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2.

»Verehrte Freundin, sehr verehrter Freund,« las Robert Braun, blickte vom Briefbogen auf und sah mit überlegenem Lächeln auf seine Frau, die mit leiser Hand den Teetisch ordnete und die dünnen chinesischen Tassen füllte. »Hörst du mir zu, Helga? Dein alter Courmacher schreibt.«

»Mein alter Courmacher? Wer möchte das sein?«

»Der Herr Hofkapellmeister Marschall. Aber eine Verfeinerung seiner Lebensart scheint auch die Hofluft nicht bewirkt zu haben.«

»Ist der Brief so schlecht stilisiert?«

»So hör doch nur die Anrede. ›Verehrte Freundin, sehr verehrter Freund.‹ Die stärkere Höflichkeitsform kommt doch der Dame zu, das könnte er wohl mittlerweile gelernt haben.«

»Schreibt er das wirklich?« sagte Helga, und während sie die kleinen glühenden Holzkohlen im Samowar neu aufschichtete, hatte ihr feines Frauengefühl längst verstanden, was die Unterscheidung besagen sollte. »Verehrte Freundin.« Das war schlichtweg, dem war nichts hinzuzusetzen. Das war zurückhaltend und hatte doch den vertrauten Klang der Jugendfreundschaft von einst. Sie war ihm in der Erinnerung die gleiche geblieben, während er für den langjährigen Studiengenossen der Konservatoriumszeit nur die höflichere und damit die fremdere Anrede fand.

»Wenn du gestattest, werde ich den Brief nach dir lesen.«

»Bitte sehr!« Und Robert Braun überflog die Seite, reichte das Briefblatt seiner Frau und wandte sich dem Frühstück zu. Helga aber lehnte sich in ihren Stuhl zurück und las langsam Zeile für Zeile:

 

»Verehrte Freundin, sehr verehrter Freund! Der Kunst sei gedankt! Wäre sie nicht, die große Vermittlerin, wie lange noch wäre wohl ein Wiedersehen hinausgeschoben! Morgen abend treffe ich in Hamburg ein, um übermorgen der Generalprobe meiner ›Hadwiga‹ beizuwohnen und mich am nächsten Tage, dem Tage der Erstaufführung, mit möglichst viel Haltung dem Argusungeheuer Kritik und einem verdauungssüchtigen Publikum männlich zu stellen. Was der Abend mir bringt, weiß weder Kritik noch Publikum. Ich aber bin im Vorteil, denn ich weiß es schon heute. Er bringt mir das Wiedersehen mit meiner Jugend, das jedes Schicksal meiner Oper aufwiegt, das Wiedersehen mit Ihnen, verehrte Freundin, und das Wiedersehen mit dem Glück, personifiziert in Robert Braun. Die Musik mag den Rahmen dazu abgeben. Das ist alles, was ich von ihr verlange. Und nun lassen Sie sich danken, daß Sie sich gewinnen ließen, meiner ›Hadwiga‹ die Ehre Ihrer Unterstützung zu schenken. Das ist für mich ja so gut wie ein moralischer Sieg. Ich ersehe daraus mit einer stillen und starken Freude, daß Sie an mich glauben. Jetzt ist es nicht mehr die Sucht nach eigenem Ruhm, die mich einen großen Erfolg der Oper herbeiwünschen läßt, sondern das innerliche Verlangen allein, Sie nicht enttäuscht zu haben. Übermorgen hoffe ich, Ihnen, verehrte Freundin, in Dankbarkeit die Hand schütteln zu können, nachdem ich heute noch einmal das alte Frankfurt durchwandert habe. Und Dir, mein kampfbarer Genosse vergangener Jahre, danke ich nicht minder. Man braucht Dir nicht Glück zu wünschen zu allen Deinen Großtaten. Du würdest heimlich lachen, weil Du Dir das Glück nicht mehr von draußen zu holen brauchst. Also keine Glückwünsche, sondern nur die herzlichsten Grüße.

Ihr getreuer Marschall.«

 

Helga Braun blickte in Gedanken verloren auf das Blatt. Es stand etwas zwischen den Zeilen, was sie zum Nachdenken zwang …

»Nun? Was sagst du zu dem Brief?« fragte Braun, und sie hob den Kopf und sah ihn an.

»Er scheint mir sehr schön,« sagte sie einfach.

