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Das schmale, staffelförmig gegiebelte Häuschen in der Bleidenstraße, das Herrn Johann Bettermann, Helgas Hauswirt, zu eigen war, lag so fest zwischen einem breitbrüstigen ehemaligen Patrizierhaus und einem ragenden modernen Neubau eingeklemmt, daß aus einer gewissen Entfernung heraus der Glaube aufkommen konnte, es habe sich da in eine zufällige Baulücke geschickt ein großes Vogelnest eingeschmuggelt. Auf Schönheit – das wußte keiner besser als Herr Bettermann selbst – vermochte sein Grundstück keinen Anspruch zu erheben. »Awwer,« pflegte der immer vergnügte Besitzer zu sagen, wenn er, die Hände links und rechts in den Latz seiner blauleinenen Schürze gesteckt, auf der Schwelle stand und den Vorübergehenden einen »Guten Tag« zurief, »junge Schwän' sein nie schön; nor ihr' Zeit abwarte kenne.« Deshalb hatte er im geheimen seinem unbeholfenen Häuschen den Namen »Villa Phönix« verliehen. Eines Tages mußte es sich zu unerhörtem Glanze erheben!
Denn er hatte das Häuschen »auf Spekulation« erworben. Wenn er seinen Intimen gegenüber bei einem Schöppchen »Appelwei« das inhaltschwere Wort aussprach, geschah es stets mit einem pfiffigen Augenblinzeln, und die innere Glückseligkeit, Anwärter eines vergrabenen Schatzes zu sein, ließ strahlende Reflexe über sein eckiges, kindliches Gesicht hüpfen. Dann legte er sich weit über den Tisch, winkte den Kopf seines Gegenübers dicht zu sich heran, fing die Blicke des mit emporgezogenen Augenbrauen Horchenden an der Spitze des erhobenen Zeigefingers und dozierte: »Alleweil gehn mer in Frankfort ene Zeit entgege, die die Gelehrte die ›Glanzepoche‹ nenne. Mit eme annere Wort: es werd abgerisse un abgerisse. Bei de Herrn vom Magistrat heißt des ›die Straßeflucht bilde‹. Gucke Se, for dessentwege haw' ich mir vom Jud Breilsheim mei Grundstückelche erstande.«
»Der hot Ihne schee ohgeschmiert.«
»Meine Se? Awwer Herr Nachbar, Sie sinn net nachdenklich genug. Mei alt' Barack verschimpfiert doch des ganze Straßebild. Des werd die Baubolizei uff die lang Dauer net leide. Herr Bettermann, wird sie sage, derffe wir uns nach dem Preis Ihres Grundstücks erkundige? Sie misse erraus. Höhere Staatsräson oder Forschmajöhr, wenn Ihne des leichter verständlich is. Auf eine Handvoll Goldfüchs soll es uns im Hinblick auf das Straßebild nicht ankomme. Wieviel also. Awwer: witt, witt! Wird hunnerdausend reiche? Alsdann – –«
»Alsdann, Herr Bettermann, dhet ich meine, Sie kennte wohl mei Äppelwei zahle. Ich hab' sechs Schoppe.«
An solchen Abenden zahlte Herr Bettermann, obschon er nichts zu verschenken hatte. Er ging so selten ins Wirtshaus, daß ihm die Frau daheim die kleine Extravaganz gern nachsah. Sie sah ihm überhaupt alles nach, wie eine gute Mutter, die für die herumflitzenden Marotten ihres Einzigen, des Nesthäkchens, immer ein liebes nachsichtiges Lächeln hat. Die beiden alten Menschen, die kinderlos geblieben waren, liebten sich zärtlich. Mit jener verschämten Liebe, wie man sie bei der frühen Jugend und beim späten Alter trifft.
Herr Bettermann ging gegen die Sechzig. Im Kriege gegen Frankreich hatte er einen Schuß durch beide Beine erhalten und bezog seitdem Invalidengelder. Doch war die schwere Wunde so gut geheilt, daß er, wenn auch etwas steifleinen, heute noch fröhlich das Tanzbein zu schwingen vermochte. Frau Lena hatte ihn genommen wie er war. Mit seinen großen Vorzügen und seinen kleinen Defekten.
