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Wie eine Frau, die in später Stunde noch einmal die Liebe in sich erwachen fühlt, war der Herbst. Wie eine Frau im zweiten Frühling. Und alle geknickten Blüten richteten sich auf, und ihre Farbe war tiefer und ihr Duft voller, weil ihr Glück aus dem Leid hervorgegangen war. Kein lenzliches Flirren; es lag in der Luft wie ein tiefes Verständnis für die Schönheit der Stunde. Und diese Stunde auszudehnen und alle angesammelten Reichtümer in sie zu ergießen mit der segenschweren Entäußerung der Liebenden, die da wissen, es kommt kein dritter Frühling, war ihnen eine heilige Mission.
Über den Main spannte sich ein Oktoberhimmel von leuchtender Glut. Die Sonne war schon hinab, aber das purpurne Gefunkel in der Luft mochte sich nicht trennen von dem trunken zitternden Spiegelbild in den Wassern. Auf der Maininsel, die sich bis an die alte Brücke, die Brücke Karls des Großen, erstreckt, ragten die Bäume noch immer vollbelaubt in die schwimmende Purpurpracht, und wenn es in ihren Kronen flüsterte, war es wie das Seufzen einer schönen Frau, die noch so unendlich viel zu geben hat, bevor der Winter mit blindem Auge zum Leben Drängendes und vom Leben Scheidendes, Ungeborenes und Totes in eine Grube jätet. Wie eine Idylle lag der schmale, grüne Streifen Land in den raunenden Wassern. Unter herabhängenden Baumzweigen saßen junge Männer an Tischen aus borkigem Holz, blickten auf ihre Ruder- und Segelboote in der kleinen Inselbucht, sprachen über Sport, rühmten den warmen Oktoberabend und führten mit Behagen die Gläser zum Munde, die ihnen der Aufwärter füllte. Aber alles war heute in eine gedämpfte Stimmung gehüllt, die Worte waren zu zählen und klangen nur halblaut an, als empfände jeder unbewußt die leisen Stimmen der Natur: Laßt uns heute reden …
Und die Stimmen redeten den Main hinauf und den Main hinunter in ihrem singenden Flüsterton, der in das Menschenblut die schwere Sehnsucht trägt. Das unerklärliche Gefühl, sich selbst und anderen wohl zu tun, ohne nach dem Grund zu forschen und zu fragen. Als wäre es die Liebe.
Auf dem oberen Flußlauf schwamm ein Boot, fern zwischen Offenbach und Frankfurt. Nur zuweilen, als besännen sie sich ihrer Pflicht, strichen die Ruderblätter das Wasser. Langsam trieb das Boot mit der Strömung. Aus dem Schilf am Ufer rief der Rohrspatz. Dann blickte Helga Nuntius auf, hob die im Wasser gleitende Hand und horchte. Bis Richard Marschall sie lachend fragte: »Ist noch Leben in Ihnen, Fräulein Nuntius?«
»Sie träumen zu viel.«
»Es ist so schön.«
»Wenn wir dabei an das Leben denken, ganz gewiß.«
»Wir denken alle daran.«
»Sagen Sie mir eins: Haben Sie auf der ganzen Fahrt auch nur ein einziges Mal der Natur sich erfreut oder sich umgeschaut? Denn daß Sie geradeaus schauen, verlange ich nicht, nein, nein, das wage ich gar nicht zu verlangen, denn geradeaus, da sitze ich. Luft also.«
»Ach, Herr Marschall,« erwiderte sie, »da haben wir's. Ihr ganzes Mitgefühl dreht sich um ein klein wenig verletzte Eitelkeit. Ich habe vergessen, Sie anzuschauen.«
»Oho,« rief der Mann und ließ die Ruder in der Luft federn. »Da kommt die Evanatur zum Durchbruch, die schleunigst einen Zirkel schlägt und das Gespräch auf den Kopf stellt. Gilt nicht! Bei der Stange bleiben! Von mir ist gar nicht die Rede. Obwohl – hm – obwohl –«
»Also doch! Obwohl – –?«
»Obwohl, wenn Sie's wissen wollen, das noch gar nicht das Schlechteste wäre. Herrgott von Bentheim, der Blitz schlägt ins Boot. Ich sage kein Sterbenswort mehr und zieh' Leine.«
Und er legte sich mit gemachtem Ungestüm in die Riemen.
