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Wenn man zum Frankfurter Hauptbahnhof wanderte, sah man die Berge des Taunus im blauen Duft vor sich liegen. Wie ein aufgebautes Gebirgspanorama lockten und winkten sie: »Kommt, es ist Frühling!« Und ihr Locken und Winken wurden stärker, je weiter es in den Mai hineinging, und als die ersten Junitage kamen und der Wald im neuen Blätterschmuck wieder sein Rauschen erhob, das in der Brust den Wandertrieb weckt und junge Menschensehnsucht nach weiten blauen Zielen, ungekannt und doch so voll von schmerzhafter Süße des Erratens, da hielt es auch Richard Marschall nicht länger, und in einer Morgenfrühe stand er zum Abmarsch gerüstet vor Helga Nuntius.
Gerade hatte sie sich mit dem Bettermannschen Ehepaar an den Kaffeetisch gesetzt, als er nach hastigem Anklopfen ins Zimmer stürmte. »Haben Sie denn noch nicht zum Fenster hinausgesehen, Fräulein Nuntius?«
»Das tu' ich jeden Morgen.«
»Aber ein Morgen ist doch nicht wie der andere! Zwanzig Jahre sind Sie nun alt geworden und wissen noch nicht, daß es Tage gibt, die einem einen Schmarren sagen, und Tage, aus denen der leibhaftige Herrgott herausschaut? Heute liegt er mit beiden Armen im Fenster, Fräulein, und sonnt sich. Geschwind, schauen Sie nach!«
»Ja – – das ist wirklich ein schönes Wetter …«
»Ein schönes Wetter? Ein Märchenwetter! Und eine Märchenwelt ringsum! Der Taunus lacht sich den Buckel voll vor Wonne und schnurrt wie ein Kater. Um fünf Uhr war ich schon in den Anlagen, da hab' ich's deutlich gehört. Und nun nehmen Sie einmal den Plaid über den Arm und kommen Sie mit hinaus. Herr Vater, Frau Mutter, daß Gott euch behüt'. Und mit lautem Sing und Sang, ziehen wir die Straß' entlang. Immer hinein ins Märchenland!«
»Aber, Herr Marschall, es sind doch noch keine Ferien! Ich habe zu lernen.«
»Wer sagt denn, daß Sie nicht lernen sollen? Unendlich viel und unendlich Neues sollen Sie lernen. Lücken sollen Sie ergänzen, Lücken, daß nicht ein so unkundig Menschenkind wie Sie pardauz durch sie hindurch auf die Nase fällt. Fräulein, es ist die höchste Zeit. Sie müssen lernen! Lernen, daß jede Kunst aus der Natur geschöpft werden muß. Lernen: o wunderschön ist Gottes Erde und wert, darauf ein Mensch zu sein! Haben Sie Onkel und Tante Bettermann ein Händchen gegeben? Bitte, Herr Bettermann, keine Rührung. Es geht nicht nach Amerika, es geht in den Taunus. Und ich bring' sie euch unbeschädigt wieder.«
»Wenn Sie mich nur hätten zu Wort kommen lassen, Herr Marschall, würden Sie jetzt schon allein auf dem Marsche sein. Wir können doch unmöglich zu zweit hinauswandern.«
»Mach' ich einen so schlechten Eindruck?« fragte der Komponist und sah forschend an sich hinunter.
»Ach, Herr Marschall – –«
»Hören Sie mal zu, Fräulein,« unterbrach er sie. »Ich wollte es Ihnen eigentlich erst draußen sagen, im Wald und auf der Heide. Weil ich ein ›Juhu‹ dahintersetzen wollte, daß der alte Feldberg mit seiner Haube wackelt wie eine chinesische Pagode. Fräulein, ich habe heute so etwas wie einen Geburtstag. Schwindel, meinen Sie? Der Ausdruck ist ein bißchen stark. Meine Oper, mein ›Merlin‹, ist angenommen. Als ich diese Nacht nach Hause kam – Professor Faller hatte versucht, mir den Begriff ›Mosel‹ beizubringen – lag der Brief mit der Aufschrift: ›Generalintendanz des Hoftheaters, Weimar‹ auf meinem Tisch. ›Euer Hochwohlgeboren werden ergebenst eingeladen, sich zu einer Besprechung wegen Ausführung der Oper ›Merlin‹ – –‹ Herrgott, ich kann's auswendig, wie ein gläubiger Derwisch seine Gebetssure. Ein paar Stunden hab' ich zu schlafen versucht, dann bin ich auf die Straßen gerannt, dann hab' ich den Taunus in der Frühsonne gesehen, und dann – dann hab' ich an meinen alten Herrn gedacht, da hinten im Taunusdörfchen, und daß ich ihm trotz seines bärbeißigen Zelotentums eine Freud' schuldig sei.«
»Das war schön, Herr Marschall, und nun gratuliere ich Ihnen doppelt.«
Sie nahm seine Hände und schaute ihm in die strahlenden Augen.