Links und rechts von der mit Steinplatten belegten Hausflur hatten sie je ein kleines Ladengeschäft eingerichtet. Trat man ein, so führte die Tür linker Hand in das Lederlädchen des Herrn Johann Bettermann, die rechter Hand in die Kolonialwarenhandlung von Frau Helene Bettermann. Im Hintergrund der Hausflur hing an starkem Tauwerk die große Lederwage, auf der an Kunden, die »im Stück« kauften, die unzerstückten Lederrollen verwogen wurden. Aber das kam nicht häufig vor. Meist wurde die große Wage als Schaukel benutzt. Wenn nach Feierabend Herr und Frau Bettermann, jedes auf einer der breiten hölzernen Wagschalen sitzend, die Tageskasse der beiden »Handlungen« verglichen und lachend um das größere kaufmännische Genie gestritten hatten, pflegte Herr Johann mit mächtigem Schwung sein Wagebrett in Bewegung zu setzen, daß seine Stiefelsohlen fast die niedere Decke berührten. Er behauptete, das sei das beste Mittel gegen Asthma. Die Portion, die er hiervon heimgebracht hatte, war neben den durchschossenen Beinfesseln die einzige Beute, die er in Frankreich gemacht hatte.
»Annere,« erklärte er, »trage auf ihr' Brust das Eisern Kreuz; ich mei' Asthma. Der echte Padriodismus macht darin kein Unnerschied.« –
Heute saß Herr Bettermann mit erwartungsvollem Gesicht am Kaffeetisch. Mutter war soeben mit dem Frühstückstablett zu dem neuen Fräulein hineingegangen, das ihnen die beiden Staatsstuben abgemietet hatte. Nun konnte er kaum erwarten, was Mutter ihm von dem feinen Prinzeßchen zu berichten haben würde. Denn er war ein Freund von Geschichten.
Unaufhaltsam rührte er in seinem weitbauchigen Kaffeenapf, auf dessen milchigem Spiegel die Semmelbröckchen wie kleine Schiffe schwammen, und spitzte die Ohren. Der Tisch war schneeweiß gescheuert, und der Fußboden, der dem Tisch an Reinheit nichts nachgab, mit feinem glitzernden Sand bestreut, aus dem Frau Lena mit Hilfe eines Haarbesens kunstvoll verschlungene Arabesken herzustellen verstand. Die Morgensonne schlüpfte durch die kattunenen Gardinen und tanzte vor Herrn Johanns gespannt nach der Türe blickenden Augen, der sie von Zeit zu Zeit mit einer plötzlichen Handbewegung wie eine Fliege wegzufangen versuchte. Jetzt atmete er strahlenden Gesichtes auf. Er hatte vernommen, wie drüben die Tür aufgeklinkt wurde. Aber das Strahlen wich schnell einem verwunderten Staunen. Das waren doch vier Füße, die da herantrippelten? Und Mutter hatte deren doch bloß zwei. Sollte – –? Er strich sich just noch den Milchschmand aus dem stoppeligen Schnurrbart und drückte mit den Kniekehlen den Stuhl vom Tisch, als er auch schon eine Verbeugung zu machen hatte. »Das gnädige Fräulein – schenken uns die Ehr' – –?«
»Guten Morgen, Meister Bettermann! Ihre Frau hat gesagt, sie wüßte nicht, ob Ihnen das paßte, daß ich mit Ihnen zusammen Kaffee tränke. Da wollt' ich Sie nur selber fragen.«
»Mei Frää hat des gesagt – –?«
»Mann, sprich Hochdeutsch!«
»Fräulein werden entschuldigen. Fräulein können natürlich die Frankfurter Mundart nicht verstehen. Die ist ja sozusagen auch nur zum Spaß. Wir Frankforter sprechen alle ein sehr rein Hochdeutsch, wann wir nur mögen.« Er schöpfte Atem, sah Helga fröhlich lachen und lachte fröhlich mit. »Nur is es schon, eher als net, ein Hochdeutsch mit Streife.«
»Ach, Meister Bettermann,« sagte das Mädchen und reichte ihm die Hand, »ich werd's schon verstehen, wenn Sie mich nur an Ihrem Tisch haben wollen. Bei uns zu Hause wurde ja auch immer Hochdeutsch mit Streifen gesprochen, aber mit französischen, englischen und italienischen Streifen.«
»Mache Se kei Sach'!« rief Herr Bettermann. »Is des die Möglichkeit? Richtig Französisch und Englisch un – un Ita – Italliänisch?«
»Meine Mutter war mehr in fremden Ländern als zu Hause gewesen.«
»Awwer, Fräulein, nehme Sie doch Platz. Wann's Ihne hier wirklich net zu schlecht is. Mutter,« flüsterte er, »is des kei Witz? Will des Fräuleinche als eweil bei uns speise?«
»Ja, Mann,« nickte Frau Lena und ahmte dabei sein verblüfftes Gesicht nach, »sie will als eweil bei uns speise; Morgens, Mittags und Abends. Aber nur, wenn du Hochdeutsch red'st, Mann.«
»O, ich – –« sagte Herr Bettermann beruhigend, »o, ich – –!« als wär' ihm das eine Kleinigkeit.
