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Richard Marschall war in Hamburg angekommen und im »Hotel zu den vier Jahreszeiten« am Alsterbassin abgestiegen. Als er seine Kleider gewechselt und sich erfrischt hatte, trieb es ihn trotz der späten Stunde noch einmal auf die Straße.
Das ist eine köstliche Unruhe, dachte er und versuchte, dem Gefühl auf den Grund zu kommen. War es die Freude, das, was er den Geistern abgerungen hatte, die in stillen Nachtstunden seinen Arbeitstisch wispernd umgaben, nun in plastischen, farben- und tonsatten Bühnenbildern vor sich erstehen zu sehen? War es die Kampfesfreude, die jeden Mann vor der Schlacht erfüllt und ihm gerade durch die Ungewißheit doppelte Spannkraft gibt? Oder war es die Luft, die vom Meere kam, dieselbe Luft, die auch Helga Braun seit Wochen atmete? – –
Er lachte wie ein Knabe, der sich über einem Geständnis ertappt hat. Es wird schon die Luft sein, sagte er sich, ehrlich währt am längsten.
Damit rückte er den Hut in den Nacken, ließ den Havelock flattern und begann in den nächtlichen Straßen alte Studentenlieder zu pfeifen. Die standen der nüchternen Handelsstadt sonderbar zu Gesicht, und wo ein später Bürger vom mitternächtigen Stammtisch heimkehrte, blieb er stehen und sah dem aufgeräumten Wanderer verwundert nach. »Tetje, Tetje, pett di man nich up'n Slips!«
Aber das Staunen verschlug bei Marschall nichts. Er pfiff und sang vom Herrn von Rodenstein und vom Grafen von Rüdesheim, vom Zwerg Perkeo und von Frankreich und dem Böhmerwald, und strich durch die Straßen und hätschelte seine köstliche Unruhe. Das ist ja rein jungenhaft, dachte er, aber warum auch nicht? Noch ist die Jugend so schön! Und er trieb sein Wesen weiter.
Er sang und summte, bis er sein Hotel wieder aufgefunden hatte und ihm der diensttuende Hausknecht mit hochgehobenem Kerzenleuchter lautlos sein Zimmer wies. Dann schlief er, wie er nur in seiner Kinderzeit geschlafen hatte. –
Auf zehn Uhr war die Hauptprobe seiner »Hadwiga« angesetzt. Aber um acht Uhr war er schon auf dem Wege zum Blumenhändler. Und um neun Uhr hielt Helga Braun einen frischen Strauß in der Hand und las lächelnd die Worte: »Gruß aus Frankfurt – durch gütige Vermittlung Hamburgs.«
»Sag mal, Helga,« meinte Robert Braun, »er wird doch nicht erwartet haben, bei uns als Logiergast eingeladen zu werden?«
»Aber nein. Das würde er nicht einmal angenommen haben.«
»Na, weißt du, das steht auf einem anderen Blatt. Hotelkosten spart jeder gern.«
Helga Braun versenkte ihr Gesicht in den duftenden Strauß. Und aus den weichen Blumenblättern heraus sagte sie: »Er ist eben nicht ›jeder‹. Er ist ein sonniger, fröhlicher Mensch, dem nur das steht, was er und nicht was ein anderer tut.«
»Hast wohl noch ein Restchen von Gefühl für ihn bewahrt?«
»Mit Gefühlsresten hätte ich dich nicht geheiratet, lieber Robert.«
»Verzeih! Es war eine Dummheit und sollte ein Scherz sein. Wenn es dir recht ist, machen wir nach der Hauptprobe mit Marschall gemeinsam eine Fahrt durch Hamburg und speisen dann zusammen. Gegen zehn Uhr Abends habe ich zwar noch eine Zusammenkunft mit unserem Agenten, der mir heute schrieb, er würde herüberkommen. Aber bis dahin habe ich wohl auch in deinen Augen meine Pflichten gegen deinen Freund erfüllt.«
»Ich freue mich, daß du dir ein kleines Opfer auferlegst.«
»Na, siehst du, ich kann auch Opfer bringen.«
»Robert, ein einziges – –«
»Was?«
»Bring mir ein Opfer. Das Opfer, um das ich dich gestern bat. Ich würde dir ja so unendlich dankbar sein.«
»Helga, ich muß doch ernstlich bitten, mir am frühen Morgen nicht die Laune zu stören. Wir sind doch keine Kinder.«
