Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Buch


1.

Richard Marschall kam vom Hauptbahnhof. Als er die Kaiserstraße entlang schritt, freute er sich über Frankfurts wachsende Schönheit. Jedesmal, wenn er zu kurzem Besuch in der alten Mainstadt eintraf, ging er zu Fuß die Straßen auf und ab, bis er sich in den neu entstehenden Vierteln heimisch gemacht hatte.

Heute nahm sich Richard Marschall nicht die Zeit, die neuen Straßenzüge zu besichtigen. Es war ein grauer, feuchter Novembertag, mit den Nebeln, die so gern die Gemüter umspinnen, bis sie sich wund weinen möchten in einer plötzlichen, unerklärlichen Trauer. Aber Richard Marschall war heute gefeit. In straffer Haltung schritt er schnell einher, immer dieselbe fröhliche Melodie vor sich hinsummend.

»Endlich!« sagte Johanna Grube, als sie in dem alten, holzgetäfelten Zimmer mit den kreisrunden Fenstern seine Hände hielt. »Endlich! Sie haben sich selten gemacht, lieber Richard, so selten, daß ich gar nicht einmal weiß: ist es ein halbes Jahr, oder sind es Jahre her, daß Sie nicht in Frankfurt waren.«

»Amt und Würden, Johanna. Die Arbeit läßt mich nicht los.«

»Sie arbeiten zu viel.«

»Zu viel? Sie glauben ja gar nicht, wie viel Stunden so ein richtiger Tag hat. Aber nun bleib' ich bis morgen.«

»Kommen Sie!« Und sie saßen auf den Fensterplätzen, von denen aus man die Gasse überblickte.

»Lassen Sie sich anschauen,« sagte sie. »Ich muß doch zunächst feststellen, ob aus den Zügen des Herrn Hofkapellmeisters noch so etwas wie Richard Marschall herauslugt.«

»Ich fürchte: mehr, als dem Herrn Hofkapellmeister lieb sein kann.«

»Desto besser. Vergessen Sie nicht, daß es nicht so sehr darauf ankommt, wie weit Ihr gnädigster Fürst mit Ihnen zufrieden ist, sondern wie weit Ihre alten Freunde mit Ihnen zufrieden sind.«

»Dann lesen Sie aus meinem Gesicht nur ruhig Ihr Sprüchlein ab.«

»Die Augen? Nun, die sind klar geblieben; man könnte sagen, die Ausgelassenheit hat sich zu einer ernsten Fröhlichkeit gesammelt. Aber um den Mund sind noch alle die alten Geister lebendig. Wie mag da der innere Mensch aussehen?«

»Inwendig ist augenblicklich ein Jodler etabliert.«

»Was ist das nur wieder?«

»Ein Mensch, der sich vor Freude nicht zu lassen weiß, der aufspringen möcht' und mit Ihnen durch das Zimmer tanzen und wie unvernünftig singen und lachen: Morgen geht's nach Hamburg! Nach Hamburg!«

»Ja, da freu' ich mich mit Ihnen, wenn Sie mir sagen, weshalb?«

»Meine neue Oper kommt heraus, in einer Musterbesetzung.«

»Da gratuliere ich von ganzem Herzen.«

»Und wer singt die Titelpartie? Raten Sie!«

»Sagen Sie es mir, denn das scheint mir die Hauptüberraschung zu sein.«

»Ist es auch. Frau Braun-Nuntius singt die Titelpartie.«

»Helga – –?«

»Helga!«

Sie wischte mit der Hand die Feuchtigkeit von der Fensterscheibe und blickte hinaus. Und er sah, wie sie tiefer Atem schöpfte.

»Halten Sie das nicht für einen Gewinn, Johanna?«

Sie nickte und sah ihn nicht an. Und dann sah sie ihn an und nickte wieder.