»Herr Marschall –«
»Wir wollen doch gute Freunde bleiben, nicht wahr?«
»Und ob wir das wollen!«
»So versprechen Sie mir, nicht mehr so töricht zu reden.«
»Sie haben recht. Ein Mann, der mit zwei Ruderstangen in den Händen durch eine Strömung steuert, ist töricht, von Dingen zu reden, die gegebenenfalls ein paar freie Arme erfordern.«
»Verzeihen Sie mir, daß ich jetzt wieder vorziehe, zu träumen.«
»O ja. Echtes Mitleid ist immer verzeihungsbereit.«
»Mitleid – –?«
»Sie verpfuschen sich Ihr Leben, weil Sie es verträumen. Ich wette, Sie haben an nichts gedacht als an das Konservatorium, als an den holden Gesang. Das ist sehr strebsam und ehrenwert. Aber man muß auch wissen, weshalb man singt. Und dies Wissen gibt Ihnen nur das Leben.«
»Dann,« spottete sie, und sie wußte nicht, woher es sie drängte, ihn zu beleidigen, »müßten Sie eigentlich wundervoll zu singen verstehen.«
Er wollte auffahren. Dann lachte er.
»Kann ich auch. Sie hören's nur nicht.«
Darüber grübelte sie im stillen nach, während er schweigsam die Ruder handhabte und aus dem Schilf unaufhörlich die Scheltrufe des Rohrspatzes drangen. Verstohlen musterte sie sein Gesicht. Es war Trotz darin, aber die Lebensfreude, die darunter ausgebreitet lag, war doch das Stärkere. Und zuweilen – sie sah es nicht zum ersten Male – war es in sich gekehrte Lebensfreude. Dann wurden seine kecken Augen weich, und es war ein Lauschen in ihnen nach heimlichen Stimmen und ein verschwiegenes Antwortgeben.
»Herr Marschall,« bat sie nach einer zögernden Weile, während der mit kräftigen Schlägen das Boot gen Frankfurt getrieben hatte, »seien Sie nicht mehr bös mit mir. Ich tu' Abbitte.«
Er hörte den schmeichelnden Klang und blickte von der Arbeit auf. »Ehrlich?« fragte er und blinkte sie ungläubig aus den Augenwinkeln an.
»Ganz ehrlich, Herr Marschall. Ich bitt' ab.«
»Ja,« sagte er, »das geht nun nicht so einfach, wie Sie sich das denken. Wollen mal sehen.« Und er hob mit einem Ruck die Ruder aus dem Wasser, ließ sie links und rechts auf den Bordrand fallen und ergriff ihre Hände.
»Ist jetzt alles wieder gut, Herr Marschall?«
»Wir sind noch nicht so weit,« murmelte er, beugte sich nieder und begann andächtig die zarten Gelenke zu küssen.
Sie hielt ganz still, so verwundert war sie. Und während sie auf sein Haar niederschaute, das im Abendrot so eigentümlich brannte und lohte, gewahrte sie auch das Abendrot in der Luft und den spielenden Wassern, und gewahrte die Schönheit des Flusses und den märchenhaften Frieden der Landschaft, und hörte den singenden Flüsterton des Oktoberabends, der die unerklärliche Sehnsucht in das Menschenblut trägt. Wie kam es, daß sie nichts von alledem vorher bemerkt hatte? Daß sie aus der einsamen Fahrt immerfort und mit gleichem Ernst eine Arie im Kopfe wiederholt hatte, bis sie ihr geläufig schien? Daß erst dieser warme Mund auf ihren Händen, der nicht aufhörte, von den Fingerspitzen bis zum Handgelenk neue Stellen für seine Andachtsübungen ausfindig zu machen, den Ernst der Kunst aus ihr verscheuchte und ihr Herz und ihre Augen mit einem Male so jugendlich und fröhlich machte, daß sie plötzlich über seinen gebeugten Nacken hin ein Liedchen zu summen begann, Griegs wiegendes Kahnlied:
»Möwen, Möwen in weißen Flocken, Sonnenschein – –«
Da knirschte der Kahnrand, und sie saßen im Schilf.