»Ich war es nie und möchte es einmal sein. Und wenn es nur ein Jahr wäre.« …
Er sah auf die Uhr. »Du hast wohl die Güte, dich zum Theater fertig zu machen. Die Probe beginnt pünktlich.«
Da nestelte sie die Blumen in den Gürtel, nahm Jakett und Hut und schritt wortlos neben ihm her. –
Richard Marschall hatte sich beim Direktor melden lassen und saß im bequemen Klubstuhl dem plaudernden Herrn gegenüber, der hinter seiner Jovialität einen ungewöhnlichen Geschäftssinn barg. Der kleine, graue Mann, dem Titel und Orden für Kunst und Wissenschaft verliehen waren, der die beste Oper in Deutschland unterhielt, wußte auf der Hamburger Börse so gut Bescheid wie im Hamburger Stadttheater. Seine Sänger und Sängerinnen, seine Autoren und Komponisten waren für ihn Spekulationswerte. Er selbst besorgte die Reklame. Und dafür, daß sie ihm nicht entschlüpften, wenn er sie in Kurs gebracht hatte, machte er Kontrakte von unübersehbarer Dauer. Wem er sein Interesse schenkte, der war über die Notdurft des Lebens hinausgehoben, aber seine Freiheit war verloren. Was wissen verwöhnte Kanarienvögel von Freiheit!
»Zigarre gefällig, Herr Marschall?«
»Danke sehr. Aber ich muß wohl gleich auf die Probe.«
»Dann darf es also eine Zigarette sein. Hier, bitte! Direkt vom Sultan.«
»Nicht schlecht, solche Bekanntschaften.«
Dann sprachen sie von Marschalls Oper und seiner Tätigkeit als Hofkapellmeister.
»Wissen Sie, Verehrtester, man soll nicht eher was voraussagen,« meinte der Direktor, »als bis so eine Sache gespielt ist. Aber ich glaube, auf diese Oper ließe sich reisen. Ein erstklassiges Ensemble zusammengestellt und eine Opernstagione eröffnet. Ein paar Wochen hier, ein paar Tage dort. Wie würde Ihnen das gefallen? Unter Leitung des Komponisten natürlich. Ich würde als Impresario fungieren.«
»Das wäre zu überlegen,« erwiderte Marschall, »vorausgesetzt, daß ich von meinem gnädigen Herrn Urlaub erhielte. Glauben Sie denn, daß Sie Robert Braun und Frau Braun-Nuntius dafür gewinnen würden? Dadurch würde das Projekt für mich noch verlockender werden.«
»Kennen Sie die Herrschaften?«
»Mit Braun war ich mehrere Jahre, mit Frau Braun ein Jahr auf dem Konservatorium zu Frankfurt am Main.«
»Ah, Braun! Das ist ein Heros! Das ist ein Phänomen!«
»Sie sprechen nur von dem Gatten. Und Frau Braun-Nuntius?«
»Im Vertrauen, sie beunruhigt mich. War das eine interessante Sängerin, als ich sie vor zwei Jahren in Neuyork hörte! Sie zieht ja auch jetzt noch ganz bedeutend. Aber in der Zwischenzeit muß irgend eine Veränderung mit ihr vorgegangen sein. Ich merkte es auf der Stelle.«
»Sie ist doch nicht – krank –?«
»Krank? So im besonderen sicher nicht. Sie hat's weder auf der Lunge noch sonstwo. Und, es tritt sporadisch bei ihr auf. Aus heiterem Himmel überfällt es sie. Mitten in einer Szene läßt sie nach, bekommt ein müdes Gesicht und übernatürliche Augen. In der nächsten Szene hat sie sich wieder und reißt alles hin. Sie hatte ganz einfach geträumt. Aber auf die Dauer kann das unmöglich gut tun. Häufen sich diese Zustände, so können wir eines Tages erleben, daß sie die ganze Oper wirft und der Vorhang fallen muß. Das würde auch Brauns Renommee schaden. Ich habe mir schon vorgenommen, mal ernstlich mit Braun darüber zu reden. Er soll mal eine Saison allein auf Reisen gehen und seine Frau irgendwo in einem stillen Erdenwinkel zur Erholung installieren. Dann wäre allen Teilen gedient.«
»Ja« – – sagte Richard Marschall, und seine Gedanken waren bei Helga Nuntius, »ja – jetzt muß ich wohl auf die Probe. Verzeihen Sie, Herr Direktor!«
Er warf das Zigarettenende hin, erhob sich schwer und wischte sich über die Stirn, die feucht geworden war.