Als er sich niedergesetzt hatte, entdeckte er zu seinem Schrecken die lustig herumschwimmenden Semmelbrocken in seiner Kaffeetasse. Schnell hielt er die Hand vor. Aber das Mädchen, das ihm so schlicht und schmuck im blauen Tuchkleidchen gegenübersaß, hatte sie schon erspäht, und dem Meister ging langsam die Kehle zu, und er bekam einen feuerroten Kopf. Wie aus weiter Ferne nur hörte er die Worte seines feinen Gastes: »Genau wie mein verstorbener Papa. Der brockte sich auch immer die Semmel in den Kaffee, weil er dann gemütlicher die Zeitung lesen konnte. Wenn ich ihn recht quälte, durfte ich es auch. Ich tät's furchtbar gern.«
»Aber Fräulein – aber Fräulein –!« rief Herr Bettermann, suchte nach Worten, fand sie nicht, ergriff den Brotkorb und schüttelte ihn vergnügt vor ihren Augen. Der Albdruck war gewichen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Und keine fünf Minuten waren verstrichen, da erzählte er, weit über den Tisch gebeugt und mit hin und her wiegendem Zeigefinger, der neuen Hausgenossin die Geschichte seiner »Spekulation«.
»Fräulein,« schloß er atemlos, »denn aber erst! Denn aber solle S' es bei uns gut hawwe. Mer ziehn uff die Bockemer Landstraß oder ins Palmegartevertel, und alle Mittag Fisch und Fleisch und Gut's. Un Pension von Ihne, Pension, des gibt's net. Gelle, Mutter?«
Und die wackere Frau Bettermann nickte den beiden freundlich zu und strich, heimlich prüfend, mit der verarbeiteten Hand über das glatte graue Haar. Von heute an, das merkte sie schon, würde sie sich für zwei Kinder zu sorgen haben. Für ihr »Kleines« und für ihr »Großes«. Aber das verschlug ihr nichts. Sie gehörte zu den Frauen, deren Leben erst reich ist, wenn es Müh' und Arbeit gewesen ist.
»Nun muß ich ins Konservatorium,« sagte Helga, und während sie das Wort aussprach, stieg ein Glücksleuchten in ihre Augen.
Da winkte ihr Meister Bettermann, zu ihm ans Fenster zu treten. »Ich hab's vor der Nas',« schmunzelte er und deutete mit einem Ruck des Kopfes nach einem großen alten Hause, das über der Gasse lag. »Ich hab' schon oft gemeint, es wär' so gut wie e Filial. Oder noch musikalischer als das Konservatorium.« Er mühte sich sichtlich, der gebildeten Unterhaltung gemäß ein reines Hochdeutsch zu sprechen. »Sehen Sie, Fräulein, dort oben, wo die runden Fenster sind.«
Helga stand im offenen Fensterrahmen und blickte zu dem breitausladenden altertümlichen Bau hinauf, der vor Jahrhunderten wohl die Wiege eines mächtigen Kaufherrngeschlechts gewesen war. Schwere Balkenköpfe ragten zwischen dem Steingequader hervor, kunstvoll geschmiedete Eisenbeschläge hielten das Holzwerk der Türen und Fenster, und steinerne Gnomen von groteskem Aussehen spieen vom Dach den Regen in die Traufen. Unter dem Dach aber zog sich eine Flucht kreisrunder Fenster, bis zur Hälfte ihrer Höhe durch schmiedeeiserne Geländer geschützt, da sie der niederen Decke des obersten Stocks wegen nur eine Handbreit hoch über dem Fußboden standen.
»Der Grubeshof,« sagte Herr Bettermann, und sein Gesicht trug einen verehrungsvollen Ausdruck. »Dort oben hauset der Letzte des Geschlechts.«
»Es ist ein prächtiger Mensch,« antwortete das Mädchen.
Aber Herr Bettermann schien anderer Meinung, denn er schüttelte mißbilligend den Kopf.