Richard Marschall fuhr auf, und das erste, was er sah, waren ihre Augen. Nicht die Augen, die er kannte. Kindliche, fröhliche Mädchenaugen, wie sie allein zu ihrer jugendlichen Erscheinung, ihren jungen Jahren paßten. »Wir sitzen fest,« lachte sie.
»Wenn schon!« antwortete er kurz, tat einen Atemzug und beugte sich aufs neue über ihre Hände, als erforschte er unbekanntes Land. Da sprach auch sie nicht weiter und blickte nur still auf den Kopf in ihrem Schoß und wunderte sich über ihre selige Heiterkeit. Dicht vor ihnen sprang ein Fisch auf. Das erschreckte sie in der dämmerigen Stille so jäh, daß sie zusammenfuhr und die Hände an sich zog.
»Schade,« sagte Marschall bedauernd und suchte ihren Mund mit bettelnden Augen.
»Wir müssen weiter, Herr Marschall. Wir können doch nicht in der Dunkelheit an der Insel landen.«
»Wenn wir wollen, können wir alles.«
»Aber wir wollen nicht.«
Das klang so bestimmt und selbstsicher, daß Marschall ohne weiteres nach den Rudern langte. Er mußte sich im Boot erheben, um mit der Stange das Fahrzeug aus dem Schilf herauszustoßen. Wie es sich knirschend in Bewegung setzte, glitt sein Fuß aus, und er stürzte in die Kniee. Im selben Moment hatte sie die Arme ausgestreckt, um ihn zu halten, und durch die aufschnellende Bewegung des Bootes fuhren ihre Köpfe hart aneinander.
»Au!« rief sie lachend und rieb sich mit einer kindlichen Grimasse die Stirn. Er aber zog ihre Hände fort und küßte den kleinen, roten Fleck.
»Jetzt heilt's besser,« sagte er ernsthaft. Und bevor sie ein Wort des Zornes hervorbringen konnte, hatte er das Boot mit mächtigen Schlägen in die Strömung getrieben und ruderte aus Leibeskräften zu Tal. Dabei pfiff er wie unsinnig.
Nun ist es zu spät, ihn zurechtzuweisen, sagte sie sich, das sähe aus wie Wichtigmacherei. Und es war ihr, als freue sie sich ganz im geheimen, daß es nun zu spät sei …
Sie hatten die erste Brücke passiert und näherten sich der zweiten. Da erst begann er ein Gespräch.
»Sie sind in den sechs Wochen bei Professor Faller schon riesig weit gekommen, hörte ich.«
»Hat Ihnen das der Professor selber gesagt?«
»Nein, der Braun. Der ist mir ein klassischerer Zeuge.«
»Wieso?« fragte sie gespannt.
»Weil für den Braun nichts anderes existiert als Stimme. Ich glaube, der Mensch hat Sie noch nicht einmal richtig angesehen, obwohl er Sie häufig in den Unterrichtsstunden und noch häufiger im Grubeshof traf. Aber Ihre Stimme, die kennt er in- und auswendig.«
»Er hat sie gelobt?«
»Mehr als das. Er hat sie bereits abtaxiert, nach Mark, Frank und Dollar.«
»Weshalb,« meinte sie nach kurzer Pause, während eine Röte über ihre Stirn lief, »sprechen Sie immer in so wegwerfendem Ton von Ihrem Freund Braun? Denn daß er Ihr Freund ist, beweist doch, daß Sie sich mit ihm duzen.«
»Daß ich mich – mit ihm – duze? Ach du lieber Gott, ich hab' eines Tages Brüderschaft mit ihm getrunken, weil ich ihm einmal gründlich die Wahrheit sagen mußte. Das geht ›per Du‹ nämlich glatter.«
»Was haben Sie denn so Schlimmes an ihm auszusetzen?«
»Das Schlimmste, was man einem Menschen vorwerfen kann: daß er, außer im Gesang, keinen Funken von Seele, keinen Funken von Gemüt hat. Also ein Seelenkomödiant.«
»Aber er ist ein Künstler!« warf sie ihm aufgeregt entgegen. »Der größte von uns allen!«
Da wußte er, daß die Schilfstimmung verflogen war, trieb das Boot durch die Pfeiler der alten Brücke und ließ es mit kurzer Wendung in der Inselbucht einlaufen.
