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5.

»Mein lieber Freund,« schrieb Johanna Grube an Richard Marschall, »es muß etwas wie ein Rapport zwischen Hamburg und Frankfurt bestehen, denn ich lebe seit einigen Tagen mit Ihnen und Ihren Freunden, als säßen Sie nicht in der Alsterstadt, sondern wie vor langen Jahren um Franz geschart hoch oben im Grubeshof, und wir blickten hinüber auf Bettermanns Haus und die winklige Bleidenstraße entlang. Ich höre Sie alle sprechen: Helga Nuntius' leise Stimme, die immer aus einem fernen Traumland zu kommen schien, in dem die Menschen auf weichen Sandalen wandeln, weiße Gewänder tragen und langgestielte Blumen in den Händen halten; die Stimme von Franz, der in beiden Welten daheim war und dessen Ton so trostreich klang, weil er von sich selber wußte, wie trostlos sich ein verschneites Herz durch den Frühling trägt; und Ihre Stimme, lieber Freund, die gar nicht zu begreifen schien, weshalb man nicht immer lachende Burschenlieder in die Welt sänge. Ich gehe im Zimmer hin und wider, horche auf dies und jenes Wort und nicke Ihnen allen zu, die nicht hier sind und deren Wesen doch das alte Zimmer füllt. Es muß doch ein Zauber in jenen Tagen gelegen haben. Und ich fange an, die Menschen zu verstehen, deren Leben bis in das Alter hinein reich ist, weil ihre Jugend einmal reich gewesen ist. So werde ich denn auch nicht altern können.

»Und Sie? Nein, auch Sie nicht. Obwohl mir ist, als hätten Sie die Rollen getauscht. Als wären Sie auf dem Wege in Helga Nuntius' Traumland, und die wunderlich stille Freundin hätte inzwischen den Ton des Lebens erlauscht.

»Ich bange mich nicht um Sie, aber ich denke mit tiefem Ernst an alles, was Sie mit mir über Helga Nuntius sprachen, und ich, als Ihre Freundin wie als Frau, fühlte aus jedem Ihrer Worte den Unterton heraus, Ihre unveränderte Liebe. Zu Helga Braun. – – Ziehen Sie nicht die Stirn kraus. Ich komme doch nicht zu Ihnen mit einem Bändchen Moral oder guter Lehren in der Hand. Ich spreche das nur aus, damit Sie die Hand der Freundin auf dieser krausen Stirn spüren. Denn ich glaube, es muß gut tun, einen Menschen zu haben, den man sich – ich möchte sagen: körperlos vorstellen kann und mit dem man deshalb zu plaudern vermag wie mit sich selbst. Sehen Sie, dieser körperlose Mensch möchte ich Ihnen sein. Und ich bin es ja schon lange. Also plaudern Sie. Mit sich selbst!

»Da stand ein Mädchen an Ihrem Wege, und das Mädchen ist eine Frau geworden, und die Frau eines anderen. Und Sie sagen sich: ›Das hat mit meiner Liebe nichts zu tun, denn die Liebe ist selbständig und nicht vom erlangten Besitz abhängig.‹ Das klingt groß und ist groß, wenn diese Liebe wirklich entsagt hat und – mütterlich geworden ist.

»Aber, lieber Freund, das ist eine Liebe, mit der wohl nur Frauen zu lieben vermögen. Ein Mann wird nie darüber hinaus können, eine Frau, die er liebt, im Besitz eines anderen Mannes zu wissen und schweigend nebenher zu gehen. Er wird den Ton seiner Stimme, den Blick seiner Augen nicht in der Gewalt haben und vielleicht auch nicht in der Gewalt haben wollen. Nicht, um ihr wehe zu tun oder wissentlich ihren Frieden zu gefährden, sondern weil ein Mann immer wünscht, daß nicht nur seine Liebe, sondern auch seine Entsagung bemerkt und anerkannt wird. Auch Sie, lieber Freund, werden trotz Ihrer vermeintlichen Resignation nicht mit Helga Braun zusammensein können ohne das Gefühl: bemerkte sie es doch!