»Ein bißchen pointenreich kam er mir vor. Hast du das nicht bemerkt?«

»Vielleicht erklärst du mir …«

»Nimm nur den Schluß. Ich brauchte mir das Glück nicht mehr von draußen zu holen. Was will er damit sagen, wenn er nicht geradezu aufdringlich ist?«

»Ach, lieber Robert, er ist ja so gänzlich unverheiratet.«

»Bitte, das klang ja beinahe wie Spott – –?«

»Dann träf es mich doch so gut wie dich. Nimm an, er sei ein Schwärmer, und laß deinen Tee nicht kalt werden. Das ist praktischer.«

»Liebe Helga, auf den Ton wollen wir uns doch nicht stellen.«

»Nein, lieber Robert, das haben wir nicht mehr nötig.«

Er zog einen kurzen Augenblick die Brauen hoch. Dann führte er die Tasse zum Mund. »Übrigens – Schwärmer! Daß er in dem alten Nest aussteigt, nur um sich von den Baracken ein bißchen sentimental machen zu lassen, das ist ja das ausgesprochene Komödiantentum. Moralischer Sieg! Wiedersehensfreude! Glaub's schon! Weil ihm dies Wiedersehen mehr Füchse einträgt. O bitte, fahre nur nicht auf! Dein Freund Marschall kocht so gut mit Wasser wie ich. Und wenn ich weiß, warum ich noch eine Woche in Hamburg bleibe, nämlich weil die Oper ein paar Bombenrollen hat, mit der wir überall reüssieren werden – für Amerika ist sie jetzt schon erworben – so weiß dein Freund Marschall ebenso genau, weshalb er uns mit schönen Redensarten einwickelt, nämlich – weil er wieder von unseren Namen sich Zugkraft verspricht.«

»Was ich an dir schätze, Robert, ist deine ungeschminkte Ehrlichkeit.«

»Besten Dank! Ich bin mit meiner Lebensanschauung noch nicht schlecht gefahren.«

»Siehe Scheckbuch,« pflichtete sie ihm bei, und dann strich sie sich in einem plötzlichen Impuls mit beiden Händen über die Schläfen. »Aber die Menschen sind nicht alle wie du und deine Lebensanschauung.«

»Zu ihrem eigenen Schaden. Wenn sie es wären, würden sie weiter sein.«

»Weiter in der Kälte,« sagte sie leise, und sie empfand ein merkwürdiges Frostgefühl in den Schultern.

»Frierst du, Helga?«

»O schon lange; du hast es nur nicht bemerkt.«

»Dies verwünschte Hamburger Nebelwetter. Dem hält ja keine Stimme stand, geschweige denn eine Stimmung.«

»Robert,« sagte sie nach einer Pause, »ehrlich, leidest du wirklich auch einmal unter Stimmungen?«

Robert Braun erhob sich und reckte sich.

»Ja, Kind, was du darunter verstehst« – er lachte – »es wird dich ärgern, wenn ich weiterspreche, aber für mich als kaltblütig denkenden Menschen gibt es nur Realitäten. Stimmungen habe ich demgemäß nicht, wohl aber zuweilen Verstimmungen. Wenn sich zum Beispiel die Anträge drängen und wir sollen am selben Abend hier und auch dort sein und können doch nur an einem Orte singen, so verstimmt es mich, daß da wieder verschiedene Tausende nicht für mich sind, die doch für mich hätten sein können.«

»Ist das Bankkonto denn immer noch nicht hoch genug?«

»In fünf Jahren. Dann wollen wir uns wieder sprechen. Dann ist eine ersparte Million rund.«

»In fünf Jahren« – – wiederholte sie, und sie blickte auf den Briefbogen, den sie immer noch in den Händen hielt, und glättete das Papier auf ihrem Knie und zeichnete mit dem Finger die Buchstaben nach.

»In fünf Jahren!« – –

Und sie dachte daran, daß es sich in diesen Tagen auch zum fünften Male gejährt hatte, daß sie Robert Brauns Frau geworden war, und alle Etappen ihrer Lebensreise von jener Stunde an bis zur heutigen zogen in scharfen Bildern an ihrer Seele vorbei. Es waren keine dunklen Bilder, sie waren so hell beschienen, wie sie nur Auserwählten beschieden sind, aber es war nicht Sonne, es war blendendes Rampenlicht oder die strahlenden Lichter hoher Gesellschaftsräume, was diese Bilder so hell erleuchtete. Es war das Licht der Kunst.

Das Licht der Kunst, das sie in ihren Mädchenträumen ersehnt hatte …

Dann war sie Weib geworden, und sie blickte, wie ein Weib es tut, nach der Sonne aus. Aber Robert Braun hatte keinen Sinn für die Sonne. Der Tag schien ihm nur eine unwillkommene Unterbrechung der strahlenden Abende, an denen er auf der Bühne stand oder auf dem Podium und sich inmitten der glühendsten Szene, des berauschendsten Liedes bewußt blieb: jeder Ton, den du singst, ist Goldes wert. Es war ein großer, aufwärtsdrängender Zug in ihm, der zur Bewunderung trieb und den auch sie bewunderte. Ein Zug jener kalt wägenden und kalt wagenden Erwerbergröße, die unermüdlich und unerbittlich fortschreitet, nichts als das Ziel im Auge, auf das er schon aus der Ferne die Hand gelegt. Und jeden Erfolg, den seine Frau mit ihm errang, sah er als einen Doppelsprung an auf dem klar gezeichneten Wege.