»Johanna, Sie haben etwas auf dem Herzen. Sie möchten mir etwas sagen. Weshalb tun Sie es nicht?«

»Erzählen Sie mir von Ihrer neuen Oper. Das ist besser.«

»Sie wissen, daß ich das jetzt nicht kann. Ich gehöre zu den Menschen, die den Dingen in die Augen sehen müssen.«

»Glauben Sie, Richard, daß es gut für Sie sein wird, Helga Nuntius – Frau Braun-Nuntius wiederzusehen?«

»Wer kann das sagen? … Ich kann nur sagen, daß in mir eine einzige Freude ist.«

»Es sind fünf Jahre, daß Sie sie nicht gesehen haben. Sie wird nicht dieselbe geblieben sein.«

»Für mich ist sie dieselbe geblieben.« Er beugte sich vor und ergriff ihre Hände. »Johanna, es gibt Menschen, die allerlei Liebeleien haben können, und doch nur eine Liebe. Für die es keine fünf Jahre gibt und keine fünfzig Jahre, wenn diese Liebe zu ihnen gekommen ist, die alles, was vorher war, auslöscht. Mag sie geworden sein, wie sie will, eine verwöhnte, launenhafte Primadonna, eine gefeierte Weltdame oder ein armes stilles Menschenkind: für mich ist und bleibt sie die Helga Nuntius, mit der ich den Main befahren und den Taunus durchwandert habe. Für mich bleibt sie die Frau, die ich liebe.«

Er lehnte sich wieder zurück. Und dann leuchtete es knabenhaft froh in seinen Augen auf. »In mir ist nur eine einzige Freude.«

»Die sollen Sie auch behalten, Richard; denn sie gibt Ihrer Kunst das Starke.«

»Sie hat mir dazu verholfen, den Weg bis hierher zu gehen. Damals fing es an, in dem Jahr, als Helga Nuntius das Konservatorium besuchte und ich meine Erstlingsoper, den ›Merlin‹, fertigstellte. Damals habe ich oft die Nächte durch zu Hause gesessen, wenn ich von Franz kam oder von einem Schoppen mit den lustigen Brüdern, und ganze Szenen habe ich aus der Partitur hinausgeworfen und sie neu komponiert. Und wenn ich von der Arbeit aufstand, wußte ich nicht, wer das da auf dem Papier ersonnen hatte. Und als Helga Nuntius die Frau von Robert Braun geworden war und in der Welt draußen Geld und Ehren einsammelte, da hab' ich als kleines Kapellmeisterlein in Würzburg gesessen und an nichts gedacht als an die Freude, die es ihr machen könnte, wenn sie mich auch aufsteigen sähe. Da habe ich den Melancholikus in die Tasche gepackt und freudig geschaffen. Dann kam die Erstaufführung des ›Merlin‹ in Weimar, und der Name Richard Marschall erhielt das erste Ausrufungszeichen. An dem Abend hab' ich einen acht Seiten langen Brief an Helga geschrieben und sie schlankweg mit Du angeredet und ihr gedankt. Dann hab' ich den Brief verbrannt und die Asche den Winden überliefert. So verrückt kann der Mensch sein. Als ich im Jahr darauf an das süddeutsche Hoftheater berufen wurde, traf Antwort ein. Mein Geheimbrief mußte also doch wohl von den Winden richtig bestellt worden sein. Ja, ja, in Wahrheit. Helga Braun-Nuntius gratulierte ihrem einstigen Jugendfreund zu seiner Bestallung. Sechs Worte nur. Mir waren sie wie ebenso viele Seiten. Und seit der Zeit wußte ich, daß ich nie anders mehr arbeiten würde als in der Freude. Und die Freude ist der Sieg. So schuf ich denn meine neue Oper.«

»Trotzdem, daß Helga Nuntius nicht mehr für Sie in Betracht kommen kann? So nicht mehr, wie Sie es sich einst wünschten?«

»Trotzdem. Ich habe sie lieb, ganz für mich allein.«

»Und Sie wollen es ihr sagen?«

»Aber, Johanna! Wie kommt nur ein so kluges, ernstes Geschöpf wie Sie zu solchen Phantasien?«

»Sie ist die Frau Robert Brauns,« sagte Johanna Grube. »Sie könnten nicht darüber hinweg.«

Richard Marschall erhob sich und ging durch das Zimmer. Und es sprach keiner mehr.