»Und wenn sie es nun bemerkte? Richard, was dann? Glauben Sie wirklich, daß das für Sie einen Gewinn bedeuten würde? Selbst, wenn Sie wirklich eine Unruhe in ihr erzeugt hätten? O Richard, ich kenne Sie ja. Sie würden sich das nie vergeben, und alle die Bilder, die Sie jetzt mit sich herumtragen und in denen Sie mit glücklichem Lächeln blättern, alle die Bilder einer wunschfrohen Jugendzeit würden verzerrt und zerrissen sein. Lassen Sie sich an Ihrer Helga Nuntius genügen. Die Helga Braun, die Sie jetzt wiedergetroffen haben, ist ja eine ganz andere, eine Neuerscheinung in Ihrem Leben. Verquicken Sie die beiden Gestalten nicht miteinander, wenn Ihnen an dem Glück der Erinnerung liegt. Wäre es anders, lieber Freund, lägen die Wünsche auf Helgas Seite, ich wäre die erste, die Ihnen zuriefe: Geh hin zu ihr und leg den Arm um sie. Dann, nur dann! Ein Richard Marschall muß wissen, daß man ihn braucht, soll er, wie es seine Art ist, die Sonne in die Kammer tragen, die spielend die Rätsel des Frauenherzens löst.

»Richard! Machen Sie nicht solch erstauntes Gesicht! Ich habe das wahrhaftig geschrieben. Ich, Johanna Grube, ein unverheiratetes Mädchen. Aber sagen Sie selbst, ist es nicht unaussprechlich töricht, daß ein unverheiratetes Mädchen von fast dreißig Jahren nicht über Dinge nachdenken soll, über die jeder unreife Jüngling laut sprechen darf? Darin, meine ich, sollten wir gleichberechtigt sein. Wir würden stolzer und freier sein und weniger – lügen.

»Wenn Sie sich morgen zum Theater rüsten, werde ich hinausgehen zum Grabe unseres Franz, nicht traurig, sondern fröhlich, wie er es liebte, daß man im Leben zu ihm kam. Und ich werde ihm von seinen Freunden erzählen, die in Hamburg um neue Kränze ringen, die zu den Höhen der Kunst, an der sein Herz hing, emporgestiegen sind und dennoch so frohgemute, prächtige Menschen blieben. Dann werden Sie auch empfinden, wie viele Wünsche für Ihr neues Werk, die in diesem Briefe fehlen, vom Main an die Elbe wandern, und daß es ebensoviele Wünsche sind wie für Ihre Person. Denn Sie und Ihre Kunst sind eins, der Künstler ist bei Ihnen wie der Mensch und der Mensch wie der Künstler. Gott erhalte Ihnen diese sonnige Ursprünglichkeit.

Johanna Grube.«

 

Richard Marschall faltete den Brief langsam zusammen und steckte ihn in die Brusttasche. Er öffnete das Fenster und blickte nachdenksam auf die spiegelnden Wasser des Alsterbassins.

Prachtmädel, dachte er dann. Die könnte einen Mann glücklich machen. Mich behandelt sie wie eine Mutter. Das ist ein Glück, sonst bildete ich mir noch sonst was ein. Trotzdem! Ich bin zu beneiden.

Eine Stunde später saß er in der Direktionsloge und sah nur Helga. Mit einem erstaunten Gesicht sah er auf Helga Braun, und jäh schoß es ihm durch den Kopf: Wie sie ins Zeug geht! Wie sie dem Gatten zuliebe ins Zeug geht! Mit solchen Augen schaut man keinen Partner an, mit dem man zu Hause gähnend Sechsundsechzig oder Dame spielt. Da! Diese Umarmung! Ich bin doch kein Tropf. Ich sehe doch deutlich das Weib aus der Verkleidung herauswinken. Sein Weib. Und jetzt hat Robert Braun Feuer gefangen. Kein Wunder. Ah, wie der Mensch singt! So hab' ich ihn nie gehört. Der Kerl heuchelt Seele, oder er besitzt doch mehr von dem Artikel, als ich Dummkopf geglaubt habe. Ah ja, die beiden müssen's wissen. Sie sagen's nur nicht und tragen verschmitzt ihr heimliches Glück! »Wie meinen Sie, Herr Direktor?« – »Ja, ja, das nennt sich Applaus! Diese Hanseaten haben Hände!« – »Was, ich soll schleunigst auf die Bühne?«

Da stand er schon, durch die Logentür und die Kulisse geschoben, vor der Rampe, blickte betäubt und vom Rampenlicht geblendet in den dunklen Zuschauerraum und machte ein paar tiefe Verbeugungen. Dann fiel auf Sekundenlänge der Vorhang, und er stolperte zurück und stolperte über Robert Braun, der ganz vorn in der Kulisse stand und mit begehrlichem Blick auf ihn wartete. Und er verstand den Blick und ergriff des Sängers Hand, die sich ihm eilig entgegenstreckte, und ergriff die Hand einer anderen Person, die Robert Braun hastig herbeigewinkt hatte, und als der Vorhang sich aufs neue hob, zog er wieder vor die Rampe hinaus, und an der linken Hand führte er Robert Braun und an der rechten Hand Frau Helga Braun-Nuntius, und das Publikum applaudierte stürmisch, und die drei dankten miteinander für den Lohn ihres gemeinsamen Wirkens.