»Wie glücklich müssen Sie sein, den Alltagsmenschen das Heilige, die Musik, bringen zu können.«
»Die Musik? Das will ich ja gar nicht. Das ist doch nur Mittel zum Zweck. Empfindungen will ich ihnen bringen, daß sie um sich herum- oder in sich hineinschauen und ihnen ein Licht aufgeht: das, was der Kerl da empfindet, das empfinden wir ja auch! All das liegt ja in uns, und wir brauchen nur die Hände zu heben, um es aus uns herauszuschöpfen und unser Leben damit zu schmücken. Den Mut, zu lieben, wie wir es möchten, den Mut, zu leiden, wie wir es können, den Mut, dies Leben mit Heranziehung aller Kräfte zu leben, kurzum, den Mut zum Glück. Wie die Regimentsmusik in der Schlacht die marschmüden Soldaten elektrisiert: Vorwärts, der Mensch hat nur ein Leben! Na, denn man tau!«
»Sie sind so begeisterungsfähig,« sagte sie, von seiner warmen Frische sonderbar bewegt.
»Sind Sie es nicht? Nur, daß Sie Ihre Begeisterung vorläufig noch dem Abstrakten widmen. Aber in der erhabenen Welt der Geister zu schweben, dazu haben wir nach unserem Tode noch mehr Zeit, als uns lieb ist. Bis dahin aber handelt es sich darum, dies nichtsnutzige und doch so wonnige Dasein mit gesunden Sinnen und kräftigen Fäusten bei der Wolle zu packen. Wo wir hingestellt sind, da haben wir zunächst um uns zu schlagen. Stimmt's, Herr Bettermann? Was sagte Anno siebzig Ihr Major?«
»Kinner, daß ihr mir nix auslaßt? Mer sinn jetz' beim Herrgott in Frankreich. Das Gewehr rechts! Zur Attacke, marsch, marsch!« brüllte Herr Bettermann.
»Da haben Sie's, Fräulein. Daß ihr mir nix auslaßt! Und nun wollen wir gleich mit diesem schönen Tag beginnen. Sie haben heute im Konservatorium nichts zu tun. Kommen Sie mit mir in den Taunus. Kommen Sie mit ins heimatliche Pfarrhaus. Sie tun ein gutes Werk, denn Sie benehmen meinem alten Herrn die Gelegenheit, mit dem ganzen Rüstzeug der Orthodoxie über mich herzufallen, und zwingen ihn, sich zu freuen. Denn im Grunde wartet er ja darauf, sich freuen zu können. Fräulein Nuntius, er wartet darauf. Ein ganz, ganz alter Mann. Das ist doch Menschenpflicht.«
»Sie sind ein unausstehlicher Mensch,« rief Helga Nuntius lachend. »Jetzt versucht er's mit der Rührung. Sie hätten Ihrem Herrn Vater weniger Anlaß geben sollen, sich über Sie zu ärgern, dann brauchten Sie jetzt keine Hilfe, ihm die Freude über Sie plausibel zu machen. Aber ich werde nun mitgehen.«
»Ich danke Ihnen,« sagte er mit einem Seufzer der Befreiung, »im Namen meines alten, ehrwürdigen –«
Da hielt sie ihm schnell den Mund zu. »Jetzt bitte ich mir wieder Vernunft aus. Ich hole nun meinen Hut.«
Wenige Minuten später fuhren sie mit der Straßenbahn zum Hauptbahnhof und von dort nach Hofheim, wo sie den Zug verließen und die Fußwanderung durch die Laubwälder des Taunus aufnahmen.
In ihrem weißen Kleidchen, das durch schmale schwarze Applikationen eigenartig stilisiert erschien, schritt Helga Nuntius tapfer neben Marschall aus, der Plaid und Ranzen über den Schultern trug. Als die erste Steigung kam, sprang er ins Gehölz.
»Ich hol' die Wanderstecken!« rief er ihr zu und schnitt mit seinem Taschenmesser aus wucherndem Buschwerk ein paar schlanke Buchenstäbe heraus, befreite sie bis auf ein nickend Blätterbüschelchen an der Spitze vom Reisig und verzierte die Rinde durch Kerbschnitte und Arabesken. »Jetzt noch ein Lied, und wir genießen Heimatrecht, soweit der Wald reicht.«
Da schwangen sie ihre Stäbe und sangen zum Gleichtakt der Füße aus voller Kehle:
»Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern …!«
Meilenweit erstreckte sich der Wald. Die braunen Buchen neigten ihre Kronen zueinander und schufen märchenstille Laubgänge und Hallen mit smaragdenen Deckengewölben. Und unter den Stämmen, bis wo sie sich im Dunkel verloren, breitete sich ein satter Moosteppich mit weißen, blinkenden Mustern, die die Sonne schuf, die sich durch die tausend Ritzen und Spalten des luftigen Palastes den Eingang erzwängte, teil zu haben an der heimlichen Freude. Ein leiser summender Laut von Schmetterlingen und Bienen zog sich wie ein spinnender Silberfaden durch die grüne, hohe Einsamkeit. Es duftete nach kräftigem Waldboden, frischem Laub, würzigem Waldmeister und herbem Farnkraut. Bei einer Wegbiegung sprang ihnen ein blankes Quellgerinnsel über die Füße.
»Das ist eine verzauberte Prinzessin,« sagte Richard Marschall und zog tief den Hut zur Begrüßung. »Gestatten, Hoheit, daß ich Sie küsse.« Und er legte sich quer über den Wasserstreifen und trank sich satt. »Nun sind Sie befohlen, Fräulein Nuntius. Machen Sie Ihre Reverenz!«
Da hob sie das Oberkleid, kniete nieder und schöpfte in die hohle Hand.