Erfolg – Erfolg! Das war das Wort, das im Hause Braun das Wort »Glück« ersetzte.

Im Hause Braun? O nein, dachte Helga, das wäre ja schon so viel wie ein kleines Glück. Aber wir haben kein Haus. Und so wenig unsere Füße zur Ruhe kommen, so wenig können unsere Empfindungen eine Heimat finden. – Eisenbahnwagen, Hotels, unpersönliche Wohnungen in Privathäusern, wenn's hoch kam, auf ein paar Monate gemietet. Und wieder weiter! Dreimal hatte sie die Überfahrt nach Amerika gemacht, alle großen Städte des Kontinents waren ihr bekannt, die Badeorte von Ruf ihr vertraut, und in ihrem Herzen und dem Herzen ihres Gatten war sie nicht zu Hause. Nur in ihrem und seinem Hirn, das mit Noten angefüllt war und mit Zahlen.

Erfolg – Erfolg!

Und sie blickte, wie ein Weib es tut, nach der Sonne aus. Heimlich erst und ohne klares Bewußtsein dessen, was die raunende Stimme in ihr denn eigentlich verlangte, durch die Hand, die sie über die sinnenden Augen gelegt hatte, dann durch ein Zipfelchen des Vorhangs oder hinter der Gardine stehend, bis sie auch diese hinwegschob und, die Stirn an das kalte Glas gelehnt, mit weitgeöffneten Augen hinausschaute in das Leben, das die anderen lebten. So war es geworden, Tag um Tag.

»Fühlst du dich wirklich nicht wohl, Helga?«

»Ich kann nicht warm werden. Das ist ein unerklärliches Gefühl.«

»Wenn du es wünschest, schick' ich dir den Arzt her.«

»Es ist nichts für den Arzt.« Und sie griff nach seiner Hand, die er auf ihre Stuhllehne gelegt hatte, und faßte sie fest und sagte mit tiefem Atemholen: »Du kannst mir helfen, Robert.«

»Ich –? Aber Kind, das ist doch selbstverständlich. Nur – ich, ich bin doch kein Arzt!«

»Nein, aber du bist mein Gatte.«

»Dein Gatte –? – – Wie soll ich das in diesem Zusammenhang verstehen?«

»Robert,« brach es aus ihr hervor, »ich komme mit mir nicht mehr aus. Ich lebe in der Ehe und bin doch mutterseelenallein.«

»Kind, Kind,« beruhigte er sie, »was sind das für Kleinmädchengefühle.«

»Ach Gott, ein kleines Mädchen sein!«

»Helga, Helga, du hast deine Kunst! Leute wie wir haben damit ihren Lebensinhalt.«

»Wer sagt dir denn, daß ich zu den Leuten wie ihr gehöre? Ich bin doch eine Frau, eine Frau! Verstehst du das nicht?«

»Du bist vor allen Dingen Frau Helga Braun-Nuntius. Mit anderen Worten: eine Sängerin von Namen.«

»O ja, das ist sehr schön, aber es ist nicht alles.«

»Es ist alles,« sagte er, drückte ihre Hand und ging zur Tür, um sein Ankleidezimmer aufzusuchen.

»Robert!« rief sie ihm nach, und dann stand sie vor ihm und legte ihm beide Arme auf die Schultern. »Ich komme ja zu dir als meinem Gatten. So hilf mir doch! Ich kann das Leben so nicht mehr ertragen. Ich bin abgehetzt. Innerlich. Wenn du da hineinsehen könntest. Ich selbst sehe ja nichts, wenn ich hineinsehe. Das ist ja das Trostlose. Du hast mich zur Frau gemacht, ich war jung und bin an der Jugend vorübergegangen, bis du kamst. Du hättest sie mir bringen sollen, Robert, du hättest sie mir aufnötigen, auftrotzen müssen. Damit ich nicht eines Tages aufwachte und etwas vermißte. Nun höre ich immer etwas hinter mir herlaufen, Schritte, die mich nicht erreichen können, weil wir immer vor ihnen auf der Reise sind. Robert, laß mich diese Schritte endlich einmal erwarten, laß mich doch endlich einmal fühlen, daß wir nicht nur Künstler, daß wir auch Menschen sind. Junge Menschen …«

Er war verwirrt von dem Ausbruch ihrer Frauennatur. Darin fand er sich nicht zurecht. Und dann hielt er es für eine Weiberlaune. »Was möchtest du denn, Helga?« fragte er unsicher.