Dann erst ertönte aus der Tiefe des Zimmers die Stimme des Mannes, ruhig und klar.

»Wenn sie frei würde, Johanna, so könnte ich darüber hinweg. Johanna, ich bin mit etwas mehr Temperament ausgestattet, als gerade notwendig wäre. Das Männliche in mir trug immer den Kopf sehr hoch. Und als der Tag kam, an dem ich wußte: heute heiratet Helga Nuntius, da hab' ich Qualen erlitten, daß ich glaubte, ich könnte es nicht mehr ertragen, nun müßte der Wahnsinn kommen. Nicht, weil ich sie verloren hatte, sondern weil ein anderer Mann sie gewonnen hatte. Ein anderer Mann! Das Bild wurde ich nicht los. Das riß mich so wund, daß ich nicht daran denken konnte, ohne zu stöhnen. In einem irrsinnigen Zorn und einem wehen, furchtbar wehen Schmerz.

»Verstehen Sie mich, Johanna?« fragte er nach einer Weile.

»Ich verstehe Sie.«

»Damals also, damals meinte ich: nun ist alles zu Ende. Das ist nun ein Trümmerhaufen. Wissen Sie, das wandert einem unablässig durch den Kopf und spricht hinter der Stirn, ohne aufzuhören, mit einer peinigend klaren Stimme: Das ist ein Trümmerhaufen – das ist ein Trümmerhaufen. Und man lächelt dabei in die Luft und wundert sich nur, wie rätselhaft regelmäßig das Herz schlägt. Nur über der Brust lag ein ganz harter Ring. Und der konnte nicht weich werden. Denn der Gedanke allein: sie hat sich einem anderen ergeben, genügte, um ihn doppelt zu härten. Sehen Sie, Johanna, das war der Egoismus. Der blinde, nackte Egoismus, der nur immer das eigene liebe Ich gestreichelt wissen will und loswütet, wenn andere das gleiche für ihre Person in Anspruch nehmen und – glücklicher damit sind.« – –

Dann saßen sie bei Tisch, und die alte Aufwärterin bediente. Und es wurde von vergangenen Tagen gesprochen und den Abenden, an denen das Doppelquartett seine Volkslieder im Grubeshof ertönen ließ und Franz Grube in dem geschnitzten Kirchenstuhl am Fenster saß.

Franz Grube …

Ihr wurden die Augen feucht, als sie seiner gedachten, und Richard Marschall hob das Glas und trank sein Andenken. Und sie sprachen von den Freunden, die vom Frankfurter Konservatorium ausgezogen waren, die Welt zu erobern, und ehe es ihnen bewußt wurde, waren sie längst wieder bei Helga Nuntius angelangt.

Da zog Richard Marschall seine Brieftasche hervor und entnahm ihr ein Bild und reichte es der Freundin.

»Das ist sie.«

Johanna Grube betrachtete lange die Aufnahme, die die Bezeichnung der letzten amerikanischen Saison trug und die gedruckte Unterschrift: »Helga Braun-Nuntius.«

»Hat sie Ihnen das geschickt?«

»Nein, ich habe es gekauft.«

»Sie hat gehalten, was sie versprochen hat. Das ist ein merkwürdig durchgearbeiteter Kopf. Nur in den Augen, da fehlt die Jugend noch immer, mehr noch als in ihrer Mädchenzeit.« Und ganz leise sagte sie: »Es ist kein frohes Bild.«

»Aber ein geniales,« antwortete er stolz.