Famos, sagte sich Richard Marschall, als er wieder im Hintergrund der Direktionsloge saß, so ein Komödienhaus hat doch was für sich. Das registriert die Gefühle wie in einem Rollenschrank. Ich muß soeben aufs Stichwort zum Entzücken gelächelt haben. Und Herr Robert und Frau Helga erst!

Es war ein seltsamer Kampf auf der Bühne, den niemand ahnte, nicht die Sänger und Sängerinnen, nicht die tausend Menschen im Zuschauerraum, nicht Richard Marschall. Nur zwei wußten darum, wortlos, aber mit aufgewühlter Empfindung und geschärften Sinnen. Helga Braun sang das Schwanenlied ihrer Ehe. Und Robert Braun hörte es, er fühlte, daß sie ihm entglitt, er gedachte des Tages im Konservatorium, da er sie durch die Macht seines Gesanges bezwungen hatte, und schwur sich, sie aufs neue zu fesseln. Er nahm alle Waffen seiner Kunst, und es war ein Werben und Befehlen in seiner Stimme, eine Größe und Gewalt des Tones, wie sie selbst an diesem alles überragenden Sänger unerhört gewesen war, und es ging ein Rausch von ihm aus, der sich den Menschen um ihn her mitteilte, daß sie mit heißen Beifallsrufen seine Kunst begleiteten. Wie im Triumph überblickte er sein Reich und seine Vasallen. Wo er über Tausende befahl und sie nach seinem Willen jubeln oder weinen machte, da sollte er nicht Macht haben über die Gefolgschaft der eigenen Frau? Und sein Gesang wurde zum Heldenlied der Kunst.

Und dieser Kunst, die keine Götter neben sich kennt, sang Helga Braun ihr Schwanenlied, über die gemalten Kulissen hinaus blickte sie in weite, einsam sich erstreckende Wälder, auf die nun bald der Schnee fallen mußte mit dem heimlichen Gewisper altvertrauter Märchenerzähler; sah sie in die dämmerigen Gassen winkliger Städte, durch die der Knecht Ruprecht dahinschritt als Verkünder des heiligen Weihnachtsfestes; und ihre Seele öffnete sich, als breitete sie die Arme aus nach törichten, glückseligen Dingen, denen Kinder zujauchzen und Frauen nachweinen. Ganz allein würde sie gehen, durch die Wälder, durch den stillen Schnee, durch die Gassen, so lange, bis sie sich zurechtgefunden hätte in der Natur und dem Menschentum!

Es war ein seltsames Ringen zwischen den beiden auf der erleuchteten Bühne.

Wie mit eines Königs Stimme rief der Sänger durch sein Reich, daß das Volk sich beugte. Nur die Königin beugte sich nicht. Seine Stimme drang nicht mehr an ihr Ohr. Denn die Königin war ausgewandert aus seinem Reich. – –

Und keiner wußte darum.

Auch Richard Marschall nicht.

Er nahm die Blicke, die abschiednehmend noch einmal Robert Braun umfaßten, für Blicke der Liebe, und ihr Abschiedslied, in das sie noch einmal alle Schönheit der Kunst bannte, für ein Vasallenlied. Und er stand auf der Bühne zwischen ihnen und hielt ihre Hände, während sie sich vor dem Publikum verbeugten und wieder verbeugten.

Der Direktor hatte ihn stürmisch umfaßt und schüttelte ihn hin und her. »Tun Sie mir eine Liebe. Reden Sie nicht mit mir. Reden Sie nur noch in Noten mit mir. Das war doch ein gesegneter Applaus! Den wollen wir fruktifizieren. Dem wollen wir ein Echo geben. Legen Sie die Geschäfte in meine Hand, und reisen Sie heim an Ihr Notenpult und Ihren Schreibtisch. Sie dürfen jetzt an nichts anderes denken als an Ihre nächste Komposition. Hören Sie? Nur nicht ausruhen wollen, nur keinen Gralsraub treiben. Der Kunst muß man sich mit Haut und Haaren verschreiben, wenn sie uns gnädig sein soll.«

Und er machte mit zwinkernden Augen die Gebärde des Geldzählens. »Was meinen Sie, Braun? Sie haben dafür ein grandioses Verständnis.«

»Ohne Preis kein Fleiß,« parodierte der Sänger lachend.