»Einmal mit dir an das Leben denken, eine Zeitlang, nur an uns und nicht an die Kunst.«

»Kann es denn ein größeres Leben geben als das in der Kunst?«

»Ja, Robert, es kann. Sonst wäre nicht diese quälende Sehnsucht in mir. Ich möchte nach fünf Jahren Hasten und Jagen einmal zur Ruhe kommen, mich einmal auf die Helga Nuntius besinnen und was ihr nottut. Was hab' ich denn von dir gehabt? Wenn ich als lebensfremdes Geschöpf dir in die Ehe folgte, als ginge es in ein seltenes zwingendes Musikstück, so laß mich unter meinen kindischen Mädchenphantasien doch nicht leiden. Die Frau ist in mir später erwacht als bei anderen, glücklicheren Naturen. Und sie sieht sich nach der Jugend um, Robert. Ich komme ihr ja ferner und ferner.«

»Hast du über mich und mein Verhalten Klage zu führen?«

»Nein,« sagte sie langsam und löste ihre Hände von seinen Schultern. »Ich kann mich nicht beklagen, denn ich bin dir freiwillig in dies Leben gefolgt, das ich ja auch als das größte ansah. Aber jetzt erblicke ich das alles ganz anders. Ich war unfertig damals, und die Musik hielt mich im Bann, daß ich nichts anderes wußte und fühlte als die Musik. Das ist ja alles so schön. Aber sie muß doch auch für den Menschen in uns etwas übrig lassen. Wir müssen doch auch einmal lachen können und schwärmen und wir selbst sein, ohne daß wir dabei nach dem Taktstock blicken müßten.«

»Ich habe die Helga Nuntius geheiratet wie sie war, nicht wie sie jetzt ist.«

»Sonst – sonst weißt du mir nichts zu antworten?«

»Die Frau die ich heiratete, mußte Künstlerin sein. Ich war damals nicht unfertig, ich kannte meinen Weg.«

»Das muß etwas anderes sein bei einem Mann und einer Frau,« sagte sie vor sich hin. »Ihr geht einem bewußten Plane nach, weil ihr das Leben kennt, und wir handeln wohl zu sehr nach unseren Empfindungen, weil wir es nicht kennen. Bis – bis wir es kennen.«

»Nun siehst du, Helga, wir haben uns doch nichts vorzuwerfen.«

»Nein,« wiederholte sie noch einmal, »ich kann mich nicht beklagen. Bis heute nicht, wo ich mit dir gesprochen habe. Aber das ist es: ich möchte mich nun auch nicht eines Tages zu beklagen haben, oder mich selbst anklagen müssen.«

»Du bist nervös,« sagte Braun und strich ihr über das Haar. »Das wird sich wieder geben, wenn wir erst auf See schwimmen. Die acht Tage Überfahrt nach Neuyork werden dir die kleinen, sentimentalen Grillen vertreiben.«

»Robert,« bat sie, »bring mir ein Opfer! Wir sind doch Mann und Weib, und einer muß dem anderen helfen. Ich habe dir doch geholfen, mit allem, was in mir war. Es ist nichts übrig geblieben. Nun hilf du mir! Ich bin krank nach der Heimat und einem Heim. Ich habe so viel nachzuholen. Und wenn ich das erst in mich aufgenommen habe, dann werde ich auch das Glück in mir spüren, und das Glück wird mich noch ganz anders singen lehren als jetzt das Talent. Ich bitte dich, Robert!«

Robert Braun sah sie kopfschüttelnd an. »Du bist wirklich krank, Kind. Sonst würdest du mir nicht zumuten, Amerika aufzugeben und die Konventionalstrafe noch obenein zu zahlen. Ich glaube wahrhaftig, der Brief ist schuld.«

»Der Brief! … Das war ja schon so lange in mir, bevor es den Mut zu Worten fand.«

»Also kurz und gut, Helga, Unklugheiten, die Geld kosten, werden nicht begangen!«

»Es handelt sich nicht um die Konventionalstrafe. Jeder Arzt wird uns ein Attest ausstellen, daß wir übermüdet sind und unbedingter Schonung bedürfen.«

»Ich bedarf der Schonung nicht. Außerdem: Ich bin kein Schäfer, ich bin Robert Braun. Und der gedenke ich zu bleiben. Das ist die Marschroute für uns alle beide. Und nun geh oder fahr ein wenig spazieren! Es ist keine Probe heute, da will ich mir einmal das Getriebe auf der Börse ansehen. Der Mensch soll lernen, wo er kann, und nicht untätig sein wollen, du kleine Schäferin. In fünf Jahren vielleicht. Und nun gib mir einen Kuß und Adieu!«

»In fünf Jahren vielleicht,« sprach sie ihm nach, als er gegangen war. »In fünf Jahren werde ich nicht mehr die Energie haben, die dazu gehört, jung zu sein wie die anderen.«