»Würden Sie nicht lieber sehen, daß es ein frohes wäre?«

»Ach, Johanna, was nutzen da meine Wünsche! Aber nun sollen Sie auch erfahren, wie gerecht ich geworden bin. Hier! Herr Robert Braun, der erste Tenorist der Alten und Neuen Welt. Na, da haben Sie doch ein frohes Bild. Schaut der Kerl nicht so vergnügt drein, als hätt' er jede halbe Stunde Gagentag?«

Sie lachte und betrachtete dann das Bild. »Ein schöner Mensch …«

»Wenn Sie mir einen silbernen Lohengrinpanzer überziehen, bin ich auch nicht häßlich.«

»Ist das nun Neid oder Einbildung?«

»Es ist eine schöne Illusion,« sagte er und steckte die Bilder wieder ein.

Dann mußte er von seiner neuen Oper erzählen, und er saß am Klavier und spielte bis in den Nachmittag hinein. Es war, als sängen Menschenstimmen aus den Saiten des Instrumentes, von uralter Vergangenheit, in der die Leidenschaften groß waren wie die Menschen, in der der Mann, den die Liebe getroffen hatte, sich im Schmerz noch als ein Gesegneter fühlte und den Kopf reckte nach einer Krone oder einem sausenden Beil. Um der Liebe willen.

Die Luft war erfüllt von den Klängen, und das Blut war erfüllt von ihnen, so erfüllt, daß Johanna Grube ihre Wangen brennen fühlte und sie nicht anders konnte als ihn anrufen.

»Richard, Richard!«

Er ließ die Hände von den Tasten sinken und wandte sich erschöpft, aber mit heißen Augen nach ihr um. »Zufrieden?«

»Zufrieden? Singen möcht' ich sie, Ihre Hadwiga, singen und leben! Das ist ja wie ein Haß in mir, daß ich alles anderen überlassen muß. Daß ich so gar nichts bin als die Johanna Grube, die hungrigen Konservatoristen Butterbrote streicht und jetzt gar noch auf dem Kontorstuhl sitzt als weiblicher Chef der Firma.«

Und mit einem Male hatte alle Geklärtheit, alle Ruhe und Selbstbeherrschung das Mädchen verlassen, und sie ließ die Arme auf den Tisch fallen und den Kopf auf die Arme und weinte laut auf, als hätte sie die Anwesenheit des Freundes vergessen …

»Johanna!« rief Marschall bestürzt und legte ihr den Arm um die Schulter. »Johanna, was ist Ihnen nur? Ich habe Ihnen zu viel Musik vorgespielt. Ich mache ja lauter Dummheiten. Aber nun kommen Sie einmal her und lassen Sie sich sagen, daß Sie ja eine tausendfach reichere Natur sind, weil Sie verstehen, hungrigen Konservatoristen Butterbrote zu streichen, als wenn Sie meine Hadwiga sängen oder sonst ein Kunststück machten. Gesangstunden kosten in Frankfurt zehn Mark das Stück, für Dilettanten fünfzehn. Die kriegen Sie überall. Aber Stunden in Herzensgüte, in all dem, was Sie haben, die kriegen Sie nicht für den ganzen Nibelungenschatz! Mädchen, Mädchen, Sie ahnen ja gar nicht, wie weit Sie uns alle dahinten lassen.«

Er hatte sie sanft emporgezogen und ihren Kopf gegen seine Schulter gedrückt.

»Denken Sie nur einmal, Johanna, wem ich dann alles beichten sollte, wenn ich Sie nicht hätte. Und wie mir, so wird's vielen anderen gehen. Es gibt keine Frau, die so geliebt wird wie Sie.«

Da trocknete sie ihre Tränen ab und blieb noch einen Augenblick still an seiner Schulter.

»Gehen Sie jetzt zu Bettermanns?« fragte sie ihn. »Die Leute werden sich über die Maßen freuen.«

»Aber natürlich gehe ich. Helga wird mich sicherlich nach ihren Pflegeeltern fragen. Und später werde ich noch Professor Faller aufsuchen. Ich will die ganze Tasche voll persönlicher Grüße haben, wenn ich nach Hamburg komme. Ein anderes Geschenk bring' ich ja nicht mit.«

»Es ist auch das schönste; weil es so voll ist von Erinnerungen.« –

Auf der Diele des Bettermannschen Hauses fand er den Meister. Er hockte auf der großen Lederwage, aber die Wage war nicht in fröhlichen Schwingungen, und das Herz des Meisters auch nicht. »Womit kann ich Ihne diene?« fragte er trübselig.