Dann marschierten sie weiter, und vor ihnen lief die Sonne von Stamm zu Stamm und lachte.
»Die ist auch verzaubert,« sagte Helga Nuntius.
Und er entgegnete mit einer Handbewegung, die jeden Widerspruch ausschloß: »Hier ist alles verzaubert.«
Als sie eine Stunde durch den Wald gegangen waren, standen sie am Rande einer Höhe. Der Wald fiel ins Tal und bot einen Ausblick. Tief, tief unten zwischen Feldern und Äckern lief die Landstraße, und von drüben rückten die bewaldeten Berge heran und reichten den Bergen hüben die Hand, und gemeinsam umschlossen sie das Tal, daß es wie in einer Wiege lag. Hoch oben in den Lüften kreiste ein Bussard, und von Zeit zu Zeit ruckte er mit einem Stoß nach unten, zog neue Kreise und schoß jäh in die blühende Saat, um zwischen den Fängen ein Zappelndes hinwegzutragen.
»Nicht so lange verweilen!« gebot Marschall. »Erst droben den Heidekopf gewinnen, dann liegt uns die ganze Herrlichkeit zu Füßen.«
Sie tauchten im Gebüsch unter und krochen durch Haselstauden und Brombeergerank auf den Weg zurück, der sich in der schimmernden Waldeinsamkeit verlor. »Das ist wie in den Kreuzgängen eines weitläufigen, uralten gotischen Klosters,« sagte Richard Marschall, und Helga Nuntius antwortete: »Ich warte schon die ganze Zeit auf einen schneeweißen ehrwürdigen Eremiten. Dort aus dem Buchengehänge müßte er auftauchen und auf einem Einhorn reiten.«
»Was würden Sie tun, wenn er erschiene?«
»Ich würde ihn um seinen Segen bitten.«
»Für uns beide doch hoffentlich. Eine Kopulation im Grünen. Wundervoll!«
Sie schüttelte den Kopf. »Was für Ideen!«
»Wenn Sie für eine Trauung im Walde keine Meinung haben, können wir ja auch meinen alten Herrn bitten. Auf einiges Zureden wird der uns schon die Dorfkirche ausschließen. Aber vorher wirft er uns dreimal von der Kanzel. Das geschieht, um den letzten Versuch zu machen, die Vernunft wachzurütteln.«
»Ich würde ihm sein Amt erleichtern, denn meine Vernunft würde schon beim ersten Male erwacht sein.«
»Sagen Sie das nicht, Fräulein, sagen Sie das nicht. Ich bin eine gute Partie.« Und er zog den Brief der Generalintendanz aus der Brusttasche, schwenkte ihn wie eine Fahne durch die Luft, hielt ihn ihr hin, daß sie danach greifen sollte, faßte sie dann bei der Hand und stürmte mit ihr durch Farn und Kraut, durch Moos und Unterholz den letzten Hügel hinauf, und eine Woge von Sonne und Waldesduft stürmte mit.
Lautatmend standen sie oben. Einen Blick nur taten sie in die Runde, hastig, überwältigt, und dann warf Marschall den Hut hoch in die Luft und stieß einen Schrei aus, der von den Bergen ringsum siebenfach zurückgegeben wurde, und Helga Nuntius warf ihren Hut dem seinen nach und schrie mit und reckte die Arme gen Himmel in ausströmender Jugendkraft.
»Sie kleines dummes Mädel, nun?« schrie Marschall.
»Sie großer dummer Junge, nun?« ahmte sie ihm nach.
»Das ist doch eine Märchenwelt!«
»Das ist eine Märchenwelt!«
Um sie her, auf dem runden Kopfe des Berges, grüne Heide. Von einem Rahmen gelben Ginsters umschlossen. Mitten im Heidekraut lagen sie, den Blick in den Äther gerichtet, durch den feine Federwölkchen strichen, oder hinaus, weit hinaus, über das dunkle Bergland hin und die hellen Täler. Drüben lugte die Schloßruine Eppsteins, und aus einem Seitentälchen ein spitzer Dorfkirchturm.
»Mein Zuhause!« Richard Marschall nickte hinüber.
Sie lag ganz still und rührte sich nicht. Es war in ihr ein wogendes und wallendes Empfinden, wie brennendes Heimweh, und wieder wie unstillbare Sehnsucht: weiter, weiter ins Leben hinein! Das rieselte und rann durch ihre Adern und schwellte ihre Glieder, daß sie in heißem Staunen in sich hineinhorchte, bis sie es verstand, bis sie merkte, daß das alles, alles Freude sei, Freude an der Welt, Freude am Leben, Freude an der Jugend und Freude, ja Freude an sich selbst.
Die Sonne lachte in den Blütenbüscheln, die die Luft mit ihrem Würzhauch durchtränkten und süße Betäubung um sich her ergossen. Wie aus fernen Weiten hörten die beiden jungen Menschen das heitere Gesumm der Bienen, die in langen schwarzen Zickzacklinien durch die Luft kamen, in ihrer Nähe verweilten, den Blütenhonig zu sammeln, und in langen schwarzen Bogen wieder zum Stocke eilten. Das Gebrumm der schwer dahintaumelnden Hummeln gab den Unterton. Und das Heer der Schmetterlinge, der Füchse, Blaumäntel, Admirale und schillernden Pfauenaugen sorgte für die schwingenden Farbenakkorde.