Das ist ein Fluch! schrie es in ihr. Die gefeierte Helga Braun-Nuntius ist ein Fluch! Ach, diese gefeierte Frau einmal abstreifen können und nichts sein, nichts, nichts, nichts als ein stilles, glückliches Eheweib. – –

Sie wanderte durch die Zimmerflucht, die sie für die Dauer des vierwöchigen Gastspiels hier draußen an der Außenalster gemietet hatten, in einem kleinen weißen Gartenhaus, das jetzt von herbstzerzausten Kastanien umstanden war. Und sie überblickte die Räume, in denen ihr nichts gehörte als eine Anzahl Bilder, an die sie ihr Herz gehängt hatte, und die sie immer mit sich schleppte, von Stadt zu Stadt, um doch ein paar Flecken an den fremden Wänden zu haben, die ihr gehörten. Manche waren ihr von bekannten Malern verehrt worden, einige hatte sie hinzugekauft. Und diese deutschen See- und Heidebilder, die Kornfelder, Berge und Täler waren für sie die Ausflüge ihrer Seele.

Sie war ruhig geworden und verließ das Haus. Die Sonne kämpfte den Nebel nieder, der die Straßen erfüllte, und vermochte sie auch nicht zu wärmen, so brachte ihr Licht doch den Schein der Wärme. Sie ging den Uhlenhorster Weg entlang nach dem Schwanenwik und nahm die Straße an der Alster. Und nach einiger Zeit vermochte sie sich der Schönheit des Bildes zu freuen. Glatt und blank lag die weite Wasserfläche, und die weißen Segelboote kreuzten lustig vor dem Winde hin und her. In schlanken Vierern übten die Mannschaften der Rudervereine, und die Kommandorufe des Trainers drangen hell und scharf ans Ufer. Durch das Gewimmel der kleinen Kähne und der Scharen weißer Schwäne sausten die Verkehrsdampfer nach den Anlegestationen, und durch die Pfeiler der Lombardsbrücke zwängte sich gemächlich eine schwere, kohlenbeladene Schute wie ein Zeichen, daß auch das von Luxus überstrahlte Alsterbecken keine Ausnahme von Hamburger Art, der Arbeit, mache.

Helga Braun hatte die Lombardsbrücke erreicht, und nun stand sie und schaute nach den Ufern der Außenalster, die von hundertjährigen Baumriesen, Eichen und Rüstern, bestanden waren, durch deren Gezweig die Villen blickten, die Hamburger Kaufherren hier inmitten verschwiegener Gärten errichtet hatten. Wenn sie sich umwandte, blickte sie auf die Ufer der Binnenalster, auf den Alten und den Neuen Jungfernstieg, die Schlagadern der Handelsmetropole, durch die das Leben der internationalen Welt brauste. Nur eine Brücke schied den Lärm des Lebens um den Erwerb von der stillen Abgeschlossenheit, in der die Vorkämpfer, wenn es Abend ward, den Frieden suchten, die neue Kraft und das Glück. Nur eine Brücke …

Das kam ihr in den Sinn, als sie die Blicke von einem Ufer zum anderen Ufer schweifen ließ. Die Brücke! Eine solche Brücke sich zu schaffen, die nach hüben und drüben führt, aus der Einsamkeit ins Leben und aus dem Leben zurück in die Verschwiegenheit, die das Lachen des Glückes nicht aus dem Haus läßt, nicht über den Zaun des Gartens hinweg in die Ohren aller.

In diesen Gärten mußten Brunnen sein, Jungbrunnen!

Ihre Blicke klammerten sich an den Gärten fest, und eine lächelnde Verträumtheit glitt um den feinen Frauenmund, dessen Lippen die Farbe sehnsüchtiger blasser Rosen trugen.

Beim Pavillon des Jungfernstiegs pfiff schrill ein Dampfer. Sie wandte sich um und sah in ein drängendes Menschengewühl. Da ging sie weiter. Über die breite Esplanade zum Stadttheater.

Es war Probe zum »Troubadour«. Einer jungen Sängerin wegen, die zum ersten Male die Leonore sang, Orchesterprobe. Leise öffnete Helga die Tür zum Zuschauerraum und suchte sich in der Dunkelheit einen Platz, um ein paar Takte lang zuzuhören. Nur das Orchester und die Bühne waren beleuchtet. Die Gestalt des dirigierenden Kapellmeisters ragte gespenstisch in den leeren Raum hinein. Durch die Stuhlreihen des Parketts huschten Putzfrauen, um mit hastigen Griffen die Lehnen zu polieren; in den Logen hantierten ein paar alte Weiber, um aus den Polstern den Staub herauszubürsten. Auf der Bühne stand ein junges Mädchen im Straßenkostüm und ein Herr in einer dicken Joppe. Man war bei der zweiten Szene des vierten Aktes angelangt. Die Probe stand bei dem großen Duett zwischen Leonore und Graf Luna.