»Aha,« lachte der Direktor, »Lampenfieber! Da haben wir's.«
»Möglich, möglich –«
»Kommen Sie, ich gehe mit. Wollen Sie auf die Bühne, ins Orchester oder in den Zuschauerraum?«
»Wenn Sie mir nur den Weg zeigen wollen – in den Zuschauerraum. Ich möchte Ihnen dann nicht weiter Ihre Zeit stehlen.«
»Schön, schön. Ich schaue dann hin und wieder mal vor. Also hier hinaus, bitte!«
Richard Marschall befand sich in einer der letzten Sitzreihen des Parketts. Wie lange schon, das wußte er nicht. Eine Musik umrauschte ihn, von der er wußte, daß er sie geschrieben hatte. Bunte Gestalten bewegten sich auf der Bühne und sangen. Singt, singt, soviel ihr wollt, dachte er. Es war ihm so gleichgültig. Dabei horchte er ganz angestrengt. Und immer hörte er eine Stimme sprechen: »Sie hat ein müdes Gesicht – und übernatürliche Augen. – Sie hat ein müdes Gesicht – –.« Er preßte seine Lippen so fest aufeinander, daß sie nur noch eine Linie waren. Und in seinen Augen war etwas Starres und Brennendes.
Krank? Helga Nuntius krank? – – Seelisch? – – Und so sehr, daß es selbst diesem spekulativen Theaterdirektor aufgefallen war? – Wer hatte denn gewagt, wer hatte denn nur wagen können, diese reiche, stille, diese einzigartige Mädchenseele erkranken zu lassen? Statt sie ganz, ganz weich und behutsam zwischen die Hände zu nehmen und sie zu streicheln und zu verwöhnen, diese Seele – – Bis sie die Augen aufschlug und ganz leise sagte: Ich bin ja so glücklich …
Sie hatte doch ihren Mann. –
Und plötzlich würgte es ihn im Hals, und ein wilder, gedankenloser Zorn brauste ihm durch die Adern, daß sich seine Hände ballten und sein Atem stoßend ging. Sie hatte doch ihren Mann! Mein Gott, ja, sie hatte ihren Mann!
Was war das für ein Mensch? Was für ein brutaler, verständnisloser Patron – aber was ging ihn das an? Robert Braun hieß er. Ro–bert – Braun! Wie hatte der Theaterdirektor gesagt? Das ist ein Heros! Das ist ein Phänomen! Ja, Richard Marschall, es gibt solche Leute! Und er lachte grimmig vor sich hin. Und durch sein Lachen erschrak er und wurde gewahr, wo er sich befand, und horchte mit offenen Ohren. Denn eine Stimme füllte den Raum, eine Stimme, die alle Schmerzen, alle Eifersuchtsqualen, alle tiefinnerliche Liebe wiedergab, alles, was er selbst soeben aufgewühlt empfunden hatte – Robert Brauns Stimme.
Was ist das für ein Zauberspuk? ging es ihm durch den Kopf. Was ist das für eine furchtbare Lüge, die Kunst! So schön und so furchtbar wie ein schönes Raubtier.
