schehselonge un duht als in französische Romane erumstöwern, die net die Üwwerschrift hawwe: ›Mit Gott!‹«

Herr Bettermann wandte sich empört ab, und sie schritten eilig weiter, denn das Herumstehen im Schnee hatte kalte Füße zur Folge. Wieder machten sie halt. Vor einem langhingestreckten weißen Hause im englischen Stil. Große Rasenflächen, jetzt vom Schnee eingedeckt, umgaben das stolze Gebäude.

»E Jud',« sagte Herr Bettermann, und sie preßten beide das Gesicht gegen das schmiedeeiserne Gitter. Dann gab der Meister den erklärenden Bericht. Von den großen Diensten, die er der Stadt erwiesen, und den großen Summen, mit denen er sich an die Spitze jeder gemeinnützigen Sammlung stelle. Alles nur, um als echter Frankfurter zu gelten, der er auch sei. Aber trotz des großen Reichtums sei keine Freude im Haus. Denn die schöne Rebekka, das einzige Kind, gehe umher mit verweinten Augen.

»Warum?« fragte Helga flüsternd.

»Weil sie den jungen Hellmsberg liebe duht, un der is Christ, oder wie der Jud' sagt: treife.«

»Und der Vater will sie nur einem Glaubensgenossen geben?«

»Wann der Hellmsberg üwwertrete duht, kann er se kriege. Awwer es is doch e stark Stück, jemand auf sein erwachsene Täg zuzumute, jüdisch zu werde. Owacht, Owacht,« mahnte Herr Bettermann, heiser vor Aufregung, und wies mit kurzen verstohlenen Fingerzeichen nach dem Hause. Ein Fenster war erleuchtet. Jetzt wurde der Vorhang beiseite gezogen. Und Helga sah ein schlankes feingliedriges Mädchen mit schwerem braunem Haar. Das Licht einer Ampel beschien purpurn die weiße Stirn, unter der die Augen suchend die Straße auf und nieder wanderten. Gefangenen Vögeln gleich im goldenen Bauer.

Ganz still drückten sich Herr Johann Bettermann und seine verträumte Gefährtin das Staket entlang.

Dann marschierten sie bis zum nächsten Ziele wortlos weiter. Es war ein altes Patrizierhaus mit Hallen und Gewölben und Höfen, von den Jahrhunderten geschwärzt, gebaut für die Ewigkeit. Die Haustür, aus mächtigen Eichenbohlen gezimmert und verankert mit schweren Eisenbeschlägen, war angelehnt. Herr Bettermann drückte sie mit Anwendung aller Muskelkraft auf, faßte seine scheu zurückweichende Begleiterin bei der Hand und zog sie auf den Hausflur, der sich wie der Kreuzgang eines Klosters erstreckte. In ehrliche Anbetung versunken stand der kleine Handwerksmeister vor dem Zeugnis alter Frankfurter Glanzzeiten.

»Horche Se mal,« sagte er dann und wies nach oben.

Helga hörte nichts, aber Herr Johann Bettermann behauptete es zu hören. Das Knallen von Champagnerkorken – »un,« setzte er schamhaft hinzu, »un – Küsse – –.«

»Bis nächst Frühjahr gehört ihm kaa Staa mehr, kaa Ziegel uff'm Dach. Awwer der Vadder is gerad' wie die Söhn'. Des Luderzeug kneipt zusamme un durchenanner, wann sie häm komme. Un alles des uff Borg. Auch ihne ihre Badereise nach Ostend. Als wann sie net ewesogut im Moi'n bade könnte, wann's ums Haus geht. Um so e Haus! Halb Frankfort hängt mit dem Haus zusamme. Fürschte hawwe hier logiert. Eine Nacht sogar die Geliebte vom alte Rothschild. Egal, des muß jetzt dorch die Gorgel. Nächstes Frühjahr werd's abgerisse. So en Schkandal, so en Schkandal!«

Und plötzlich, von einem Anfall lokalpatriotischer Wut gepackt, schlug der Wächter Altfrankfurts dröhnend gegen die Treppenwand, schrie gellend: »Saufaus, Saufaus!«, packte seine Gefährtin beim Handgelenk und entwich mit ihr eiligst ins Dunkel.

Sie spürten nicht die Kälte des Winterabends, sie spürten nur das Geheimnisvolle. Und erregt von ihren Fahrten und Erlebnissen kehrten sie heim zu Frau Lenas abendlichem Tisch, und es dauerte lange, bis sie sich zum Zugreifen entschließen konnten.

Helga verabschiedete sich früh und verschwand in ihrem Schlafkämmerchen. Todmüde sank sie in die Kissen, und die Menschen Altfrankfurts tanzten in ihren Träumen mit den Gestalten der Musik ein steifes ehrbares Menuett, das plötzlich in einem sinnverwirrenden Galopp endete. Und sie grübelte im Traum: Ist die Kunst seltsamer, oder das Leben –? Dann lachte sie im Schlaf ihr ganz junges Mädchenlachen …


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