»Er hat mir gestern den Weg nach Hause gezeigt,« fuhr das Mädchen fort. »Mir war Herr Grube gleich sympathisch.«
»Sympathisch?« wiederholte der Meister, als wenn ihm das Wort Schmerzen bereitete. »Wie kann des sympathisch sein, wann er doch der Letzte is. Die alt Frankforter Familien, des is doch unser Stolz. So was derf nu emal net aussterbe.« Und ärgerlich setzte er hinzu: »Ich mag's net leide!«
Helga Nuntius schaute den Sonderling verwundert an. Was für ein Interesse hatte denn der biedere Meister an dem Wohl und Wehe seiner bevorzugteren Mitbürger zu nehmen? Sie kauften doch weder Leder bei ihm, noch deckten sie ihren Bedarf an Kolonialwaren just in dem Lädchen Frau Helene Bettermanns, die Patriziergeschlechter der stolzen Mainstadt.
Herr Johann Bettermann fühlte den Blick und errötete lebhaft. »Später, später,« murmelte er verwirrt und wollte sich zurückziehen. Dann aber verbeugte er sich mehrere Male mit glücklichem Lächeln zum Fenster hinaus, und als Helga sich umwandte, sah sie in dem kreisrunden Fensterrahmen des Hauses jenseit der Gasse ein großes dunkelhaariges Mädchen stehen, einige Jahre älter als sie selbst, und ohne daß sie es wollte, nickte auch sie ihm zu, und das große Mädchen winkte vergnügt mit der Hand.
»Das ist die Johanna,« sagte Herr Bettermann stolz.
»Das kann nur Herrn Grubes Schwester sein,« meinte Helga Nuntius nachdenklich.
»Sie werd sich scheniern!« lachte Herr Bettermann.
»Es ist wohl Ihre Freundin?« neckte Helga und legte dabei den Kopf auf die Schulter.
»'s is halt der Engel vom Grubeshof. Frage Sie mal nach. Die Herrn Konservatoriste können's bezeuge.«
»Lieber Gott!« schreckte das Mädchen auf, »ich muß ja ins Konservatorium. Adieu mittlerweile, adieu!«
»Grüße Se den Herrn Marschall im Konservatorium, und er soll sich als widder blicke lasse.«
»Kenn' ich nicht!« und lachend schlüpfte Helga zur Tür hinaus.
»Werd schon, werd schon!« rief ihr Herr Bettermann nach. »Wann er die sieht!« und er rieb sich die Hände. Dann ging er zu seiner Frau in den Laden, gab der Abwehrenden einen Kuß und setzte sich, obwohl es Morgen war, auf die Lederwage im Hintergrund der dämmerigen Hausflur, um sich zu schaukeln, daß das Schuhzeug flog. Und dabei war von Asthma heute gar keine Rede …
Helga Nuntius war durch die Kathrinenpforte zur Hauptwache gelangt, hatte einen elektrischen Straßenbahnwagen erfragt, der sie bis in die Nähe des Konservatoriums führte, und stand nun – es schlug neun Uhr – in dem Zimmer, das ihr Professor Faller als Unterrichtsraum bezeichnet hatte. Sie mußte sich eine Viertelstunde gedulden, bevor sie die schlürfenden Schritte des alten Sängers vernahm. Als er eintrat, schien seine Laune nicht so festlich zu sein, wie Helga von dem für sie so weihevollen Augenblick erwartet hatte. Er nickte der Schülerin kurz zu, riß den Fensterflügel auf, fuhr sich mit der Hand in den breiten Hemdkragen und räusperte sich zu verschiedenen Malen ebenso anhaltend wie ungeniert. Dann schloß er das Fenster wieder und kletterte, wobei er das Gesicht verzog, auf die Fensterbank. Als er sich endlich eingerichtet hatte, meinte er mit einem bitteren Gähnen: »Kind, Kind, dös sag' ich dir gleich zuallererst: Trink keinen Sekt. Allemal schmeckt er am anderen Morgen nach dem verflixten Stoppel! Wenn du schon trinken mußt – und der Mensch muß – trink Rheinwein, Mosel, überhaupt – bleib im Land und nähr dich redlich. Ui – – jeh – –! Also los!«
Helga sah den verehrten Lehrer mit Augen an, in denen die Verständnislosigkeit wohnte. War das der Gruß der Musen, von dem sie geträumt hatte? Die Hymne an die Musik, die den ersten Schritt der Novize wie ein Segensspruch geleiten sollte hinein in das Land der Neugeburt, über die silbernen Pfade und goldenen Brücken, über smaragdene Flüsse und purpurne Auen, bis zu dem fernen, milchweißen Altar, hinter dem ein einsamer, ernst ragender Lorbeerbaum eine immergrüne Krone wiegte? Ein kurzes Frösteln lief ihr durchs Blut. Die Sonne kroch in die Ecken. Das Zimmer war grau.