Aber er fühlte schon die Pranken in seinem Fleisch, er fühlte sich schon als Beute, die Musik schlug ihn in Bann, und wenn er sich bäumte, spürte er den heißen Atem des Untiers.
Robert Braun sang. Aus seiner Stimme strömte etwas heraus, was ohne Umweg ins Blut des Hörers eindrang und ihn glauben machte an meerestiefe Leidenschaften, an Seelen voll verzauberter Rätsel, an eine Liebe, die die unauslöschlichste ist, weil sie die schmerzhafteste ist. An Wunder! An Wunder für den wundersüchtigen Menschengeist!
Wundersüchtig! Das war das Wort. Das war's, was Männer zu Buben, Frauen zu Verlorenen machen konnte. Und auch Helga Nuntius war einmal wundersüchtig gewesen …
Da stand er auf der Bühne, der Wundermann, und war in Wahrheit nichts als ein rechnendes, berechnendes Menschenkind. Aber seine Kunst, seine Musik, seine Lüge – das warf um die Gewöhnlichkeit seiner Seele den Glorienmantel für Weiber und hoffnungsvolle Toren. Für Weiber!
Und neben dem Gatten stand Helga Nuntius und sang. Da vergaß er, was er gedacht hatte.
In ihm war es wie ein unaufhörliches Weinen. Und seine Männlichkeit empörte sich nicht dagegen. Er wußte nichts mehr von Wunder und Verwundern. Er gab sich gar keine Rechenschaft. Nur daß das, was wie ein Weinen in ihm war, Freude hieß, eine Wiedersehensfreude, die ihn rein wusch von allem Ungestüm und jeder Eigensucht, das empfand er.
Und er erhob sich nicht, als der Direktor kam, um ihn nach dem zweiten Akt auf die Bühne zu holen. Er bat, sich erst zum Schluß der Probe der vortrefflichen Künstlerschar vorstellen zu dürfen. Und dann saß er wieder allein und die Probe nahm ihren Fortgang, und er sah Helga und hörte Helga und fragte sich, ob er nicht still hinausgehen sollte und still weiter durch die lauten Straßen Hamburgs bis zum Bahnhof und still nach Hause fahren.
»Hätte ich das ahnen können, hätte ich das ahnen können!«
Er hatte das verträumte Kind im Gedächtnis gewiegt und die Jahre hindurch mit sich herumgetragen. Und nun war es eine sehnsüchtige Frau geworden, so ergreifend in der Schönheit, die sie wie ein Nutzloses trug. Mit einem Frauenmund, von dem er Erwartungen las, müde und heiße Erwartungen. Und seine Augen hingen an diesem Munde, und sein Herz tat schwere Schläge und immer schwerere, bis auch er wußte, daß er nicht derselbe geblieben war, daß die Sehnsucht seiner Jugend längst die Segel gestrichen hatte, und die Sehnsucht des Mannes über das Meer fuhr.
Nein, nein! stemmte er sich entgegen, und bekämpfte sich selbst. Ich weiß es ja allein. Ich sprach es ja nicht aus.
Da erhob er sich leise und hörte, im Dunkel des Parketts stehend, die letzte Szene der Oper an. Neben ihm ging eine Tür. Der Direktor berührte seinen Arm. »Darf ich Sie bitten, Herr Marschall? Die Herrschaften sind jetzt noch auf der Bühne.« Und er folgte ihm und hörte die Namen nennen.
Er hatte dem Kapellmeister die Hand gedrückt und ihm herzlichst gedankt für die vollendete Einstudierung. Er hatte für jedes der Theatermitglieder ein Wort des Dankes, der Anerkennung, der Bewunderung gefunden, er hatte mit Robert Braun fröhliche Wiedersehensworte getauscht, und nun stand er vor Helga, hielt ihre Hand und hatte selbst die Anrede vergessen.