»Mit einem kräftigen Händedruck, verehrter Meister,« rief Richard Marschall lustig.

Da äugte Herr Johann Bettermann schärfer hin und erkannte den jungen Freund. »Der Herr Marschall! Leibhaftig! Des hätt' ich mer heut net träume lasse.«

Marschall setzte sich neben ihn auf die breite Wagschale und klopfte ihm das Knie. »Aber was ist denn nur mit Ihnen? Sie sind ja wie ausgewechselt. Der Frau Gemahlin geht's doch gut?«

»Schönsten Dank for die Nachfrag'. Ohne zu schmeicheln, sie is gesund wie e jung Mädche.«

»Das freut mich von Herzen. Na und Sie? Sie werden sich doch auch nicht unter den Kalk mischen lassen!«

»Ach, Herr Marschall, mei ganz Läwensglick is mer zerstehrt.«

»Das sagt man so, Herr Bettermann. Es ist sehr schnell Nacht um uns her, wenn man den Kopf in den Sand steckt. Und nun ziehen Sie ihn mal gefälligst wieder heraus und überzeugen Sie sich, daß es noch Tag ist, und daß in der Bleidenstraße Villa Bettermann immer noch auf dem alten Fleck steht.«

»Awwer wie lang' noch? Basse Se uff, wie lang' noch …«

»Was ist das? Sie haben sich entschlossen, Ihr Häuschen zu verkaufen? Sie wollen fortziehen aus der Bleidenstraße? Ja, das war doch immer Ihr geheimer Herzenswunsch. Daß eines Tages die Baukommission zu Ihnen kommen würde, um Ihnen das Häuschen abzunehmen.«

»Ja, awwer doch net so. Doch net so! An so en Ausgang hab' ich doch gar net denke könne. Un wer sagt denn, daß mer's im Ernst eigefalle wär' wegzuziehe? Mei Herz hängt ja an dere alt' Gass'. Ich will net fort. Ich will net …« Und Herrn Bettermanns Kindergesicht verzog sich zu einem verzweifelten Ausdruck.

»Meister, Meister,« sagte Marschall lachend und klopfte ihm auf die Schulter, »das ist doch kein Grund zum Weinen! Wenn Sie es sich anders überlegt haben, so bleiben Sie einfach wohnen und sagen den Herren von der Baukommission: ›In diesem Hause gibt's nix zu handeln. Höchstens, wenn ich Ihnen mit Leder oder Kolonialwaren dienen könnt'.‹«

»Spotte Se aach noch. Von Ihne hätt' ich des am allerwenigste erwarte möge.«

»Das ist mein Ernst. Sie lassen sich einfach auf nichts ein.«

»Drehn Se doch net die Sach' erum. De Herre lasse sich ja auf nix ein.«

»Wieso?« fragte Marschall und machte ein nicht eben kluges Gesicht. »Wenn Sie doch das Angebot nicht annehmen?«

»Es spricht ja kaa Mensch von Angebot, 'naus soll ich, nix wie 'naus! Sie wolle mer ja das Haus schließe wege – wege – Baufälligkeit.«

Da war es heraus. Irgendwo raschelte es in den Wänden. Aber Meister Bettermann achtete nicht mehr darauf. Sein Lustschloß Villa Phönix, der Traum seines Lebens, war bereits zusammengestürzt.

»Das ist eine ernste Sache,« meinte Richard Marschall nach einer Weile, und er blickte mitleidig auf den zusammengesunkenen Meister. Er wußte, wie es tat, den Lieblingstraum plötzlich, vor sehenden Augen, versinken zu sehen. Wie erst mußte das Alter darunter leiden, das keine Zeit mehr fand, auf einen anderen Traum zu warten.