Zwei braunrote Eichhörnchen fegten spielend ins Gehölz. Unaufhörlich rief der Kuckuck. Dann raschelte es wieder, und eine schlanke Ricke führte ihre mutwillig tänzelnden Kitze über den Heidekopf. Und wieder vernahm man nichts als aus Nähe und Ferne das Klopfen des Spechtes.
Dann fuhren sie beide auf. Glockenton aus dem Tal. Hin und wieder ein paar verwehte Akkorde. Das hallte zu ihnen empor wie aus einem grundlos tiefen See. Auf die Arme gestützt, horchten sie hinaus und horchten immer noch, als die Klänge längst erstorben waren und nur die Blätter im Walde flüsterten, als liefe über ein weites grünes Meer eine streichelnde Brise.
»Nicht sprechen, nicht sprechen!«
»Ich freue mich nur, daß der Tag so schön ist. Ihrer Oper wegen.«
»Wer kann jetzt an Opern denken. Blicken Sie um sich. Was ist das für ein unermeßlich Weltall. Da liegen wir drin wie zwei winzige Ameisen. Aber auch die Ameisen freuen sich ihres Lebens und klettern vor Vergnügen auf die Bäume und schreien auf ihre Art ›Juhu!‹ Los, Fräulein Nuntius, los!« Und sie schwenkten die Arme durch die Luft, und in seinen hüpfenden Jodler hinein ließ sie ihre silbernen Triller steigen. Mit geweiteter Brust, ihren Tönen nach, rannten sie glänzenden Auges durch den Wald zu Tal, über die Wiesen und durch die Feldfurchen, an wiegendem Roggen und nickendem Weizen vorbei, und wo er ihn fand, raffte er den roten Mohn zusammen, und sie besteckte ihr Haar und ihr weißes Kleid damit, und so kamen sie ins Dorf.
Es war ein Uhr Mittags, und ausgestorben lag die Dorfgasse. Vor dem Pfarrgarten, aus dem das weiße, von wilden Rosen umrankte Pfarrhaus lugte, lag ein schwarzer Spitz und sonnte sich. Schnüffelnd hob er die schmale Schnauze. Dann sprang er empor und mit so wilden Freudensätzen an Marschall hinan, daß ihm das Begrüßungsgekläff in der Kehle zu einem heiseren Winseln umschlug.
»Fritzchen, altes Fritzchen … lebst du noch? Na ja, ich freue mich ja auch. Und das hier ist meine schöne Freundin.«
Helga aber hockte schon vor ihm nieder und schüttelte ihn an den Ohren und kraulte ihm das Fell. Da tanzte er auf den Hinterbeinen zwischen beiden hin und her und kratzte mit den Vorderpfoten bald an den Kleidern des einen und bald an den Kleidern des anderen. Im Pfarrhaus klirrte ein Fenster. Eine Stimme rief.
»Heda, ist Besuch da? Bitte näher treten.«
»Sehr verbunden, Papa. Werden nicht ermangeln.«
»Du, Richard?«
»Und noch etwas ganz Schönes. Zieh den Flaus aus. Repräsentier die Familie!«
»Mach keinen Unsinn, Junge. Bringst du Besuch mit?«
Da drängte Richard Marschall die Freundin durch die Blumenbeete, und Helga Nuntius stand vor dem alten Pfarrherrn, der, die Weichselrohrpfeife in der Linken, im offenen Fenster lehnte. Ihr Lachen war verschwunden. Sie sah mit ihrem ernsten dunklen Blick zu ihm auf und knickste.
»Seien Sie mir willkommen!« sagte der Pfarrer und unterdrückte seine Verwunderung.
»Eine Kollegin, Papa, Fräulein Nuntius. Bevor sie auszog, um berühmt zu werden, sollte sie den Taunus kennen lernen.«
»Treten Sie ein, mein Fräulein!«
Der alte Herr kam ihnen bis an die Schwelle entgegen. Er war eine hohe aufrechte Gestalt, und seine Gesichtsfarbe war rot und frisch wie die eines Landmannes. Nur die feinen Narben an der Schläfe und eine breitere durch den Mundwinkel, die die Unterlippe ein wenig schief herabzog, zeigten an, daß ihr Besitzer einmal vor langen Jahren auf deutschen Hochschulen den blinkenden Speer geschwungen hatte. Er ging gegen die Siebzig, aber sein Aussehen strafte sein Alter Lügen.
»Es tut mir nur leid, mein Fräulein, daß Richard Sie nicht angemeldet hat,« und er betrachtete staunend den roten Mohn in ihrem brünetten Haar. »Meine Wirtschafterin ist über Land zu einer Kindtaufe. Der Richard hätte sich ja schon in der Speisekammer durchgeschlagen, aber so ein vornehmes Fräulein – –« und wieder hafteten seine Augen staunend an den brennenden Blumen, die aus dem Haar über die Schulter fielen und die feine, feste Büste lose umkränzten.
»Entschuldigen Sie,« murmelte sie und strich die Blumen aus Haar und Gewand.