Von einem der Tische löste sich eine lange, vornübergebeugte Gestalt, die mit großen Schritten an den Landungssteg kam. Jetzt war Franz Grubes bärtiges Gesicht zu erkennen. Er streckte dem Mädchen den Arm hin und half ihr beim Aussteigen. »War's schön, Fräulein Nuntius? Und war der Richard brav? Wir sind hier in die Melancholie geraten.«
»Es war schön,« entgegnete sie rasch. »Aber weshalb Melancholie?«
Er führte sie, während Marschall das Boot befestigte, zu den Tischen unter den hängenden Zweigen. Hier war er heimisch, auf diesem abseits gelegenen, in den Wassern des Mains verlorenen Fleckchen Erde. Und wenn ihm auch hier das Treiben des kleinen Kreises, der die Insel für sich gepachtet hatte, zu laut wurde, so tat er nur die wenigen Schritte zum Landungssteg, löste sein Segelboot und kreuzte ziellos auf dem Main.
»Melancholie?« wiederholte er und bog einen Zweig beiseite, um sie bequemer hindurchschlüpfen zu lassen. »Spüren Sie nicht selber, welch eine Macht so ein Oktoberabend wie der heutige auf uns ausübt? Das ist, als spreche er immer: Greif zu, greif zu, ich komm' ja nicht wieder.«
»Aber das ist doch kein Grund zur Schwermut, wenn man sogar gebeten wird?«
»Bravo, Fräulein Nuntius, so gefallen Sie mir. Ich werde Sie häufiger mit Richard Marschall hinausfahren lassen.«
»Ach nein – –« erwiderte sie schnell, und seine Hand nehmend, fügte sie langsamer hinzu: »Ich bleibe doch lieber bei Ihnen, besonders an solchen Oktoberabenden, Herr Grube.«
»Sie sind etwas spät gekommen, kleine Fee.«
Und sie verstand ihn falsch und erzählte von ihrer Unachtsamkeit und daß sie sich im Schilf festgefahren hätten. Dann mußte sie am Tisch, an dem sie auch Johanna Grube fand, die Geschichte ihrer Ruderpartie wiederholen, und während alle den kundigen Mainbefahrer Richard Marschall mit herzlichem Gelächter begrüßten, fragte sie sich im stillen, weshalb wohl Johanna Grube nicht mitgelacht, sondern aus klaren, ernsten Augen von ihr zu Marshall und von Marschall zu ihr geblickt hätte. Da wurde sie schweigsam inmitten des Gläserklingens.
Aus dem Gezweig äugten bunte Lampions mit schwankendem Licht hervor. Die Farbenstreifen am Himmel waren verflogen, und wie dunkelvioletter Samt spannte es sich über den Main, dicht benäht mit kleinen, glitzernden Sternen. Die alten giebeligen Häuser am gegenüberliegenden Kai hoben sich in scharfen Umrissen, und die ganze Häuserzeile sah man noch einmal, tief in das Uferwasser hinabgetaucht, wie ein auf den Kopf gestelltes Vineta. Über dem gespenstisch ragenden Dom stand die Mondsichel und ließ an den Zieraten des gotischen Turmes das rieselnde Licht wie silberne Mäuse klettern. Das Dach des Kirchenschiffes schob sich gewaltig über das Häusergewimmel, das für seine durch die Jahrhunderte bewahrten Architekturen im Schutz des Gotteshauses eine Freistatt gesucht und gefunden zu haben schien. Das alte Frankfurt – –.
Helga Nuntius hatte einen Schritt vernommen, der sie vom Schauen abzog. Die breiten Schultern Brauns schoben sich durch das Gezweig. Jetzt stand er am Tisch, winkte mit der Hand zur allgemeinen Begrüßung und bot Guten Abend.
»Schon zurück von Mainz?« fragte Grube und rückte auf der Bank, um den neuen Gast an der Aussicht teilnehmen zu lassen.
»Seit einer Stunde. Habe mich umgezogen, eine Droschke genommen und bin hergefahren.«
»Konzert gut abgelaufen?«
»Mensch, was für eine komische Frage!« und er winkte dem Aufwärter, ihm einen Schoppen Wein hinzustellen.