»Los, Kind, los! Sein S' net so verschwenderisch mit der Zeit. O du mein Österreich, diese ahnungslose Jugend!«
»Was befehlen Sie, das ich singen soll?« fragte das Mädchen mit unsicherer Stimme.
»Singen? Warum net gar! Vielleicht die Elsa oder die Siegelind? Singen! Erst singen lernen, verehrte Senta, den Apparat in die notwendige Verfassung bringen, das Handwerksmäßige beherrschen, mit Kniffen und Pfiffen, und dann in Gott's Namen: losgeschrieen. Und jetzt nehmen S' die Übungen dort vor. Wir wollen einmal die Method' von der Frau Mutter revidieren.«
Er kletterte steifbeinig vom Fensterbrett und setzte sich an den Flügel, um die Akkorde anzugeben. Helga Nuntius nahm das Übungsheft auf. Die Freude in ihr war ganz klein geworden, kaum, daß sie sich noch regte. Die Notenblätter knisterten in ihren Händen.
»Tonleitern!« gebot der Lehrer, und er bezeichnete das Übungsstück.
Sie warf einen Blick hinein und ließ die Arme sinken. Dann nahm sie sich zusammen, dachte an ihre Kunst und begann nach Vorschrift.
»Langsam,« vernahm sie die Stimme des Meisters, »Stimme entwickeln, gleichmäßiger atmen – so – o – so – o, nach der ersten Note eines jeden Taktes absetzen, na ja! Und jetzt gleich die Prob' aufs Exempel. Gott, wie talentvoll. Da können wir schon das Tempo beschleunigen und zwei bis drei Takte in einem Atem nehmen. Bravios, mein Kind, bravios! Morgen können S' in der Hofoper auftreten! Vorher aber, wenn S' gestatten, singen S' noch die nächste Tonart in einem Atem, hören S', in einem! Ich trag' die Verantwortlichkeit.«
Und Helga, der kleinen Spöttereien nicht achtend, dachte immer stärker an ihre Kunst, sang und wiederholte und begann aufs neue und hatte nur das wunderliche Gefühl, wie seltsam fremd ihr die eigene Stimme in den Ohren klang, wie von einem unbekannten Menschen, der, unsichtbar ihren Augen, hinter einer fernen Kulisse stände.
»Atem nachschieben! Schieben S' Atem nach!« hörte sie eine andere ferne Stimme, hart und brüchig, ertönen. »Hier wird kein Häcksel g'schnitten, hier werden Kränz' g'flochten. Tempo, Tempo! Schieben S' Atem nach!«
Da sang sie die Wiederholung zu Dank. Und nun ging es weiter in Terzen, Quarten, Quinten und Arpeggien, bis sie mit einer Trillerskala, die sie aus geschmeidiger Kehle hervorperlen ließ, enden durfte.
»Hm,« sagte Faller, spielte noch ein paar Läufe und erhob sich. Erwartungsvoll blickte sie ihn an. Da trat er zu ihr und klopfte ihr die eiskalte Wange.
»Mädel,« sagte er, »Mädel!« … Und er überlegte … »Weil du so brav bist, weil du gar so brav bist, darfst hinüberspringen und mir ein Frühstück bestellen. Ich hab' mein's vergessen.«
Da senkte sie den Kopf.
»Also gerad' über die Straßen. Gehst ruhig an den Schalter und sagst, eine halbe Zeltinger sollten s' herschicken für den Herrn Professor Faller und ein paar Kaviarschnitten. Und wenn der Haderlump nimmer anschreiben will, sagst, wenn er's im Kopf behalten wollt', wär's dem Herrn Professor Faller auch recht.«
Da nestelte sie still ihr Hütchen auf und ging über die Straße und machte die Bestellung. Unterwegs wollten ihr die Tränen kommen. Aber sie bezwang sich. Was war ihr denn nur? Und sie grübelte in sich hinein und fand es. Und fand eine Leere in ihrer Seele, als hätte man ihr heimlich einen Schatz fortgenommen …
Als sie in das Unterrichtszimmer zurückkehrte und dem Professor mit scheuer Stimme mitteilte, daß der Kellnerbursche gleich erscheinen würde, fand sie einen Herrn vor, breitschultrig und muskulös, mit jungem, glattrasiertem und hochmütigem Gesicht.
»Braun,« sagte er kurz, verbeugte sich obenhin und blätterte ruhig in einem Klavierauszug weiter.