»Ruhig, ruhig da oben!« schrie der Kapellmeister und klopfte dem Orchester ab. »Ich weiß ja, daß Sie kein Gehör haben, Fräulein, aber ich dachte, das fehlte Ihnen nur für die Musik. Wenn ich ›ruhig‹ hinaufschreie, so dürften Sie das schon vernehmen! Also – es war einfach schauderhaft.«

»Herr Kapellmeister,« sagte das junge Mädchen und warf einen gehetzten Blick in das Orchester, »würden Sie wohl die Freundlichkeit haben, mir zu sagen, wo ich den Fehler begangen habe?«

»Wo?« rief der Kapellmeister ironisch zurück. »Wo Sie den Fehler gemacht haben? Ja, wenn Sie noch fragen wollten, wo Sie's richtig gemacht haben, dann könnt' ich Ihnen die Antwort vielleicht geben. Noch mal von vorn! Aber bitte ganz gehorsamst etwas mehr Interesse, Fräulein. Wenn Ihnen nichts an der Rolle gelegen ist, sagen Sie's gleich, dann ist die Quälerei zu Ende, und wir geben die Leonore einer anderen.«

»Aber ich freue mich ja so furchtbar über die Rolle,« lächelte das Mädchen, und die hellen Tränen der Angst standen ihr in den Augen.

»So? Na, dann drücken Sie Ihre Freude gefälligst im Gesang aus. Achtung!« Und er klopfte auf das Dirigentenpult.

Der Sängerin schien die Stimme erstickt zu sein. Dann aber sah Helga Braun, wie sie alle Willenskraft zusammenraffte und tapfer einsetzte: »In deiner Nähe! … Du siehst es! … Dem Tode nah ist schon der Teure« …

»'raus mit der Stimme!« rief der Kapellmeister dazwischen. »Ich versteh' nichts.«

Und das junge Mädchen oben auf der kahlen Bühne sang immer tapferer ihr »Erbarmen, Erbarmen!« und ihr schönes frisches Organ gab bis zum letzten Takt des Duetts so sehr alle Seelenregungen wieder, daß Helga Braun den Herrn in der dicken Joppe, der mit der Prätension des älteren verwöhnten Bühnenmitglieds den Grafen Luna nur markierte, ganz vergessen hatte.

»Folgende Szene!« befahl der Kapellmeister. »Mit so einer blutigen Anfängerschaft ist das ja ein Stück Elenderei wie auf dem Kasernenhof. Herr Regisseur, Sie brauchen für die Kerkerszene nur einen Diwan und einen Stuhl stellen zu lassen. Wir wollen machen, daß wir mit dem Bettel fertig werden. Ich bin's leid.«

Das junge Mädchen war dicht an die Rampe getreten.

»Ich – wollte Ihnen noch danken, Herr Kapellmeister,« sagte sie zitternd und versuchte, frohe Augen dazu zu machen.

»Warten Sie ab bis morgen! Das wird eine nette Vorstellung werden!«

In Helga Braun krampfte sich etwas zusammen. Weshalb mußten der jungen Novize denn alle Illusionen geraubt werden? Was hatte sie denn verbrochen, daß sie sich vor dem versammelten Orchester und dem ganzen Chorpersonal, das sich grinsend in den Kulissen herumdrückte, so anschreien lassen mußte? Das war doch eine junge Dame von Bildung und Erziehung. Und gut hatte sie ihre Sache gemacht, mit dreimal so viel Begeisterung für die Kunst als der schläfrige Graf Luna, an den sich ein Verweis des Kapellmeisters nicht heranwagte.

Armes Ding, dachte Helga Braun, wie lange wird deine Begeisterung für die Kunst standhalten? Da tun sich nun die Herrschaften vom Theater zu großen und lauten Genossenschaften zusammen, und es ist ein Jammern über den Verfall der Bühne, und keiner denkt daran, erst einmal Hand im eigenen Hause anzulegen und durch ein Benehmen, wie es selbst beim kleinsten Handwerker als selbstverständlich betrachtet wird, den Stand zu heben. Und noch vieles sann sie vor sich hin, während auf der Bühne mit Eilfertigkeit die letzten Szenen probiert wurden, und sie dachte an den heiligen Altar, von dem das junge Mädchen da oben wohl auch als kleine Konservatoristin geträumt hatte, und an die Priester des Altars, die die Vorbereitungen zur feierlichen Handlung mit dem Geschrei und dem Anstand von Kesselflickern trafen. Sie sah das alles heute so merkwürdig scharf, so ganz ohne schmückende Phantasie, so grau und geschäftsmäßig, wie es in der Wirklichkeit war, und die Lombardsbrücke schwebte ihr vor Augen, die die Ufer trennt und verbindet, hüben der Lärm und der Ruß des Tages, drüben die köstliche Ruhe und heimelige Gärten …

Und sie nahm sich vor, gleich zu dem jungen Mädchen in die Garderobe zu gehen und es in die Arme zu nehmen, damit es auch einen Blick tun könne in Gärten …

Wie sie beim letzten Orchesterton das Parkett verlassen wollte, wandte sich der Kapellmeister um.