Und da ihr Frauenempfinden zu seinem peinigenden Schweigen die Brücken schlug, kam sie ihm zur Hilfe. »Wofür soll ich Ihnen nun zuerst danken? Für Ihr freundschaftliches Gedenken, für Ihren Blumengruß oder für die wunderbare Rolle, die ich singen darf?«
»Das ist doch alles nur ein Dank von mir, meine gnädige Frau,« hörte er sich antworten.
»Nun, dann für die Freude, Sie wiederzusehen.«
Er nickte nur, und die Hände lösten sich.
»Hast du schon über deine Zeit verfügt?« fragte ihn Braun und schob den Arm unter den seinen. »Wir möchten, bevor wir zu Tisch gehen, ein wenig Luft schöpfen. Vielleicht schließest du dich mir und meiner Frau an?«
Er blickte auf Helga, und da er ihre erwartungsvollen Augen sah, sagte er zu. Da gingen sie miteinander.
»Zum Hafen?« fragte sie, als sie den Holstenplatz erreicht hatten. Und sie wanderten den breiten, weltstädtischen Holstenwall entlang und bogen aus der stattlichen Häuserflucht in die idyllische, durch grüne Anlagen sich schlängelnde Helgoländer Chaussee, und sahen die Seewarte ragen und gelangten an das Hasentor.
»Hast du Hunger?« meinte Braun. »Du bist so schweigsam?«
Richard Marschall blickte ihn überrascht an. »Hunger – –?«
»Du mußt schon entschuldigen, alter Freund, wenn wir dich hier herumschleppen. Aber wenn man eine so anstrengende Partie gesungen hat, ist es uns einfach ein Bedürfnis, erst eine Stunde herumzulaufen. Der Magen ist wie ausgepumpt. Nur frische Luftzufuhr kann den Appetit reizen.«
»Finden Sie, daß er poetischer geworden ist?« scherzte Helga Braun.
»Ein Mann wie Robert Braun kann auf eigene Poesie leicht Verzicht leisten.«
»Seid dankbar, daß ich die eure zum Ausdruck bringe, ihr Herren Komponisten. Wenn man sich den ganzen Tag auf den Proben und abends während der Vorstellung mit Anderleuts poetischen Empfindungen abzuquälen hat, so denkt man weiß Gott nicht mehr an die eigenen und freut sich, ohne Seufzen und Schmachten seinen Leib pflegen zu können.«
»Das ist auch das Bekömmlichste,« pflichtete Marschall bei und warf einen lächelnden Blick auf die mächtige Gestalt Brauns.
»Mach dich nur lustig, mein Sohn,« sagte der mit einem Achselzucken. »Ändern wirst du so wenig an meiner Lebensführung wie meine sehr verehrte Frau.«
»O,« meinte Marschall, und sein Ton sollte neckend klingen, »ich kann nicht glauben, daß du deiner Frau Grund zur Klage gibst – –«
»Sie waren in Frankfurt?« warf Helga hastig ein.
»Ja, meine gnädige Frau, ich war in unserem alten lieben Frankfurt. Ich dachte, es würde Sie vielleicht unterhalten, aus erster Hand von den einstigen Freunden zu erfahren.«
»Deshalb waren Sie dort? Um meinetwegen?«
»Man muß doch, wenn man zu Besuch kommt, ein Gastgeschenk mitbringen. Ich weiß wenigstens, daß wir als Kinder den persönlichen Wert eines Gastes nur nach dem Inhalt seiner Düte beurteilten.«
»Ja,« sagte sie, »dann werde ich wohl auf dem Wege zum Kinde sein; denn ich blicke schon mit gespannten Augen nach der mitgebrachten Düte.«
»Wollen wir nicht das Hafenbild betrachten?« lenkte Braun ab. »Seht mal, das ist die regelrechte Theaterdekoration. Eine Kulisse läuft neben der anderen hin.«
Vor ihnen dehnte sich die weite Wasserfläche. Fern zur Linken schwammen Palissaden als Grenzwächter, und zu ihnen hin liefen die einzelnen Hafenbassins, in denen die Schiffe in langen Reihen, wie auf eine Schnur gezogen, hintereinander lagen, umkränzt von hochaufragenden Lagerschuppen. Schwerfällige Schuten schoben sich zu ihnen hin, Leichterschiffe tanzten neben den gewaltigen Kolossen und rieben sich an den eisenbeschlagenen Schiffsrümpfen wie Kätzchen, die um Futter schmeicheln. Ketten rasselten, Hämmer dröhnten, Menschen schrieen in allen Zungen, und die Schiffspfeifen und Sirenen heulten die Sprache des Meeres hinein.