»Ich bitte, mein Fräulein. Die Jugend kleidet alles.«
»Das hast du bei mir nicht immer gesagt, Papa. Aber ich will mir's merken.«
Der Alte maß seinen Sohn mit einem langen Blick.
»Er ist so glücklich heute, Herr Pfarrer,« sagte Helga Nuntius schnell. »Ob ich wollte oder nicht, ich mußte mit, weil er seinem Vater eine Freudenbotschaft zu bringen hätte.«
»Da bin ich ja gespannt,« meinte der alte Herr zweifelnd, und nun saßen sie im pfarrherrlichen Arbeitszimmer. Von den Wänden blickten stattliche Reihen ehrwürdiger Bücherbände, in den Ecken machten sich uralte Truhen breit, und auf dem geräumigen Arbeitstisch, über dem das Bild einer jungen Frau mit fröhlichen Augen hing, lagen neben Bibel und Gesangbuch Stöße von Broschüren theologischen und religiös-ethischen Inhalts. Aber die Luft war voll von dem Duft der jungen Rosen, die wild ins Fenster hineinrankten. Und Helga Nuntius ließ die Blicke von den jungen Rosen zu dem alten Pfarrer wandern, von dem sie gehört hatte, daß er ein grimmiger Eiferer sei.
»Sie sind noch von meiner Frau,« sagte der Alte und blickte kurz nach dem Bilde hin. »Die war auch die ewige Jugend. Dann starb sie, mitten im Frühling. Der Herr hat's gewollt, und sein Name sei gelobt.«
Das also ist seine Mutter, dachte Helga Nuntius. Er ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Und sie nickte dem verblaßten Bilde heimlich zu.
»Nun, und was ist es mit der Freudenbotschaft? Du hast mich nicht verwöhnt.«
»Meine Oper ist angenommen, Papa. Vom Hoftheater in Weimar.«
»Vom – Hoftheater in Weimar? Du meinst wohl Seckbach oder Butzbach?«
»Ja, da lies mal selber. Vielleicht hab' ich falsch gelesen.«
Der Alte nahm den Brief der Intendanz, sah über das Papier weg seinen Jungen an, schob die Brille auf die Nase und vertiefte sich in das Schriftstück. Er wurde gar nicht fertig mit Lesen. Es war sonderbar, wie lange der rüstige alte Herr brauchte, um die kurze Seite zu studieren. Eine Fliege summte durch das Zimmer, setzte sich auf den Briefbogen und kroch über die Zeilen, ohne daß der alte Herr sie verscheuchte. Da merkten die jungen Leute, daß er längst nicht mehr las.
»Papa – –« sagte Richard Marschall.
»Ja, mein Junge, da werd' ich dir wohl gratulieren müssen. Weimar! Im ersten Ansturm Weimar! Nun triumphierst du wohl über mich.«
»Aber Papa!«
»Und die schöne Dame da soll Zeuge sein.«
»Nein, Herr Pfarrer,« sagte Helga Nuntius leise, »Sie tun ihm unrecht. Ich wäre gar nicht mitgekommen, wenn Ihr Sohn mir nicht von der großen Freude erzählt hätte, die er seinem Vater machen wollte.«
»Das soll wohl sein,« meinte der alte Herr sinnend. Und dann stand er auf und schüttelte dem Sohn die Hand. »Ehrlich bist du, Richard, das weiß ich. Nur leichtsinnig. Ein Weltkind schlimmster Sorte. Aber wenn auch unsere Wege weit auseinandergehen, ich wünsche dir von Herzen Glück zu deinem Erfolg.«
Dann erklärte er, daß er nun in die Küche gehen werde, um ein Studentenmahl herzurichten. Aber die jungen Leute fielen ihm ins Wort: »Das besorgen wir selber! Papa, zeig du Fräulein Nuntius den Garten, damit sie Salat schneiden kann. Ich werde unterdes Kartoffeln braten und einen Schinken zusammensäbeln. Wir haben nämlich einen Wolfshunger.«
Die lange Pfeife im schiefen Mundwinkel, wandelte der Pfarrer zwischen den Rabatten seines Gartens umher und warf von Zeit zu Zeit einen verwunderten Blick auf die schlanke, weiße Gestalt, die mit aufgeschürztem Kleid in den Beeten stand, die Salatköpfe wählte und sie am Steintisch der Laube putzte. Ihm war es so verwunderlich, daß sie ihre Hantierungen alle mit dem unzerstörbaren Ernst beging, der gar nicht zu der Sonne und Anmut paßte, die von ihr ausging. Und sie war doch ein Weltkind wie die anderen, eine der armen Verirrten, die die Straße der Kunst zogen, die unfehlbar zur Sündhaftigkeit und zur Hölle führte!
Er wußte nicht, warum. Aber er fühlte plötzlich ein großes, warmes Mitleid mit der jungen Studiengenossin seines Sohnes.
Während die jungen Leute tafelten, saß er bei ihnen und tat ihnen mit einem Glase Rheinwein Bescheid. Dabei ließ er sich von ihren Plänen erzählen. Als er hörte, daß Helga Nuntius schon im kommenden Winter auf der Bühne zu singen gedenke, kniff er die Lippen zusammen und starrte in sein Weinglas. Er hatte von der Jugend her zu viel Erziehung, als daß er einem Gast gegenüber Mißfallen geäußert hätte. Aber in seinem Gemüt sah es grimmig und streitbar aus, und er mußte häufig das Glas leeren, um die aufsteigende Philippika zu unterdrücken.