»Ah, unsere große Diva!« Und er kletterte eilig über die Orchesterbrüstung, um ihr wiederholt die Hand zu küssen. »Sind Sie schon lange bei der Probe zugegen, meine Gnädige? Ein bißchen viel Geschimpf, nicht wahr? Na,« lachte er ein wenig verlegen, »wenn man die Nacht etwas länger als gewöhnlich gekneipt hat! Sie müssen schon entschuldigen.«

»Sagen Sie mal, Herr Kapellmeister,« warf Helga Braun hin, »die Kleine, die die Leonore singt, das ist doch sicher eine Entdeckung von Ihnen. Dazu gratuliere ich wirklich. Sie haben ein gutes Auge gezeigt.«

»Meinen Sie, gnädigste Frau? – – Hm, von mir ist die Entdeckung nicht. – – – Sie kommt geradeswegs aus Trier, und unser Alter, der ja bekanntlich die Entdeckerwut besitzt, hat sie hergebracht. So, so, Sie haben auch gefunden, daß mit dem Frauenzimmer etwas los ist?«

»Aber das ist doch keine Frage, Herr Kapellmeister. Die frische, volle Stimme. So gesund ist das alles. Und wenn sich das erst unter Händen, wie den Ihrigen, entwickelt – ja, ich wollte ja zu ihr auf die Bühne. Werden Sie mir die Ehre schenken, in den nächsten Tagen einer Gesellschaft beizuwohnen, die wir vor unserer Abreise noch veranstalten möchten? Bei Pfordte, denk' ich.«

»Tausend Dank, gnädigste Frau. Und was Sie über die Kleine da sagten – vollkommen meine Meinung.«

Er öffnete ihr dienstfertig die Tür, haschte nach ihrer Hand und küßte sie sehr hochachtungsvoll. Helga Braun aber ging in die Garderobe, wo sie die junge Sängerin weinend vorfand. Sie saß allein an ihrem Schminktisch, hatte das Gesicht in die aufgestützten Arme gelegt und schluchzte, daß ein fortwährendes Beben über Schultern und Rücken lief. Sie schrak auf, als Helga ihr die Hand aufs Haar legte, und starrte aus großen, verängstigten Mädchenaugen die Besucherin an.

»Ich weiß nicht, ob ich den Vorzug habe, von Ihnen gekannt zu sein, mein Fräulein?«

»Den – Vorzug?« wiederholte das junge Mädchen herb und wischte hastig die Tränen ab. »Sie sind Frau Braun-Nuntius. Wer sollte Sie nicht kennen!«

»Dann gestatten Sie mir, Sie zu Ihrer Stimme und Ihrem Talent herzlichst zu beglückwünschen.«

Das junge Mädchen erhob sich steil. In ihre Augen war eine Härte getreten.

»Waren Sie denn – in der Probe?«

»Ich habe den letzten Akt angehört. Das darf mir genügen.«

»Gnädige Frau – wollen Sie sich auch – wie der Kapellmeister – lustig machen?« Und plötzlich vergaß sie sich und schlug die Hände vors Gesicht und schrie gepeinigt durch das Zimmer: »Das ist grausam, das ist ja so grausam!«

Helga Braun hatte schnell die Arme um sie geschlungen und hielt sie nun fest an ihrer Brust.

»Aber Mädchen, wie können Sie nur glauben? Sie wollen Frau Braun-Nuntius kennen und trauen mir das zu? Halten Sie es denn auch für möglich, daß ich Sie küssen würde, wie ich Sie jetzt küsse« – und sie küßte sie auf Stirn und Wangen – »wenn ich nicht gekommen wäre, um Ihnen zu sagen: Sie sind ein begnadetes Menschenkind? Sie haben Ihre Sache in der Probe ganz vorzüglich gemacht und werden, wenn Sie so frisch und gesund an Stimme und Empfindungen bleiben, bald die Primadonna Hamburgs sein? Nun, Sie liebe, närrische Kollegin?«

Das junge Mädchen hob den Kopf. Es schaute der trostreichen Frau fest in die Augen. Dann überzog eine Röte ihr Gesicht, und sie stammelte nur: »Sie sind so gut. Ich habe noch keinen guten Menschen beim Theater getroffen.«

»Na, na,« drohte Helga Braun lächelnd, »jetzt gehen Sie wieder durch. Es gibt auch Menschen von Herzensbildung beim Theater. Nur halten sie sich ein wenig versteckt, und man muß sich die Mühe geben, sie zu suchen, wenn einem daran liegt. Hätten Sie Lust, mich ein Stückchen nach Hause zu begleiten? Ich möchte gern noch mit Ihnen plaudern. Vorhin erst habe ich dem Kapellmeister mein Entzücken ausgesprochen.«

Das junge Mädchen hatte schon den Hut gehoben, um ihn aufs Haar zu stecken. Jetzt stutzte sie.