»Es is mer ja net um meinetwege,« flüsterte Johann Bettermann vor sich hin, »es is mer ja nor wege der Frää. Sie hat sich all ihr Lebtag darauf gefreut. Ich selber wär' ja vill liewer bis an mei End wohne gebliewe.«

»Ich werde jetzt einmal Frau Lena begrüßen,« sagte Marschall, »nachher sprechen wir weiter.«

»Ja ja,« drängte Herr Bettermann, »dhue Se des. Tröste Se die arm Frää.«

Er fand die Hausfrau in ihrem Verkaufslädchen über einem Rechnungsbuch. Auch sie hatte rotgeränderte Augen.

»Guten Tag, meine liebe Frau Bettermann!«

»Ach, Herr Marschall – –! Verzeihen Sie gütigst, ich wollt' Herr Hofkapellmeister sagen. Fräulein Grube hat mir so oft davon erzählt. Wie gut Sie aussehen. Das wird meinen Mann freuen. Haben Sie ihn schon gesprochen?«

»Soeben, Frau Bettermann. Das sind ja traurige Nachrichten.«

Sie blickte auf ihre Schürze und preßte die Lippen aufeinander.

»Der Giebel hat sich gesenkt,« sagte sie mit erzwungener Ruhe. »Das war wohl vorauszusehen. Aber mein Mann wollte nichts mehr anlegen, da er das Haus der Stadt zum Verkauf angeboten hatte. Die Herren sind aber auf den Preis überhaupt nicht eingegangen, er bestand wohl auch nur in der Phantasie meines Mannes zu Recht. Und dann ist das Unglück gekommen. Heute früh war die Baukommission da, um eine Inspizierung vorzunehmen, und da stellten sich dann alle die Schäden heraus. Bis zum Ersten müssen wir räumen.«

»Es tut mir um Ihretwillen so sehr leid, Frau Bettermann.«

»Ach, um meinetwillen! Ich hätt' ja gar nicht fort gemocht. Aber mein Mann! Der hat ja gar keine andere Freude mehr gekannt. Das ist ja mein einziger Schmerz, mein Mann …«

Da mußte Richard Marschall trotz der trüben Situation lächeln. »Ja, wenn dem so ist, Frau Bettermann – Ihr Mann glaubt, Sie hätten sich auf die Villa in der Bockenheimer Landstraße kapriziert – dann ließe sich wohl noch Rat schaffen. Reißen Sie den alten Kasten doch herunter und bauen Sie an derselben Stelle wieder auf. Es ist doch Ihr Grundstück.«

»Ach, Herr Marschall,« meinte die Frau kopfschüttelnd, »Sie täuschen sich. Es ist mein Mann, dem es nachgeht, daß er nicht auf die Bockenheimer Landstraße oder an den Palmengarten ziehen kann. Und aufbauen könnten wir ja doch nicht. Das kleine Grundstück gehört uns wohl. Aber wir haben nicht die Bausumme.«

»Die kann doch nicht so gefährlich groß sein bei einem so schmalen kleinen Haus.«

»Klein oder groß, Herr Marschall. Das ist immer Haben oder Nichthaben.«

»Ich werde mit Fräulein Johanna Grube sprechen. Die paar Zinsen bringen doch Ihre beiden Handlungen auf.«

»Herr Marschall – ach Gott, Herr Marschall –«

»Nun beruhigen Sie sich mal. Wir wollen jetzt Herrn Bettermann vorladen.«

Herr Johann kam und sah scheu nach den geröteten Augen seiner Frau.

»Herr Bettermann, ist das wahr, daß Sie es sind, der die Bleidenstraße nicht mehr mag und absolut Villenbesitzer werden will?«

»Weil – weil mei Frää doch so gern – –«

»Aber Mann, ich find' mich doch wo anders gar nicht zurecht!«

»Glabst du denn, ich? Ich hab' ja nur immer mit Angst an den Tag gedenkt.«

»Mann, Mann, ich hab' dir ja nur die Freud' nicht verderben wollen.«

»Un – un – ich dir net,« brachte Herr Bettermann heraus und sah seine Ehehälfte aufatmend an.