»Fräulein Helga Nuntius,« stellte der Professor vor. »Wissen S', Braun, die Tochter von der großen Nuntius, die wie keine zweit' die Amerikaner schröpft. Jetzt ist sie wieder auf der Tournee. Wenn Sie sich nicht beeilen, finden S' bald kein Dollarstück mehr vor, von Neuyork bis San Francisco.«
Braun lachte. »Ich nehm's auch in Papier, Herr Professor.«
»Na ja,« knurrte der Griesgram, »so ein Schlankerl,« und er knuffte ihn in die Seiten. »Sie werden's schon verstehen, Sie Geschäftsmensch.«
»Hören Sie, Professor, goethisch haben Sie Ihre Kunst auch nicht ausgeübt. Nach der Melodie: ›Das Lied, das aus der Kehle dringt, ist Lohn, der reichlich lohnet.‹ Sie steckten zunächst mal die goldene Kette ein.«
»Stimmt, junger Freund. Aber wenn der Uhland sang: ›Sie wirft dem Sänger nieder die Rose von ihrer Brust,‹ ich hab' auch die Rose nicht liegen lassen.«
»Und haben bei dem Bücken nach den Rosen die goldene Kette wieder verloren.«
Der alte Lehrer blickte seinen Lieblingsschüler durchdringend an. Dann legte sich sein Gesicht in sarkastische Falten.
»Bei Ihnen hat's freilich keine Gefahr. Die neue Generation singt mit dem Hirn statt mit dem Herzen. Wir, schaun S', wir haben uns an die Herzen g'halten, Sie halten sich an den Geldbeutel. Kommt drauf an, Freunderl, welche Kapitalsanlag' am End' aller Tage die ausdauerndere g'wesen ist.«
»Seien Sie ehrlich, Herr Professor. Und was bleibt von Ihrer Kapitalsanlage?«
Da schritt der alte Sänger auf den jungen Schüler zu, nahm ihn beim Rockknopf und führte ihn in eine Ecke, damit das Mädchen seine Worte nicht hören sollte. Und mit seiner brüchigen Stimme flüsterte er dem Jüngeren zu, während eine rote Farbe über die vergilbten Wangen huschte und ein schwelgendes Licht in seinen verquollenen Augen schwamm: »Was davon bleibt? Sie müssen Sechzig werden, bis Sie das verstehen, bis Sie das Wort ›Erinnerung‹ verstehen. Nicht die einseitige, die melancholisch macht und Ihnen zuruft, wenn sie zu Besuch erscheint: Du warst doch ein rechter Esel. Sondern die andere, die große, wissen S', die immergrüne, die auf beiden Seiten ist. Werden Sie Sechzig und bleiben Sie Ihren Prinzipien treu und häufen Sie das Geld scheffelweis zusammen – meinethalben, Sie kommen in die Kunstgeschichte. Und es g'hört zum guten Ton, laut von Ihnen bei Tisch zu reden wie von einem seltenen Kunstwerk. Aber werden Sie Sechzig wie ich, Freunderl, und Geld und Stimm' hat längst der Deixel g'holt, und bisweilen lassen S' gar das Frühstück anschreiben – was glauben S', wie von mir bei Tisch g'sprochen wird? Wenn schon, dann leise. Ganz leise, aber auch mit ganz großen Augen. Und wenn man Ihren Namen ehrfurchtsvoll genannt und wieder in den Notenschrank gestellt hat, dann flüstert's meinen Namen noch immer, und das Flüstern geht mit bis ins Zimmer der schönen Hausfrau, und die erwachsenen Töchter, die um sie herumsitzen, lauschen mit einem brennenden Herzen und wissen: das war der Liebling der Frauen und die Schwärmerei der Mutter, als sie noch ein Mädchen war. Und wenn sie sich zur Nacht die Decke über die kleinen Ohren ziehen, träumen sie von mir, als ob ich immer noch Dreißig wär', und die Erinnerung, diese Erinnerung läßt mich nicht altern und kommt den Jungen zu gute. Verstehen S' mich jetzt recht, was bei der Kapitalsanlag' herauskommt? Ihr modernen Sänger schafft nur für euch selber, baut für euch Paläste und legt für euch das Geld auf Zinsen. Ich aber hab' für euch alle geschafft, und wenn ich ein tolles Künstlerleben geführt und beim Rosenaufheben die goldenen Ketten und 's Portemonnaie verloren hab', ich hab' der menschlichen Begeisterung für die Künstler Wohnungen bereitet und mein Kapital in weichen Herzen angelegt, für euch alle, für den Nimbus der Kunst! Das ist es: mitgeholfen für den Nimbus der Künstler, ohne den ihr alle Spieluhren wär't! – Herein! Ach schau, der Ganymed. Stellen S' den Zeltinger und 's Frühbrot auf die Fensterbank. Was? Geld will der Padrone? Sagen S' Ihrem Meister, wenn ich ein Geld hätt', ging ich in den Frankfurter Hof dinieren und ließ mir nicht aus seiner Winkelkneip' mein Frühstück kommen. Schon gut, schon gut, und schön' Guten Morgen!« – –
Helga hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Der Redefluß des alten Sängers hatte sich so schnell entwickelt, daß es ihr unmöglich gemacht war, sich zu verabschieden. Zuerst hatte sie nichts von des Professors Worten vernommen. Dann aber, als seine Stimme in der Begeisterung anschwoll, war Satz für Satz zu ihren Ohren gedrungen. Sie fühlte sich abgestoßen und angezogen, empfand Sünde und Herrlichkeit, geriet in Verwirrung, Erleuchtung und neue Verwirrung. Es war ihr, als müsse Braun jetzt etwas Großes, Starkes und Befreiendes sagen, von den stillen, hohen Zielen der reinen Kunst.