»Dem – Kapellmeister?« – Und jedes Wort war wie ein Schrecken.

»Das war doch meine Pflicht, Sie ängstlicher Vogel. Ich habe ihm meine Meinung über Sie und Ihre Begabung gesagt, und der Kapellmeister –«

»Der – Kapellmeister – –?«

»Gab mir vollkommen recht und wird Sie sicher im Auge behalten. Nur sich nicht bange machen lassen!«

Da ließ das Mädchen den Hut zur Erde fallen und warf sich ungestüm an die Brust der schönen, gefeierten Frau, die so sehr Weib geblieben war, daß sie die Qual ihrer Mitschwestern verstand, und wühlte ihren Kopf ganz dicht an Helgas Herz.

Helga Braun atmete unter der warmen Berührung hoch auf.

Nun hat das arme Ding auch seinen Garten, dachte sie und hielt ganz still …

Dann verließen sie miteinander das Theater, und die junge Sängerin, glücklich, eine Zuhörerin gefunden zu haben, erzählte von ihrer Laufbahn, ihren Enttäuschungen, ihren Hoffnungen und der Angst, sie könnten zu neuen Enttäuschungen werden.

»Ich bin erst zwei Jahre bei der Bühne, gnädige Frau, beide Jahre in Trier. Dort sah mich der Herr Direktor aus Hamburg. Der Jubel, wie ich nach Hause schreiben konnte: ›Ich bin engagiert!‹ O Gott, der Jubel! Bei meinen Leuten daheim sieht es nämlich kärglich genug aus. Die letzten Groschen waren für mein Studium verwandt worden, weil man in den kleinen Nestern doch noch der Ansicht ist, einer Bühnenkünstlerin flösse das Geld nur so scheffelweise zu. Meine Garderobe hatte ich auf Abzahlung genommen. Die Ersparnisse aus Trier waren draufgegangen, für die Rollen, in denen ich in Hamburg gastieren sollte, besonders schöne Gewänder zu kaufen, denn in den großen Städten sieht man immer zuerst danach: wie ist sie angezogen? Mein dreijähriger Kontrakt mit Hamburg tritt erst in Kraft, wenn ich Publikum und Kapellmeister gefallen habe. Aber auf den Kapellmeister, das wissen Sie, kommt es allein an. Und nun die Angst, die furchtbare Angst, die einem beim Singen den Atem benehmen will, weil der Kapellmeister an so einer kleinen Sängerin seine Laune ausläßt und die Kollegen und Kolleginnen ihm bald nacheifern. Gnädige Frau, es ist nicht um die Kunst, es ist um das Leben. Die Angst, nicht engagiert zu werden, die Angst, als gekündigtes Mitglied wieder alle die vergeblichen und beschämenden Bittgesuche bei den Agenten machen zu müssen, die Angst vor den Schulden und den erschrockenen, verständnislosen Augen der Eltern daheim. Diese guten, erschrockenen Augen, das ist das schlimmste. Und dann beginnt man, gegen seine Natur zu handeln und den Mädchenstolz zu verleugnen und zu den Prügeln zu lächeln, als mache einem das Spaß und man sei ein forscher Kerl: nur um nicht auf die Straße zu müssen, wallfahren; nur um nicht hungern zu müssen. Ach, liebe, gnädige Frau, wie viel Gutes und Würdiges saugt einem die Kunst aus, bevor man oben steht. Wenn ich es nicht brauchte, wenn ich es nicht so blutnötig brauchte, jetzt, wo ich einmal begonnen habe und des Verdienstes wegen nicht mehr zurück kann: ich würde meine Jugend nicht hergeben … Was red' ich da! Es gibt auch Ausnahmen. Sie, liebe, gnädige Frau, zeigen es ja.«

Es ist doch seltsam, dachte Helga Braun, daß wir Frauen in diesem Punkte alle so ähnlich empfinden. Die einen früher, die anderen später; einmal aber eine jede. Das ist das rätselhafte Liebesleben der Frau, das wir selbst nicht verstehen, und dessen Schmerzen unsere Freuden sind. Nun ist es also wirklich an mich gekommen …


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