»Habt ihr denn nicht das Telegramm im heutigen ›Generalanzeiger‹ gelesen?« fragte Marschall, staunend über so viel Unwissenheit, in die Unterhaltung hinein.
»Lüg du in dein' Sack,« lachte einer am Tisch, »ich kenn den ›Generalanzeiger‹ auswendig.«
»Siebenmalsiebenzig Jungfrauen haben sich nach dem Konzert dem gebenedeiten Sänger vor die Räder geworfen. Elftausend Knochen bedeckten den Platz. Das ist auf's Stück soviel wie die heiligen Jungfrauenknochen in Köln. Köln tobt. Braun wird Ehrenbürger von Mainz. Heil! Heil dem großen Tenoristen!«
»Hat der schon so viel getrunken?« wandte sich Braun an seinen Nachbar.
»Aber er macht doch Scherz.«
»Lächerlich.« Dann trank er sein Glas aus und reichte es über die Schulter dem Aufwärter zum Füllen hin.
Helga Nuntius hätte ihren guten Kameraden Marschall im selben Augenblick prügeln mögen. Was fiel ihm denn nur ein, Brauns Erfolg, von dem er selber doch am ehesten überzeugt war, öffentlich herabzusetzen? Nie hatte sie ihn neidisch gesehen. Und auch soeben war kein Anklang von Mißgunst in seiner Stimme gewesen; eher, viel eher: regelrechte Rauflust. Sie wandte ihr dunkles Köpfchen Braun zu und erkundigte sich, in dem Bestreben, dem Angegriffenen über die peinliche Minute hinwegzuhelfen, angelegentlicher als sie es sonst getan, nach seinem Konzert.
Aber Braun war keineswegs peinlich zu Mute. Er sprach so seelenruhig von seinen Erfolgen, als spräche er von einem Dritten. Darin lag etwas Imponierendes. Denn unwillkürlich fühlte man heraus, der breit dasitzende junge Sänger mit dem hochmütigen Gesicht würde jeden Moment bereit sein, den Beweis anzutreten.
»Was haben Sie gesungen?« fragte Helga Nuntius respektvoll.
»Schuberts ›Schöne Müllerin‹. Möchten Sie was draus hören?«
»Es wird Sie anstrengen, nach der Konzertreise, und dann – hier draußen im Freien,« entgegnete sie zaghaft, aber die zagen Worte trugen eine heiße Färbung des Tons und eine starke Wunschkraft in sich. Und Braun empfand es. Und auch Marschall empfand es, und er begegnete dem triumphierenden Blick des Kameraden mit finsteren, grimmigen Augen.
Der lachte und sah sich im Kreise um. »Nun, meine Herrschaften?«
»Ist das Ihr Ernst? Sie wollen uns wahrhaftig die Freude machen?«
»Der Abend ist es wert,« warf Franz Grube ein. »Braun tut nur, was wir alle möchten: dankbar erscheinen. Also nun laden wir den Abend zu Gast.«
Es wurde still am Tisch, und es wurde stiller in der leis pullenden Inselbucht und im flüsternden Gezweig.
Robert Braun sang.