»Siehst du, Papa, wir haben ebenso unsere Ideale wie ihr, als ihr jung wart. Bei euch hießen sie Politik, bei uns Kunst und Kultur. Im Grunde ist es dasselbe, nämlich Begeisterung.«
»Was ist aus all den Begeisterten geworden,« sagte der alte Herr, »die Anno achtundvierzig mit mir in der Paulskirche zu Frankfurt am Main gesessen haben, als die deutsche konstituierende Nationalversammlung tagte? Wohin sind sie gekommen ohne das Christentum? Nur wer an der Hand des Herrn wandelt und ohne zu forschen und feilschen an seine Worte glaubt, wie ein Kind an die Worte des Vaters, wird die wahren Ideale haben und unbeschädigt bewahren.«
»Sie haben das große Jahr mitgemacht?« fragte Helga Nuntius.
»Ob es groß war,« erwiderte der alte Pfarrer, »möchte ich doch heute bezweifeln. Damals glaubte ich es. Lieber Gott, waren das Tage. Wenn es in Marburg hieß: Morgen spricht der Ernst Moritz Arndt, oder der Uhland, oder einer der großen Geschichtschreiber Dahlmann, Droysen, oder der Rheinländer Beckerath, den sie zum Reichsfinanzminister erwählten, oder der feurige Robert Blum, den sie in der Brigittenau zu Wien erschossen haben: dann rückten wir aus den Hörsälen aus und schwänzten Kolleg und Fechtboden und saßen in der Paulskirche auf der Empore mit heißen Köpfen und heißen Herzen. Damals war ich ein krasses Füchslein von achtzehn Jahren, und jedes große und laute Menschenwort verfing bei mir. Noch höre ich den Präsidenten der Nationalversammlung, Heinrich von Gagern, dessen Bruder, den General, Heckers Freischaren bei Kandern meuchlings niedergeschossen, seine berühmte Rede anheben: ›Wir sollen schaffen eine Verfassung für Deutschland, für das gesamte Reich. Der Beruf und die Vollmacht zu dieser Schaffung, sie liegen in der Souveränetät des Volkes!‹ Dazumal hielt sich das Volk für souverän, heute das Individuum. Und doch ist nur eine Souveränetät, und sie ist bei Gott. Alles andere ist trauriger Menschendünkel.«
»Laß ihn uns, Vater,« sagte Richard Marschall. »In der Jugend – du hast es ja selbst empfunden – verspürt man ihn nicht als traurig, sondern als Ansporn. Wer sich nichts dünkt, hat kein Vertrauen zu sich. Und wie soll die Welt an einen glauben, wenn man es selbst nicht einmal tut. Die Erfahrungen aber, Vater, die können wir nicht als Erbteil übernehmen, die muß sich ein jeder für sich selbst erwerben. Um sie zu besitzen. So hat es auch Goethe gemeint.«
»Sind Sie auch der Ansicht, mein Fräulein?« wandte sich der Alte an das sinnende Mädchen.
Helga Nuntius schlug den Blick zu ihm auf.
»Ich habe noch keine Erfahrungen,« erwiderte sie, »da ist es so schwer, zu sprechen. Ich habe nur Hoffnungen …«
»Lassen Sie es an der rechten nicht fehlen,« sagte der alte Pfarrer und reichte ihr die Hand. Und dann sprach er über Musik. Von dem herrlichen, naiven Bach und dem gewaltigen Riesen Händel.
»Ich verstehe die heutige Musik nicht mehr, obwohl ich mich meines Sohnes wegen mit ihr beschäftigt habe. Mir will immer scheinen, als ob die modernen Komponisten sie um ihrer selbst willen schüfen, um mit Fingern auf sich selbst zu zeigen, nicht aber um der Erbauung der Allgemeinheit willen. Ja, wenn die Kunst nur noch für die Leute vom Fach da sein soll, l'art pour l'art, wie der Kampfruf heißt, so nimmt man ihr ja gerade das Umfassende, das, was ihr die unbeschränkte Macht verleiht, und degradiert sie zu einem Spezialfach. Dann kommen die Intellektuellen und schlagen das Letzte von Ursprünglichkeit mit Verstandes- und Vernunftgründen tot. Und das Herz friert.«
»Das kann nicht wahre Kunst sein, wenn nur der Kopf spricht und nicht das Herz,« sagte Helga Nuntius. »Wo wir glauben, dort treiben wir doch keine Wissenschaft.«
»So halte ich es mit der Religion,« schloß der alte Pfarrer und warf einen grimmigen Blick auf die Broschüren, die seinen Schreibtisch bedeckten. »Man spielt mit dem lieben Gott nicht Fangball, nur um die eigenen schlauen Gedanken in die Welt zu spedieren, die morgen von noch viel schlaueren übertrumpft werden.« Und dann wandte er sich mit echter Kinderfreude an seinen Sohn und schmunzelte: »Ich habe die neue Orgel durchgesetzt. Sie ist schon aufgebaut.«
»Papa, dann müssen wir sofort in die Kirche.«
Darauf hatte der rüstige Herr nur gewartet. Er erhob sich, nahm die Kirchenschlüssel vom Haken und ging vorauf.