Braun aber hatte dienstfertig die Flasche entkorkt und des Professors Glas gefüllt. »Prosit. Wenn's Ihnen recht ist, können wir dann beginnen.«
Kein Wort über die Kunst. Nur praktische Erwägungen … Der Professor ging kauend an den Flügel und gewahrte Helga.
»Sind S' auch noch da? Na, von mir aus können S' bleiben und hospitieren. Da werden S' gleich einen Begriff kriegen, was singen heißt. Also, Braun, dritte Szene. Gestern war's doch nur halber Kram.«
Seine knöchernen Finger glitten über die Tasten. Dann wurden sein Blick gespannt und seine schlaffen Züge ehern. Der Künstler in ihm war erwacht. Braun stand noch immer nachlässig an den Flügel gelehnt. Jetzt klang seine Note an. Da, mit einem Schlage, ging auch mit ihm eine Veränderung vor. Sein Körper reckte sich in jugendlicher Kraft, seine hochmütigen Augen bekamen mannbaren Glanz –
»Ein Schwert verhieß mir der Vater – –«
Sinnend und träumerisch floß die Waffenklage in die Liebesklage. Dann aber schwoll die Stimme an, und die Leidenschaft der Jugend drängte nach der Tat und dem Weib –
»Wälse, Wälse, wo ist dein Schwert – –«
Helga fuhr auf. Das war der Ruf, den sie gestern vernommen hatte. Das war die Stimme, die gestern schon ihrer Phantasie die fernen Gärten erschlossen hatte, angefüllt mit weißen Götterbildern, nach denen sie sich sehnte. Die Zeit ging dahin, und sie merkte es nicht. Auch den Sänger sah sie lange nicht mehr, sie hörte nur sein Lied. Und aus dem Lied strömte eine hohe sinnliche Glut und erfüllte die Luft, wie einst die Hütte Hundings.
»Dich, selige Frau, hält nun der Freund, dem Waffe und Weib bestimmt!
Heiß in der Brust brennt mir der Eid, der mich dir Edlen vermählt.
Was je ich ersehnt, ersah ich in dir;
In dir fand ich, was je mir gefehlt!«
Da saß sie zusammengekauert und ließ die Musik der Worte, deren Sinn sie nicht mehr hörte, über sich Herr werden. Nur einmal noch griff sie ihn auf.
»Auflach' ich in heiliger Lust – –«
Und sie spürte nichts als ihr schlagendes Herz. – –
Braun hatte ein seidenes Tuch gezogen und sich die Stirn getrocknet. Der Professor sprach einige Worte über das technische Anfassen verschiedener Stellen. Der Deckel des Flügels klappte zu. Ein Räuspern, ein Witzwort, ein kurzes Lachen – die Stunde war zu Ende, die Kunst erledigt.
»Schaun S', Braun,« Professor Faller winkte seinem Schüler und strich über Helga Nuntius' Haar, »dös wär' die geschaffene Siegelind' für Sie. Die wird sich hineinwachsen, stimmlich und körperlich. Geben S' acht! Grüß Gott, Kinder!«
Als Helga stumm neben Braun über den Korridor einherschritt, erklang ein lustiges Pfeifen hinter ihnen drein. Unwillkürlich hielt Braun den Schritt an, und auch Helga blieb stehen.