Die Beine lässig vor sich gestreckt, die Ellbogen aufgestützt, schaute er über das dunkle Wasser hinüber nach den silbernen Konturen des Domes und sang. Und die Worte, die er sang, wurden lebendig. Bäche rauschten aus Felsenquellen, eine Mühle blinkte aus Erlen heraus, und der Wanderbursch dankte dem Bächlein bewegt: »War es also gemeint, mein rauschender Freund?« Und nun war es wie ein Saitenspiel mit vielen, vielen Saiten. Und alle wurden sie von ihrem Meister berührt und mußten ihren Spruch sagen: Wanderlust, Sehensfreude, Liebesregen; Hoffen, Zweifel, Werben; Klage des Verschmähten und Jubel des Erhörten; schwelgender Besitz und todtrauriger Verlust. Sangen die Lieder von einem Müllerknecht und seinem Mädchen? Oder sangen sie von einem Prinzen und seiner Königsmaid? Sie sangen von der Menschenliebe, die gleich ist hier wie dort, und der hinreißende Adel in Brauns Stimme pries die selige Allgleichheit im Göttlichsten auf Erden, und er ließ den Müller jubeln wie einen Prinzen, und den Prinzen weinen wie einen Müllerknecht. Nie hatte die stille Insel solchen Gesang vernommen. Der spielende Wind auf dem Main schwieg, die Nacht hielt den Atem an. Das huschende Mondlicht war vom Turm des Domes herabgeglitten und von Dach zu Dach gekrochen, als habe es die Ausschmückung der seltenen Nacht übernommen, und nun lag der ganze Kai mit Giebeln und Türmen wie eine einzige silberige Silhouette gegen den tiefvioletten Nachthimmel. Die Menschen auf der Insel aber kamen sich wie verzaubert vor, fühlten sich als Auserwählte, als unendlich Glückliche, und wenn sie sich mit großen Augen anlächelten und sich zunickten, empfanden sie eine tiefe Liebe zum Leben …
Unermüdlich strömten die Lieder. Franz Grube saß mit blassem Gesicht und rührte sich nicht. Seine Schwester Johanna tupfte lächelnd an ihren feuchten Augen; ihre Gesundheit rang gegen den Bann an, dem sie nicht unterliegen wollte. Helga Nuntius aber hatte sich längst und willenlos gefangen gegeben. Die ganze Nacht hindurch hätte sie dieser Stimme, dieser über alle Begriffe vollendeten Gesangskunst lauschen können. Und ihre schweifende Phantasie entführte sie dem Kreise der Freunde und ließ ihren Blick im Bilde eines Lebens weilen, in dem selbst der Alltag den Stil der Kunst angenommen hatte.
Nur Richard Marschall nahm an der allgemeinen Benommenheit nicht teil. Er spielte mit seinem Glase, rückte auf seinem Sitz, rief in den Pausen laut nach dem Aufwärter und zeigte überhaupt ein sehr deutliches Bestreben, Wasser in den Wein der Begeisterung zu gießen. Er hätte sich selbst keine genaue Rechenschaft über seine Art geben können. Es lag etwas in der Luft, gegen das er glaubte, sich wehren zu müssen. Und als Grube ihn leise fragte, was ihm wäre, antwortete er nur unwirsch: »Ich hab' einen Zorn.«
Robert Braun hatte geendet. Man schüttelte ihm die Hände, man schlug ihm auf die Schultern, man drehte an seinen Rockknöpfen und überschüttete ihn mit Worten des Beifalls.
»Gelt?« sagte der Sänger und sah sich stolz im Kreise um, »das waren Tönchen? Die soll mir einer nachmachen.«
»Protz!« entgegnete Marschall und pfiff durch die Zähne.
»Hör mal, Marschall, deine Kritik verbitt' ich mir.«
»Ach was! Aber die der andern akzeptierst du, weil sie nach Ambra duftet. Nee, mein Sohn, wenn schon eine Meinung geäußert werden darf und die andern meinen ›himmlisch‹, so mein' ich ›Protz‹.«
»Was soll das denn nur heißen, Marschall?« mischten sich einige der Herren ein. »Sie sind, scheint's, streitsüchtig heute.«
»Ansichtssache! Ich vertrag' nur keine Anmaßungen.«
»Aber es ist doch nicht das geringste vorgefallen.«
»Wahrhaftig nicht? Na, ich wenigstens hab' die dummdreiste Protzerei sehr wohl verstanden: ›Das waren Tönchen! Die soll mir einer nachmachen!‹«
»Mensch, das kann Sie doch nicht treffen. Sie sind doch Komponist!«
»Red' ich etwa von mir? Das überlass' ich solchen Jammerlappen wie dem Braun. Aber hier sitzen doch auch noch andre Gesangsmenschen.«
»Die einer Bevormundung durch Sie wohl nicht bedürfen.«
»Aber Braun bedarf der durch Sie? Wo steckt er denn? Ich möchte ihm nämlich gern bemerken, daß, wenn mir einer die Hälfte von dem gesagt hätte, was ich soeben Braun gesagt habe, ich ihm – –«
»Verehrter, Sie sind hier nicht auf einer Universität.«
»Die lokale Lage kommt hier durchaus nicht in Betracht. Die Frage steht nach Männern. Und der Braun? Der besteht doch sozusagen nur aus Stimme.«
»Bist du verrückt, Richard?« hörte er Grubes Mahnung.