»Gnädige Frau,« sagte Richard Marschall und zog Helga Brauns Hände an seine Lippen, »ich wollte, ich könnte Ihnen einmal danken für alles das, womit Sie mich immer wieder beschenken. Aber Sie sind ja so reich, daß es Ihnen auf meinen Dank gar nicht ankommen kann.«

»Für alles, womit ich Sie immer wieder beschenke …?« wiederholte sie. »Was mag das gewesen sein, da ich mich an nichts, an gar nichts erinnern kann.«

»O doch, meine gnädige Frau. Da sind ganze Stunden … die klingen immer wieder in mir nach. Doch das kann Sie nicht interessieren. Und heute der Erfolg meiner Oper, gnädige Frau. Nie, nie hätte ich geglaubt, daß Sie so voll tiefster, menschlich tiefster Empfindungen zu sein vermöchten. Mit meinem herzlichsten Dank muß ich eine Abbitte verbinden. Seien Sie mir nicht böse.«

Helga Braun sah ihn lange an. Dann drückte sie ihm die Hand. »Wie konnten Sie das wissen, was ich selbst noch nicht wußte. Und nun will ich in die Garderobe gehen. Leben Sie recht, recht wohl, Herr Marschall!«

»Aber Helga,« rief Braun ihr zu, »du vergißt wohl ganz, daß Marschall heute abend unser Gast ist? Wir fahren sogleich zu Pfordte. Der Direktor nimmt teil, der Kapellmeister und ein paar Kollegen. Es ist doch sozusagen auch unser Abschied.«

»Gerade deswegen, Robert.«

»Gerade deswegen? Verzeih, das ist eine sonderbare Anschauung.«

»Ich kann nicht lauten Abschied nehmen.« …

Sie reichte dem Direktor, Richard Marschall und zuletzt ihrem Mann die Hand.

»Leb wohl! Ich fahre heim.«

Und dann ging sie. Mit gerafftem Kleid, als fürchtete sie die Berührung mit dem Staub der Kulissenwelt, schritt sie ruhig über die Bühne und verschwand in dem dunklen Hintergrund. Irgendwo fiel eine Tür ins Schloß.

»Die Weibsen, die Weibsen,« sagte der Direktor nach einer Pause und klopfte Braun auf die Schulter.

Da kam Leben in den Regungslosen.

»Ich habe für meine Frau um Entschuldigung zu bitten,« wandte er sich an Marschall. »Es ist das erste Mal, daß sie einer Laune nachgibt. Das ist mir so ungewohnt, daß ich nur annehmen kann, sie befindet sich nicht wohl.«

»Aber ich dispensiere dich gern, Braun. Deine Frau geht vor. Das ist doch keine Frage.«

»Was –? Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich den Amoroso spielen werde? Nee, nee, mein lieber Freund, Schürzenheldentum gibt's nicht. Selbstverständlich gehen wir zu Pfordte. Jetzt gerade.«

»Na, dann aber fix abschminken!«

»Ich möchte Sie nicht aufhalten, Herr Direktor,« sagte Richard Marschall, als er mit dem Theaterleiter in der kalten Abendluft stand. »Während ich drüben im Telegraphenbureau schnell eine Depesche aufgebe, wird Braun halbwegs fertig sein, und ich bringe ihn mit.«

»Schönsten Dank, daß Sie mit einem alten, geplagten Manne Nachsicht üben. Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen, Herr Direktor!«

Aber er ging doch nicht hinüber ins Telegraphenbureau. Er umkreiste das Theatergebäude, bis er zu dem Ausgang für die Bühnenmitglieder gekommen war, und drückte sich, wenige Schritte weit entfernt, in eine Ecke.

Wie ein seliger Primaner, dachte er und wartete geduldig auf das Erscheinen Helga Brauns. Nur wenn eine Gestalt in der Türöffnung erschien, zuckte er zusammen. Ein paar Choristen und Choristinnen eilten an ihm vorüber, ohne sich umzuwenden, glücklich, der Frone des Tages entronnen zu sein. Solomitglieder folgten nach, klappten in der scharfen Luft die Kragen auf und verständigten sich durch Zeichensprache, ob und wo man einen Trunk nehmen sollte. Dann wurde es still.