Helga Nuntius stand im Kirchenschiff allein. Sie ließ die Blicke durch die geschnitzten Stuhlreihen zu der kleinen, hochschwebenden Kanzel wandern und zu dem breiten Altartisch, über dem in Sandstein roh ausgehauen die Reliefs alter Adelsfamilien prangten. Und als sie den Blick senkte, gewahrte sie auf den Steinfliesen zu ihren Füßen Kreuze und verwitterte Namen und Sprüche und wußte, daß es Grabsteine waren, die man, so oft der Friedhof erneuert werden mußte, an diese heilige Stätte brachte, während die Körper der Entschlafenen längst der Erde anheimgefallen waren. Durch das offenstehende Oberlicht des großen, bunten Kirchenfensters brach eine Garbe weißer Sonne in das kühle Dämmer, und mitten in der Garbe stand Helga Nuntius wie eine fremde Erscheinung, und die reinen Linien ihres schlanken Mädchenleibes erschienen wie von der stilisierenden Hand eines alten Meisters aus der Botticellischule auf lichten Hintergrund gemalt.
Richard Marschall machte seinen Vater auf der Orgel darauf aufmerksam.
»Schade,« sprach der alte Herr vor sich hin und begann die Register zu ziehen. Jetzt war er bei Händel zu Gast. Und während der Sohn die Funktionen des Blasbalgtreters übernahm, ließ er die Töne ausströmen und den Hymnus an den Erlöser in breiten Schallwellen durch die kleine Kirche ziehen. Und mitten in die Orgelklänge hinein hob Helga Nuntius ihre Stimme:
»Wenn Verwesung mir gleich drohet, wird dies mein Auge Gott doch sehn …«
Und die Stimme schwoll an zu seliger Hoffnungsfreudigkeit:
»Denn Christ ist erstanden!«
Der orgelkundige Pfarrherr spielte in alten, verschlungenen Variationen weiter. Aber sein Auge irrte von der Orgel seitabwärts zu dem begeisterten Mädchen im Kirchenstuhl, das alle Sonne auf sich zog, und seine Gedanken schweiften zurück bis gen Marburg, die jugendfrohe Studentenstadt, und er sah sich als junges, rasches Blut in Mütze und Band durch die Straßen ziehen, um zu suchen, wo die Allerschönste wär' …
Es war heilige Musik, die er spielte, aber die Musik war stärker als die Heiligkeit, denn die Musik war die ewige Jugend.
Als er zwischen den jungen Leuten einherschritt, um in der Jasminlaube den schnell gebrauten Kaffee zu trinken, war er ein anderer. Er tauschte mit dem Sohne, der aus München das Burschenband heimgebracht hatte, fröhliche Studentenerinnerungen aus, summte ihnen mit seinem tiefen Baß die Weisen vor, die zu seiner Zeit im Schwunge gewesen waren, und wollte unbedingt vor dem Abschied noch eine Flasche mit ihnen leeren.
Aber Richard Marschall, der stiller und stiller geworden war, drängte plötzlich zum Aufbruch.
»Es braut sich was zusammen, Papa. Wenn wir vor dem Gewitter noch den Eppsteiner Bahnhof erreichen wollen, wird es hohe Zeit. Wir haben noch eine gute Stunde durch den Wald zu marschieren.«
Da brachte er sie bis zur Talschlucht und stand noch lange und blickte ihnen nach, wie sie auf jungen Füßen zurückschritten in die Welt.
An diesem Abend las der alte Pfarrherr zum ersten Male nicht in seinen theologischen Schriften. Er kramte in der Truhe, die er noch aus seiner Jünglingszeit besaß, und was er hervorkramte und auf seinen Schreibtisch trug, waren verschossene Burschenbänder, vergilbte Blättchen mit Silhouetten und ein paar raschelnde Sträußchen vertrockneter Blumen. Als die Wirtschafterin am späten Abend heimkehrte, fand sie ihren Pfarrer wie gewöhnlich am Schreibtisch, aber er hatte eine geleerte Flasche Rüdesheimer vor sich und hielt das Bild seiner Frau in den Händen, das Jahre hindurch nicht vom Nagel gekommen war … Die hatte er sich auch aus der Welt mitgebracht, und ihre sinnenfrohe Weltlichkeit war in dieser Abgeschiedenheit sein einziges Menschenglück gewesen. Heute, mit einem Male, wußte er, daß es das gewesen war …
Als Richard Marschall mit Helga Nuntius den Wald erreicht hatte, warf sie ein jäher Windstoß aneinander.
»Das Wetter ist da,« murmelte der junge Mann, packte fest die Hand seiner Gefährtin und schritt schneller aus.
Der Wald hatte sich verdunkelt. Die schwarzen Wolken, an den Rändern grell beleuchtet, hingen so dicht über den hohen Kronen der Bäume, als hätten sie sich in dem Gezweig verfangen. Dann kam ein neuer Windstoß heulend dahergefegt, riß das Reisig ab und jagte die Wolken auf, daß sie wie die Fetzen eines geplatzten Ballons um die Baumkronen wirbelten. Und unter Blitz und Donner öffneten sich die Schleusen des Himmels.