Da erneuerte Richard Marschall seinen Vorschlag, Fräulein Grube um die Bausumme zu ersuchen.

Herr Bettermann war fassungslos. Dann aber drang ein Jubelruf von seinen Lippen, und er umarmte seine Frau, die seinem Ungestüm nicht wehren konnte, und er küßte sie auf beide Backen, und seine Worte überstürzten sich mit seinen in Windeseile erwachten Plänen. Und als Richard Marschall sich zum Gehen wandte, hatte Herr Bettermann seinen Neubau bereits fünf Stock hoch in die Wolken geführt.

»Haben Sie mir etwas an Helga Nuntius aufzutragen? Sie entsinnen sich doch? Ihr einstiges Pflegetöchterchen. Ich fahre morgen nach Hamburg, und sie wird mich nach Ihnen fragen.«

»Grüße müsse Se se, Herr Marschall, als zu grüße. Des is ja unser Liebling. Un sie soll nach Frankfort komme als mei Gast. Solang' es ihr gefalle deht. Awwer erst im Frihling, wann mer das neue feine Haus einweihe. Sie kriegt eine Etasch ganz for sich allein. Woll'n Se ihr das bestelle?«

»Gern, Herr Bettermann, da wird sie nicht fehlen wollen.«

Dann schritt er, vor sich hinsummend, die Gasse entlang, um Professor Faller in seiner Privatwohnung aufzusuchen. Von allen, die Helga Nuntius nahe gestanden hatten, wollte er Grüße haben.

Vier Stock hoch wohnte der alte Sänger in einem grauen Hause der Hochstraße. Das Treppenhaus war dunkel. Der frühe Novemberabend machte sich geltend. Als Richard Marschall hoch oben vor der Junggesellenwohnung stand, hörte er die Klänge eines Flügels und einer Geige. Man spielte Beethoven.

Da wagte er nicht anzuklopfen, sondern trat ganz leise ein. Er kannte die Gewohnheiten der Fallerschen Besucher.

Er mußte sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, die in dem langgestreckten niederen Zimmer herrschte. Nur auf dem Flügel brannte eine kleine Klavierlampe und schuf einen roten kreisrunden Fleck.

Faller saß am Flügel. Die Welt der Töne hatte ihn ganz in ihrem Bann. Ein ehemaliger Schüler, nun auch schon angegraut, der es nicht weiter gebracht hatte als zum Orchestergeiger, stand hinter ihm und ließ die Geige die Begleitung singen. Der Schlagschatten der beiden verwitterten Gestalten fiel in die Stube und verlor sich in der Dunkelheit.

Dann gewahrte Marschall allerlei Menschenkinder um sich her. Sie hockten auf den Stühlen und auf dem zerschlissenen Diwan. Wie abgestorben. Begrabene Hoffnungen lagen in den Augen, oder auch ein stumpfes Hinbrüten. Nur bei wenigen flackerten die Blicke auf unter der zwingenden Gewalt Beethovenscher Größe, und während sie mit auf und ab wiegendem Kopf dem Rauch ihrer Zigaretten folgten, dachten sie wohl daran, hinauszugehen und noch einmal ihre Kraft zu versuchen, von der sie so viel in stürmischen Gelagen vergeudet hatten, als sie noch meinten, die Kunst sei die Schrankenlosigkeit.

Die Töne waren verhallt. Sie zitterten noch in den Ecken und Winkeln, und dann lastete das Schweigen.

»Ist noch jemand gekommen?« erscholl Fallers Stimme. Sie war noch brüchiger geworden.

Da trat Marschall rasch vor und begrüßte den Professor herzlich. Der zwinkerte ihn an, hob die Klavierlampe, um ihn zu beleuchten, und suchte in seinen Erinnerungen.

»Richard Marschall, einst Schüler des Frankfurter Konservatoriums; heute Hofkapellmeister,« sagte Marschall lachend.