Und jeder Laut, der erscholl, und die ganze Sinfonie von wogenden Tönen schrie: Arbeit, Arbeit!
Die Arbeit der Welt, im Hafen Hamburgs vereinigt.
Bis in die weiteste Ferne hin Masten und Schlote, Schiffsrümpfe und Eisenkessel. Und um jedes der Ungetüme, die, aus allen Zonen kommend, mit ihrem Bug die Meere hatten aufseufzen lassen, Hunderte von schweißigen, rußigen, verarbeiteten Lebewesen, die sie nicht zur Ruhe kommen ließen im Geben und Nehmen, im Schleppen und Aufbürden, bis von der See, stromaufkommend, neue Ungetüme sich heranwälzten und die freiwerdenden Plätze einnahmen, und durch das Gerassel der Ketten, das Geknarre der Krane, das Hämmern und Heulen auch um ihre Rümpfe das Seufzen scholl, das Seufzen der Menschen, die die Ruhe nicht kennen und nur den Paradiesesfluch, das über die Meere kommende und über die Meere gehende trostlose und gierige Seufzen: Arbeit, Arbeit. – –
Und mitten im Gewühl der Tantaliden geschmückte Barkassen und flinke Jollen mit vergnügt beschaulichen Hafenbesuchern, die für Schweiß und Blut der Arbeit das Wort »interessant« fanden. – –
Helga Brauns Atem ging rasch. Ihre Hände waren kalt.
»Kommen Sie,« sagte sie, und ihre Stimme klang müde, »Sie sollen mir von Frankfurt erzählen.«
Da begann Richard Marschall zu erzählen.
Sie überschritten eine Brücke, die über ein Fleet, einen der zahlreichen, von windschiefen, giebeligen Kontor- und Speicherhäusern eingefaßten, von löschenden Schuten bevölkerten Kanäle führte, und er wies auf eines der engbrüstigen Gebäude und sagte: »Das ist wie Johann Bettermanns Haus.«
»Erzählen Sie, erzählen Sie!«
Und er sprach von den Freunden von einst und malte liebevoll ihr Leben aus, und überbrachte die Grüße von Bettermanns, von Johanna Grube und Professor Faller.
»Sie sollten nur einmal sehen, wie Ihr Name auf die Menschen wirkt,« sagte er, und Helga Braun bekam große glänzende Augen und drängte nur immer: »Erzählen Sie weiter! …«
»Herr Johann Bettermann hat mir einen Spezialauftrag mitgegeben. Er fordert Sie auf, im Frühjahr an der Einweihung seines neuen Hauses teilzunehmen. Er ist nämlich unter die Bauherren gegangen.«
»Lassen Sie mich raten. Wo wird er ›Villa Phönix‹ errichten … Ach Gott, was bin ich mit ihm umhergeirrt in den verschneiten Straßen, wenn er Harun al Raschid spielte und ich den getreuen Großwesir, und wir uns an die Gartenstakete drückten und durch die Mauern wie durch Glasscheiben in die Häuser sahen. Wie war das schön! Das waren Stunden, die so jung waren und so jung machten. Aber es waren doch nur Stunden – –«
»Na, na, na, Helga! Keine Exkursionen in die Gefühle.«
»Es war nicht für dich berechnet, Robert,« sagte sie leise und wie entschuldigend; aber zum ersten Male klang ein herber, feindseliger Ton hindurch. »Also Meister Bettermanns weltbekannte ›Spekulation‹ ist Wahrheit geworden!«
»Das muß ich leider verneinen, gnädige Frau,« und Richard Marschall berichtete von dem kläglichen Ausgang der Bettermannschen Phantasiewelt. Da blieb Helga Braun stehen.