Und Richard Marschall sah sich im Geist in der Bleidenstraße zu Frankfurt am Main stehen und hinaufschauen zu einem erleuchteten Fenster des Bettermannschen Hauses, wie er es oft getan hatte, wenn er von Franz Grube kam. Und plötzlich fiel ihm der Abend ein, an dem Helga Nuntius zum ersten Male öffentlich im Konservatorium gesungen hatte, und sie alle drei, Grube, Braun und er, angetreten waren, ihr das Geleit zu geben. Franz Grube hatte sie hingefahren, Braun war mit ihr auf der Bühne zusammen gewesen, und er – hatte sie heimbringen dürfen.

Heimbringen …

Da war sie.

In ein flauschiges Jakett gepreßt, um den Hals eine Pelzboa gelegt, stand sie einen Augenblick auf der Stufe, um dann mit raschen Schritten die Straße zu erreichen. Hier rief sie eine Droschke an und stieg ein. Und während der Kutscher den Wagen wandte, und sie sich mühte, das Wagenfenster hochzuziehen, trafen ihre Augen Richard Marschall, der herangetreten war. Er sprach kein Wort. Er zog nur tief den Hut. Und sie beugte sich zum Fenster hinaus, mit bleichem, ernstem Gesicht, und winkte ihm zu …

»Komm gut heim!« sagte er, als der Wagen rasselnd in der Esplanade verschwunden war.

Hinter sich hörte er Schritte. Es war Robert Braun, in einen langen Mantel gehüllt.

»Ist meine Frau schon heraus?«

»Sie ist soeben heimgefahren.«

»Hast du sie noch gesprochen? Hat sie irgend etwas gesagt?«

»Ich habe nur den Hut ziehen können.«

»Ich danke dir, daß du auf mich gewartet hast. Komm, laß uns gehen!« Und er schob den Arm unter den Marschalls, als wollte er sich seines Begleiters versichern, und ganz unvermittelt fragte er: »Sag mal, wie gefällt sie dir?«

»Wer?«

»Wer? Helga!«

»Deine Frau? Ja, liebster Braun, das ist doch nebensächlich. Die Hauptsache ist, daß sie dir gefällt.«

»Sei nicht schwerfällig. Da gibt's doch kein Mißverstehen. Ich meine, wie sie dir gefällt, ob du – du bist doch ihr Freund – mit ihr zufrieden bist, mit ihrem Aussehen, ihrer Gemütsverfassung. Du mußt doch was gemerkt haben.«

»Ums Himmels willen, Mensch, sprich doch deutlicher. Ist sie krank, oder habt ihr euch nur gezankt?«

»Beides. Soweit bei Helga von derlei die Rede sein kann. Aber wenn du nichts gemerkt hast mit deinen scharfen Augen, über die ich mich früher oft weidlich geärgert habe, dann steht's nicht schlimm. Im übrigen: wie werden dich just meine Angelegenheiten interessieren können? Verzeih!«

»Du hast recht, ich wäre ein schlechter Beichtiger.«

Als sie dicht vor dem Pfordteschen Restaurant standen, warf Braun noch hin: »Du weißt doch, daß bei den Wiederholungen deiner Oper für mich und Helga die Hamburger Kräfte in Aktion treten? Nur für die Erstaufführung konnten wir uns zur Verfügung halten.«

»Ich weiß es und danke dir für deine Bereitwilligkeit. Du brauchst es übrigens nicht zu bereuen. Die Rolle lag dir wundervoll, und du hast gesungen wie ein Gott. Das schafft dir für Amerika neue Reklame.«

»Ja – Amerika, das war's. Ich will den nächsten Dampfer benutzen, der abgeht. Dies verwünschte Deutschland geht Helga bis zur bewußtlosen Sentimentalität an die Nerven. Weibernerven! Das ist doch nichts für mich!«

»Nein, das ist nichts für dich.«

Sie stiegen die Treppe zum ersten Stockwerk empor, und Braun meinte überlegen: »Deine Ironie rührt mich nicht. Jeder ist sich selbst der Nächste, mein Lieber. Zum Beispiel: wie wär's, wenn du mir und Helga das Recht abträtest, in Amerika allein in den beiden Hauptrollen deiner ›Hadwiga‹ aufzutreten? Du würdest sicher nicht dabei zu kurz kommen.«