Und dann, hell und verachtungsvoll, die Stimme Helga Nuntius': »Das ist häßlich! Das ist unverantwortlich häßlich.«
Richard Marschall sog an seiner Zigarre und blickte den Rauchwölkchen nach. Nun konnte er ja gehen. Es hielt ihn kein Mensch. Alle warteten sie doch sicherlich darauf, daß er nun gehen würde. Was hatte er denn nur eigentlich gewollt, was mit seinen Herausforderungen bezweckt? Braun lächerlich zu machen, seinen unfehlbaren Hochmut zu brandmarken und ihn einmal ohne Draperie, in Haustoilette zu zeigen. Und was war der Erfolg gewesen? Sieben Worte! »Das ist häßlich, das ist unverantwortlich häßlich.« Sie gingen ihm im Kopf herum, verzerrten sich und schnitten Grimassen. Sie legten sich lähmend auf seine Glieder, daß er sich nicht erheben konnte. Weshalb, zum Teufel, weshalb hatte er denn den alten Freund und Kunstgenossen Braun rempeln müssen, wenn das so unverantwortlich häßlich war? Da wachte er auf, sah Helga Nuntius scharf in die Augen, erhob sich, ohne jemand Guten Abend zu wünschen, und durchquerte den Inselstreifen, um sich vom Sachsenhäuser Ufer einen Schiffer zum Übersetzen heranzupfeifen.
Als der Mann den schwerfälligen Kahn herübertrieb, hörte Marschall hinter sich das Geräusch von Kleidern.
»Gute Nacht, Richard! Ohne einen Händedruck sollen Sie mir doch nicht von dannen. Obwohl ich Ihre Beweggründe sehr gut verstanden habe.«
Er sah, ohne die Worte zu beachten, in Johanna Grubes Gesicht, nickte und sagte nur: »Ja, ja, ja, Schwesterherz.«
Dann sprang er in den Kahn und ließ sich nach der Sachsenhäuser Seite übersetzen.
Es ging auf zehn Uhr, als er an der Äpfelweinkneipe am eisernen Steg vorüberkam. Unter der mächtigen Linde saß das Volk, als wäre es Johannisnacht. Rieselten auch von Zeit zu Zeit ein paar gelbe Blätter auf ihre Köpfe und in ihre Humpen, sie freuten sich des warmen Abends, als ob es Frühling wäre, und der Wirtschaftshof mit der einzigen Linde war ihnen wie der prunkendste Garten. Die Bänke, die sich um die Tische herumzogen, waren so dicht besetzt, daß manch einer, den der neue Wein, der Federweiße, bereits stach, seine Frau Eheliebste ohne viel Umstände auf den Schoß genommen hatte. Fässer, Leitern, ein umgekippter Handwagen, alles diente als Sitzgelegenheit. Ja selbst auf einem Balken im Sande hockten die Menschlein wie Schwalbenreihen auf einem Telegraphendraht. Und alles schlürfte, lärmte, sang und freute sich seines Lebens und des Federweißen.
Richard Marschall trat ein und stolperte über ein Paar ausgestreckte Beine.
»Als wir achtzehnhunnertsiebzig sin in Frankreich einmarschiert,«
tönte es dem neuen Gast in begeistertem Liede entgegen.
»Mir als noch en Schoppe.«
»Mir en gute Handkees.«
»Hat die Guste, die bewußte, mir e Butterbrot geschmiert –«
»Da derzu muß mer trinke. Des is besser als en Buckel voll Schleeg. Prost, ihr Herre!«
»Is des nicht der Herr Marschall? Hallo, Herr Nachbar! Ihne Ihre Gägewart is hier erforderlich. Des is e Weinche, der neue! Wann mer ihn koste duht, komme einem die große Gedanken als fuderweis. Rücke Se an, Herr Nachbar!«
»Guten Abend, Herr Bettermann, hat Ihnen Ihre leichtsinnige Frau mal wieder den Hausschlüssel gegeben?«
»Wär' unnötig, Herr Nachbar. Ich komm' bei Tag häm.«
»Kellner, 'nen Schoppen. Der Wein scheint ja Mut zu machen. Erzählen Sie was, Herr Bettermann.«
»Prost, Herr Marschall, ich weiß die Ehr' zu schätze.« Und Herr Bettermann erzählte Kriegsabenteuer. »Wisse Se, Anno siebenzig, als ich den Schuß durch die beide Pedal' abgekriegt hab' – –.« Und immer kühner wurde seine Rede und immer ausschweifender seine Erinnerungen. Auf dem Schlachtfeld klopften ihm Generale auf die Schulter, in den Quartieren rissen sich die jungen Witwen um ihn und wollten ihn französisch machen, und im Lazarett erst, im Lazarett beugten sich Prinzessinnen über ihn und küßten ihm die Heldenstirn.