»Weshalb lachst du denn, Robert?«
»Weil ich die Geschichte furchtbar komisch finde.«
»Komisch? Ich finde das tragisch und – – und so ergreifend, daß ich gleich helfen möchte.«
»Ach nein, liebe Helga, ich möchte unsere Gelder doch besser angelegt haben als auf Mondhypotheken.«
»Meine gnädige Frau, Sie brauchen sich um die alten Leutchen nicht zu sorgen. Johanna Grube – Sie erinnern sich wohl noch Franz Grubes Schwester im Grubeshof – hat am selben Abend noch die Bausumme flüssig gemacht, so daß Meister Bettermann auf dem schmalen Grundstück ein neues Häuschen errichtet. Eine Villa auf der Bockenheimer Landstraße wird's freilich nicht werden. Aber, im Ernst, was hätten die beiden dort gewollt? Es gibt Menschen, die gehören nun einmal nicht in die große Welt, und wenn man sie mit Gold behängen würde. Dafür aber, dafür machen sie die Poesie der kleinen Gassen aus. Freuen wir uns, daß die Bettermanns in der Bleidenstraße erhalten bleiben. Villenbesitzer gibt's genug.«
»Wenn man Ihnen zuhört, wird einem wohl und leicht zu Sinn,« sagte sie. »Sie sind ein großer Künstler, Herr Marschall. Wie kommt Ihre Natur, die doch immer leidenschaftlich war, zu all den schmerzstillenden, ausgleichenden Harmonien?«
»Weil ich das Leben liebe,« antwortete er nur.
»Mehr als Ihren Beruf?«
»Mehr als ihn. Denn an dieser Liebe wächst auch mein Beruf.«
»Ich glaube,« meinte sie nachdenkend, »daß das die Wahrheit ist, die ich suche. Die Kunst kann nur eine Blüte des Lebens sein.« –
Sie fuhren zum Jungfernstieg und wählten einen Fenstertisch im ersten Stock des Kempinskischen Restaurants. Auf der Straße wurden die Laternen angezündet. In endlosen Reihen umkränzten sie das Alsterbassin, und ihre funkelnden Lichter tanzten fernhin auf den dunklen Wassern und lockten die Blicke hinaus und die Sehnsucht …
»Ja, und von Johanna Grube soll ich Sie grüßen und von Professor Faller. Erst wollte er sich auf den Spartaner hinausspielen, der über Gefühle erhaben ist. Aber dann kam er mir auf die Treppe nachgerannt und entlud sein Inneres in Grüßen an die Jugend, an Helga Nuntius. Er ist doch eine echte Künstlernatur. Sein einsames Alter betäubt er mit Beethoven. Faller und Beethoven. Das ist auch eine Tragödie.«
Grüße an die Jugend, dachte die Frau Robert Brauns, und sie blickte hinaus auf die stille, glänzende Wasserfläche und spürte nicht Hunger und Durst. Ihre Glieder wurden so matt und ihre Augen so heiß.