Richard Marschall hatte schnell den Plaid aufgewickelt und ihn um Helga Nuntius' Schultern geschlagen. Aber sie bestand darauf, daß er sich mit schütze. Das Tuch wäre groß genug für zwei. Da schritten sie Schulter an Schulter, zusammen in dasselbe Tuch gehüllt, durch den tobenden Wald.
»Ängstigen Sie sich?« fragte er unter dem Tuch hervor.
Und sie antwortete mit einem Kopfschütteln.
Da begann er plötzlich von seiner Jugend zu erzählen: »Ich will mich nicht besser machen, als ich bin. Ich habe Schulden und habe Liebschaften. Aber ich will jetzt aus allem heraus. Das verspreche ich Ihnen.«
»Weshalb versprechen Sie mir das? Ich bin traurig, daß Sie so ein Leben führen. Nun aber bereuen Sie es ja.«
»Bereuen?« wiederholte Marschall. »Nein, bereuen tu' ich nicht.«
»Nicht? Ja, was denn?«
»Ach, Fräulein Helga, wie könnt' ich das bereuen, das mir Lebensfreude und Lebenserkenntnis schuf. An dieser Lehrzeit kommt keiner vorbei, oder er verspürt später ein Unfertiges in sich und wird zu einer Zeit noch Lehrling, wo es ihm nicht mehr steht. Fräulein Helga, ich bedaure nichts. Denn aus dieser wilden Jugend werd' ich als Mann noch schöpfen, wenn die Philister um mich her dürsten. Und auch meine Kunst wird sie jung halten. Ich weiß, was Frische heißt, und kann aus dem Vollen schöpfen.«
»Weshalb wünschen Sie denn, aus dem allen herauszukommen?«
»Weil alle Wanderjahre ein Ende haben müssen, will man nicht Vagant werden.«
»Nur deshalb?«
»Nein,« sagte er mit ganz ruhiger Stimme, »nicht darum nur. Weil ich Sie liebe. Das ist es.«
Aus einem Kreuzweg heraus packten Wind und Regen sie mit verdoppelter Gewalt. Sie standen fest aneinandergelehnt gegen die Gewalt des Sturmes. Dann antwortete Helga so leise, daß er kaum ihre Stimme vernehmen konnte: »Weil Sie mich lieben …«
»Weil ich dich über alles liebe. Mehr als meine Heimat, mehr als meine Kunst.«
»Man kann nichts stärker lieben als seine Kunst.«
»Helga, Mädel, wach auf! Das Leben ruft!«
»Das Leben, wie Sie es kennen. Das erschreckt mich.«
»Weil Sie es nicht kennen.« Er mußte seine Stimme gegen den Lärm des Waldes erheben. »So denken Sie doch nur an den wundervollen Morgen, an den raunenden Wald und die singende Heide. Da haben Sie doch, da müssen Sie doch Ihr Herz verspürt haben.«
Wieder brauste ein Wind um die Stämme. Dann verlor er sich in fernem Gewinsel. Helga Nuntius erschauerte unter dem regenschweren Tuch.
»Ist es noch weit?« fragte sie fröstelnd. »Ich ängstige mich.«
»Helga, ich hab' dich lieb …«
Da merkte er, daß sie weinte.
»Still, still; nicht das,« sagte er mit einer Milde, die ihm sonst fremd war. »Ich werde ganz einfach auf Sie warten.«
Sie schüttelte den Kopf. »Tun Sie das nicht, Herr Marschall. Es würde – es würde Sie enttäuschen. Und dazu – hab' ich Sie zu gern. Ich will meiner Kunst leben, ich darf mich nicht zersplittern. Wir beide – passen wirklich nicht zueinander, so gern wir uns auch mögen. Sie sind das Leben, das starke, gesunde Leben. Ich spür' ja jetzt schon, wie mich das ablenkt. Ich bitte Sie herzlich, lassen Sie mich!«
»Fräulein Nuntius, der Gottesfriede der Kunst ist eine Illusion, und das Leben läßt sich nicht spotten.«
»Ich muß meinen Weg gehen, wenn ich mich nicht verlieren soll.«
»Ich werde warten,« wiederholte er nur.
Und sie schritten schweigend und grübelnd aus dem Wald, in den sie am Morgen singend und sorgenlos eingezogen waren.
Als die Bahn sie nach Frankfurt zurückgebracht hatte und sie vor Bettermanns Haus Abschied voneinander nahmen, deutete Richard Marschall ernst nach dem Grubeshof.
»Es steht schlecht da oben. Er liegt schon seit acht Tagen und soll tiefste Ruhe haben. Die Lungen sind hin. Ich will zu ihm hinaufgehen, ich bin die richtige Gesellschaft.«
»Herr Marschall – –«
»Fräulein Nuntius?«
»Werden – werden wir ihn verlieren?«
»Aber Sie sagten doch selbst: die Hauptsache ist, daß wir uns nicht verlieren. Was liegt an den anderen.«
Da senkte sie den Kopf und ging ins Haus. Und Richard Marschall schritt hinüber zum Grubeshof und stieg festen Fußes die Treppen hinauf zu dem schwer ringenden Freunde.
Der hob sich horchend in den Kissen, blickte seine Schwester Johanna an und sagte lächelnd: »Da kommt das Leben.« – –