»Der Marschall,« sagte Braun. »Der talentvollste Kompositionsschüler, aber bodenlos leichtsinnig. Lebt in den Tag.«
Da stand er neben ihnen, rank und schlank, mit gelbem Haar und hellem Blick, guckte lachend aus kühnem Raubvogelgesicht dem Mädchen in die Augen und bot ihm die Hand. »Der Braun wär' im stand gewesen, Sie einfach zu eskamotieren. Ein Gemütsmensch im Herrn! Geteilte Freud' ist doppelte Freud'. Ich heiße Marschall, Fräulein.«
»Fräulein Nuntius,« stellte Braun nachlässig vor, »des Gesanges Beflissene.«
»Dann, liebe Schwester in Apoll,« meinte der Übermütige, »wie wär's mit einem Frühschoppen?«
»Du bist verrückt,« sagte Braun, lüftete ein wenig seinen Hut vor der jungen Kollegin und ging seiner Wege.
Sie waren durch die Pforte ins Freie getreten, und nun schlug auch Helga, ohne von dem Hinzugekommenen weiter Notiz zu nehmen, den Weg nach Hause ein. Der aber hielt wacker mit. Und als sie, um ihn los zu werden, mit stolzem Aufwerfen des Kopfes ihn anherrschen wollte, blickte sie zu ihrer Überraschung in ein so lustig demütiges Gesicht, daß sie schnell wieder zur Seite sehen mußte.
»Seien Sie doch nicht gleich bös mit mir,« schmeichelte er knabenhaft. »Ein christlicher Frühschoppen –« Da traf ihn doch noch der kühle Blick. »Gott, Fräulein, wenn Sie wollen, zeig' ich Ihnen auch das Goethehaus.«
»Herr Marschall,« sagte sie stehenbleibend.
»Fräulein,« antwortete er ganz treuherzig und bescheiden, »wir haben ja denselben Weg. Sie wohnen doch bei meinem Freund und Gönner Johann Bettermann. Was soll der denken?«
»Ach,« fiel sie lachend aus ihrer Rolle, »daß ich es nicht vergesse: er läßt Sie grüßen und wünscht Ihren baldigen Besuch.«
»Sehen Sie wohl,« triumphierte er, »ein so würdiger Bürger bittet um meinen Besuch, um meinen baldigen Besuch sogar! Das ist eine Ehrenerklärung! Fräulein, jetzt können Sie sich, ohne das Greisenhaupt Herrn Bettermanns zu beleidigen, unmöglich noch weigern, mit mir zum Goethehaus zu gehen.«
»Werden Sie keine losen Scherze dort machen?«
»Bei Goethe zu Besuch – –?«
Da gingen sie. Über die Zeil und durch Winkel und Gassen, bis zum Hirschgraben.
Das Reich von Frau Rat – –! Ein altes, braves Patrizierhaus. Aus eisenumklammerten Erdgeschoßscheiben und luftigen Giebelfenstern schaut es auf die enge Gasse, mit der Luke droben in der Brandmauer, die der gestrenge kaiserliche Herr Rat brechen ließ, um von hier aus besser die Straße und den herumschwärmenden Sohn im Auge zu behalten. Und während die Schritte der beiden jungen Menschen, die auch an ihrem Teile sich der Kunst hingeben wollten, durch die geweihten Räume schallten, wurden die Erinnerungen des Hauses lebendig, und eine Fülle von Gesichten strömte auf sie ein …
»Johann Wolfgang,« murmelte Richard Marschall, und er wiederholte das Wort wie einen Bannspruch, so oft sie ein neues Zimmer betraten: »Johann Wolfgang …«
Sonst sagte er nichts. Aber jedesmal wurden Helga Nuntius' Augen groß, und sie sah die Geister lebendig werden und ihr heiter oder gravitätisch zunicken. Und ihr Sinn wurde träumerisch und feierlich zugleich von den lautlos huschenden Erscheinungen, aus Dichtung und Wahrheit gemischt, die den späteren Geschlechtern teuer geworden, als seien sie ihnen selbst Geliebte gewesen oder brave Kameraden …
»Johann Wolfgang,« murmelte Richard Marschall, und die aufgesammelten Reliquien begannen zu erzählen. – –
Durch die Luke, die Goethes Vater brechen ließ, blinkte die Sonne und vergoldete die engen, braunen Gemächer, in denen einstmals ein Knabe gebändigt werden sollte, der, kaum dem Jünglingsalter entwachsen, gottähnlich eine Welt in Banden schlug. Und es ging ein hoher Schein vor ihnen her, und schweigend schritten sie ihm nach durch die Straßen Alt-Frankfurts. – –
»Ich danke Ihnen,« sagte Helga Nuntius endlich, »das war die schönste Stunde.«
Und sie schüttelten sich zum Abschied kameradschaftlich die Hände.