Robert Braun schüttelte den Kopf. Dann winkte er dem Kellner und ließ Sekt bringen. »Alles zu seiner Zeit,« sagte er. »Wie kann man sich nur den Appetit verderben. Wir haben unsere Kräfte nötig, um vorwärts zu kommen.«
»Man darf nicht immer in einem Eilzug fahren, lieber Braun. Es gibt Gegenden, die man zu Fuß durchwandern muß. Für die Tage, wo wir mit unseren Kräften festsitzen.«
»Gibt's nicht. Gestern war ich auf der Börse. Herrgott, ist das eine grandiose Sache! Im Rollstuhl würd' ich mich hinfahren lassen, um mitzutun. Das frischt das Blut auf, und der Blick bleibt nüchtern. Gegenden, die man zu Fuß durchwandern muß! Als ob ich den deutschen Schulmeister hörte!«
»Und Hans Sachs? Die Lieblingsgestalt Wagners? Was weiß er für einen Spruch? ›Ehrt eure deutschen Meister – dann bannt ihr gute Geister!‹ Nein, lieber Braun, laß uns nur unsere nationalen Eigentümlichkeiten. Selbst unser Träumen macht uns stark, denn es entspringt doch immer der Liebe zur Scholle.«
»Streiten bei Tisch bekommt nicht. Prost, Marschall!«
»Dein Wohl, Braun!«
Helga hatte sich am Gespräch nicht mehr beteiligt. Wohl eine Stunde lang sah sie still durch das Fenster und blickte hinter ihren Gedanken her, die alle dieselbe Straße zogen. Wie müde das machte, immer denselben Gedanken, immer dieselbe Straße. Richard Marschall las ihr die Abgespanntheit vom Gesicht.
»Es ist zwar noch früh, gnädige Frau, aber ich möchte Ihnen doch raten, zur Ruhe zu gehen.«
»Um acht Uhr?«
»Tun Sie es! Morgen ist ein Tag, der seine Strapazen hat. Und Sie wollen doch nicht Ihren Freund im Stich lassen.«
»Sie haben recht,« sagte sie, »der morgige Tag gehört Ihnen.« Und sie erhob sich.
»Ich will zum Bahnhof fahren und meinen Agenten in Empfang nehmen,« schlug Braun vor. »Ich bin dann schneller zu Hause.«
»Wenn du gestattest, gebe ich deiner Frau das Geleit.«
»Sehr aufmerksam. Besten Dank!«
Vor dem Hause trennte man sich. Behutsam führte Marschall Helga Braun über die Straße, als ob er ein krankes Kind am Arme führte.
»Gnädige Frau, das ist unmöglich. Sie haben sich zu viel zugemutet.« Und er rief die nächste Droschke an.
»Ich bin so müde,« murmelte sie, »so schlafensmüde,« und sie lehnte sich tief in das Polster des Coupés. »Ich habe nur immer im Eilzug gesessen, immer im Eilzug, Tag und Nacht.«
»Schlafen Sie,« sagte er ganz mild. Da ließ sie wie ein Kind, das die Geborgenheit fühlt, den Kopf gegen seine Schulter sinken und schlief trotz des Rollens der Räder in selber Sekunde ein.
Richard Marschall saß unbeweglich. Die Scheiben des Wagens waren vom Abendnebel beschlagen, und er konnte ihre Züge nicht erkennen. Aber er sah ihre Seele, die arme, ungeleitete, in der Irre umher gegangene Seele, die in den Gefilden der Kunst nach den Blumenwiesen der Jugend gesucht hatte. Und die nun müde und zerschlagen war – vom Suchen. Er wußte nicht, wie es kam. Es trieb ihn etwas, ein heißes Mitleiden, eine Liebe, wie man sie zu Kindern hat, die für ihr armes Leid keine Worte finden können. Er begann leise zu singen. – –
Kinderlieder, Schlummerlieder.
Richard Marschall sang und hütete der Freundin Schlaf.
»Guten Abend, gut Nacht, von Englein bewacht,«
und als die Brahmssche Weise verklungen war, ließ er, ohne abzusetzen, das Mozartsche Wiegenlied sich anreihen:
»Schlafe, mein Prinzchen, es ruh'n Schäfchen und Vögelchen nun,«
und wenn er seinen Vorrat erschöpft hatte, begann er von vorn, ganz leise, ganz weich, so leise und weich, wie ihre Atemzüge geworden waren. –
»Sie sind zu Hause, gnädige Frau …« Der Wagen hielt, und sie erwachte.
»Zu Hause – –? Ich glaube fast – ich habe es geträumt. Ja, ja, zu Hause! Gute Nacht, lieber Freund.«
Er behielt den Wagen und fuhr zum Hotel. Und immer weiter summte er lächelnd die Schlummerlieder, denn durch den engen Raum zog ihr Atem.