»Ich mache nur bei Tageslicht Kontrakte.«

»Schön, also morgen. Vergiß nicht, daß mir daran liegt.«

Dann öffnete sich die Tür zum Salon, und das Knallen, der Sektpfropfen zeigte ihnen an, daß die Gäste sich schon bei der Vorfeier befanden. – –

Zur selben Zeit war Helga Braun vor ihrer Wohnung angelangt. Sie befahl dem Kutscher zu warten, stieg ohne Hast nach oben und machte Licht in den Räumen. Dann holte sie einen Handkoffer herbei, packte ein Kleid und Wäsche hinein, fügte ihr Necessaire hinzu und ließ das Schloß einspringen. Alles das tat sie mit den sicheren Bewegungen, als handelte es sich um eine längst beschlossene Sache, die keine Aufregung zuließe. Mit der Lampe in der Hand begab sie sich ins Wohnzimmer und setzte sich an den Schreibtisch.

Ohne zu zucken, mit demselben blassen, ernsten Gesicht, mit dem sie Richard Marschall vor dem Theater zugenickt hatte, tauchte sie die Feder ein und schrieb:

 

»Lieber Robert! Seit heute mittag weißt Du, daß ich Deine Frau nicht mehr zu sein vermag. Laß mich nicht alles wiederholen, was uns seit heute trennt, und nicht untersuchen, ob es erst seit heute ist. Denn Menschen, die denselben Namen getragen haben und ein gut Stück Wegs miteinander gewandert sind, dürfen sich zum Schluß nicht beschämen. Ich gehe von Dir, weil ich Dir nur noch eine kranke Frau zu sein vermöchte, krank nach dem, was sie nicht besessen hat, krank, weil die Kunst so unerbittlich macht und das Leben mitleidiger sein wird. Nun ich es beschlossen habe, wird mich nichts zurückführen. Weshalb solltest Du es auch versuchen? Es ist ja auch zu Deinem Besten. Du würdest nur Ballast in Deinen Schnellsegler aufnehmen, denn mit Dir singen werde ich niemals mehr. Das wird ausschlaggebend für Dich sein, mein armer Robert, arm, weil ich fühle, daß ich jetzt reicher sein werde als Du, der Du nicht um Dich blicken willst und dadurch Dein Leben verlierst. Nach Amerika sende ich durch Kabel ein Attest über mein ganz daniederliegendes Nervensystem. Sollte der Direktor trotzdem auf Konventionalstrafe erkennen, so muß sie bezahlt werden. Auf den übrigen Anteil unseres gemeinsam erworbenen Vermögens leiste ich Verzicht. Ich will mit dem kleinen Erbe, das bei meinem Kasseler Sachwalter liegt, von vorn anfangen, damit mir das Leben aufgehe. Und so bitte ich Dich denn, sofort die Scheidung einzuleiten. Dein Rechtsanwalt wird schon Gründe finden. Denke daran, daß wir uns geschätzt haben, daß es ehrenvoll ist, auseinanderzugehen mit der gegenseitigen Wertschätzung im Herzen, und daß es erniedrigend ist, sich erst zu trennen, nachdem man sich beleidigt hat und sich und die Jahre des Zusammenlebens verachtet. Habe Dank für die Jahre. Heute kann ich Dir noch danken, und meine herzlichsten Wünsche begleiten Dich auf Deinem Lebenswege. Vergib, daß ich abreise, ohne Dich verständigt zu haben. Ich tue es, damit wir ehrlich bleiben und uns nicht aufs neue täuschen. Was können Worte sagen … Ich reiche Dir meine Hand und drücke die Deine. Lebe wohl, Robert!

Helga Nuntius.«

 

Sie verschloß den Umschlag, adressierte ihn und legte den Brief neben die Lampe, die sie brennen ließ. Dann nahm sie den leichten Handkoffer auf.

Und ihr Blick flog noch einmal über die Wände, an denen die Bündel breiter Kranzschleifen, die Trophäen ihrer Kunst, hingen, und ihre Lieblinge, die Bilder, die ihre liebsten Freunde geworden waren. Ganz starr waren ihre Blicke darauf geheftet.

»Arme Lieblinge. – – Zum letzten Male.« …

Und plötzlich richtete sie sich auf und sagte ganz laut, während eine Röte in ihre Wangen stieg: »Ich muß euch verlassen. Denn ich darf keine Erinnerungen mehr haben. Nur noch – Hoffnungen!«

So schied Helga Nuntius aus ihrer Ehe mit Robert Braun.


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