Und jedesmal, wenn er, von der Größe seiner Phantasien überwältigt, über seinem Schoppen in sich versinken wollte, feuerte ihn Marschall zu neuen Tatberichten an und quälte und bat: »Erzählen Sie mehr, Herr Bettermann, Sie können so schon lügen.«
Dann wurde Herr Bettermann rot, aber der Federweiße hatte schon zu große Gewalt über ihn, und er erzählte immer noch ein stärkeres Stück, um das vorherige dadurch glaubhafter zu machen. Marschall aber hörte kaum hin. Ihm war nur darum zu tun, den Klang einer Menschenstimme zu vernehmen, und er hatte Angst vor dem Alleinsein. Immer wieder hörte er den Ruf des Rohrspatzes, das Knirschen des Kahnes und das Knistern des Schilfes. Und sah zwei Mädchenaugen, in denen die Freude am Leben erwacht war und den Bann der Kunst durchbrochen hatte.
»Erzählen Sie weiter, Herr Bettermann – –«
Bis dieser Blender, dieser Braun – – ah!
»Ich weiß nix mehr, Herr Marschall.«
»Ich auch nicht,« sagte der hart. »Zahlen!«
Als sie durch die mondhelle Nacht schritten, hielt er es doch für richtiger, Herrn Bettermann am Arm zu führen. Auf dem Brückensteg schlug ihm der vergnügte Meister ein Wettschwimmen vor, und er konnte ihn nur dadurch abhalten, Rock und Weste abzuwerfen, daß er sich feierlich und ein für allemal als durch Herrn Johann Bettermann im Schwimmen gänzlich geschlagen erklärte.
Dort drüben lag die Insel. Jetzt in Schweigen eingehüllt. Die ragenden Bäume schienen eine Totenwacht zu halten. Wie ein Grab, dachte Marschall, und dann riß er sich von dem Anblick los und wandte sich dem Leben zu. »Aufgewacht, Herr Bettermann, es geht nach Frankreich hinein!«
»Nach Frank–furt!« verbesserte der eingeborene Meister und riß die Augen auf. »Ich geh' häm.«
Als sie endlich den Römer passiert hatten und Herrn Bettermanns Wunsch, den Kaisersaal bei Mondschein zu besichtigen, als unerfüllbar zurückgestellt worden war, bogen sie in die Bleidenstraße ein. Vor seinem Hause aber begann der Meister ein Abschiedslied:
»Was nutzet mich ein schöner Ga – arten, wenn andre drin spah – zieren gehn – –«
Droben wurde ein Fenster geöffnet. Helga Nuntius beugte sich heraus.
»Ach, Fräuleinche, ich kann net die Trepp' 'nauf.«
»Ich komme,« lachte sie leise.
Richard Marschall stand wie erstarrt. Sie hatte ihn erkannt, es war kein Zweifel. Lag doch das Mondlicht wie Milch auf der engen Gasse. Welch eine Prachtfigur spielte er neben dem Berauschten. Vielleicht, daß sie ihn selbst für berauscht hielt. Schon vor Stunden, auf der Insel.
Scham und Zorn packten ihn. Und plötzlich machte er sich mit einer so jähen Bewegung von seinem Begleiter frei, daß der Meister auf die Treppe zu sitzen kam.
»Des is häßlich von Ihne,« hörte der Enteilende Herrn Bettermanns Stimme, »sehr, sehr häßlich.«
Und ihm war, als gäbe Helga Nuntius' Stimme Antwort: »Jawohl, Herr Bettermann. Unverantwortlich häßlich …«