»Mir gänzlich unbekannt,« meinte Faller und stellte die Lampe wieder hin. Die Glasglocke klingelte. Die Hände des Professors waren nicht mehr ganz sicher. »Wollen S' mich etwa zum Tristan haben? Bedauere. Ich plag' mich nimmer.«

Die anderen waren näher gerückt. Das Wort »Hofkapellmeister« übte seine Wirkung aus und ließ Hoffnungen auftauchen von Engagements und Protektion.

»Herr Professor,« erwiderte Marschall, »ich wollte mich nur nach Ihrem Befinden erkundigen. Sie hatten einmal eine Schülerin, die Ihnen sehr viel zu verdanken hat und gern von Ihnen hören möchte.«

»Dös wär' gerad'zu ein Wunder. Ein Mensch entsinnt sich, daß er mir was zu danken hat? Dös gibt's nicht!«

»Herr Professor, die Schülerin, die Helga Nuntius hieß, macht eine Ausnahme.«

»Nuntius – Nuntius? Richtig – –. Aber es waren zwei. Welche wär' denn nachher das Wunder von Dankbarkeit?«

»Die jüngere, die Ihren Lieblingsschüler Robert Braun heiratete.«

Da erwachte der alte Professor. Und über sein verknittertes Gesicht flog ein Wetterleuchten.

»Macht's, daß ihr weiterkommt, ihr da!« rief er barsch den Herumstehenden zu. »Hier wird von Kunst gered't.«

Hinter dem letzten schloß er selbst die Tür. Dann öffnete er ein Fenster und ließ die kühle Luft herein.

»Still, still, sagen S' nix! Ich weiß ja alles. Robert Braun – Helga Nuntius. O ja, das war meine Glanzzeit als Lehrer. Das war auch ein Schülermaterial! Ist nimmer wiedergekommen. Nur noch Dreck – Dreck! Stimmen wie die Maikäfer und Dünkel wie die Giraffen. Da vertrinkt man halt seinen Groll. Man vertrinkt ihn.« – –

»Herr Professor, darf ich Helga Nuntius Grüße von Ihnen bringen? Ich werde sie sehen.«

»Nein, das dürfen Sie nicht!«

Das klang so hart und so herrisch, daß Richard Marschall unwillkürlich zurückwich.

»Glauben S' denn, man soll sich lustig über mich machen? Glauben S' denn, man soll sich vor Lachen den Mund zerreißen, wenn Sie kommen und erzählen, wie Sie den Faller unter lauter Hottentotten gefunden haben? Herr, Sie irren! Der Faller geht nimmer zu Grund', weil seine Erinnerungen am Leben bleiben! In der ganzen Welt! Schaffen S' sich Erinnerungen, Herr, und dann kommen S' wieder. Guten Abend!«

Richard Marschall zögerte noch. Dann versuchte er sein Glück von neuem. »Ihre Schülerin Helga Nuntius würde sich so sehr freuen, wenn sie wüßte, daß auch Sie zuweilen noch an sie dächten.«

Er erhielt keine Antwort. Der alte Sänger hatte sich auf seinen Klavierbock niedergelassen und starrte in das rote Lampenlicht. Da ging Marschall zur Tür und leise hinaus.

Drei Stufen war er erst hinab, als hinter ihm die Tür aufgerissen wurde.

»Natürlich grüßen Sie sie. Und recht herzlich. Hören S', recht herzlich! Vom alten Faller!«

Als er die Treppe weiter hinabschritt, hörte er hinter sich den Flügel rauschen. Der alte Herr war von Beethoven aufs neue in den Bann der einsamen Größe gezogen worden. – –

Im Grubeshof saß Richard Marschall noch lange mit der Freundin auf. Und sie sprachen über Menschenschicksale, die in den Träumen einer kurzen Erdenspanne beruhen, und über den lustigen Träumer Johann Bettermann, dem Johanna Grube helfen wollte, einen neuen Traum zu spinnen. – – –


 << zurück weiter >>