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Drittes Buch


1.

»Hier hinauf geht der Weg!«

»Wetten, daß nicht?«

»Aber ich werde doch meine Heimat kennen?«

»Ich kenn' sie auch. Hab' ich mich gestern nicht tadellos zu Ihnen gefunden?«

»Lieber Freund,« sagte Frau Helga und schloß einen Moment die Augen. Aber sie hatte es warm und tief gesagt.

»Na, na – –,« wehrte Richard Marschall den Ton der Dankbarkeit ab. »Nur keine Verabredungen brechen.«

Da öffnete sie die Augen und sah ihn mit klaren Blicken an.

»Ich breche sie nicht. Was ich Ihnen gestern abend versprochen habe, das behält für immer und immer seine Gültigkeit. Ich werde nicht mehr zurück, ich werde nur noch vorwärts denken. Gerade so, als hätte ich einen schweren, törichten Traum geträumt und freute mich beim Erwachen, daß mir die Sonne in die Augen scheint.«

»So ist's recht, Frau Helga. Und nun passen Sie auf, was so eine echte, rechte Sonne für ein Ding ist!«

»Da! Schauen Sie hin! Da steht sie!« rief sie erfreut und blickte gen Himmel.

»Sie hat noch etwas bleiche Backen,« meinte Richard Marschall, »aber das gibt sich, wenn sie erst alle die heimliche Schönheit entdeckt hat, die über Nacht entstanden ist. Sagt ich's nicht? Da beginnt sie schon sich zu verwundern. Ganz rot läuft sie an. Schönen guten Tag, und ausgeschlafen? Jawoll, das ist eine Überraschung! Zwischenakt nennen wir's beim Theater, Frau Sonne, Verwandlung! Darauf baut sich ein funkelnagelneuer Akt auf.«

Er schwenkte den Hut in die blanke Morgenluft.

»Sie hat was gemerkt, Frau Helga, sie hat was gemerkt! Wie sie die Fühler ausstreckt, als könnte sie sich an dem glitzernden Schnee die Finger verbrennen. Schwupp, zieht sie sie zurück. Aber die Neugier, die Neugier! Sie riskiert's wieder. Oh – oh – diesmal hat's behagt. Wie sie vergnügt über das saubere weiße Hemdchen blinzelt, in dem sich ihre alte Liebe, die Erde, so jungfräulich präsentiert. Und nun lacht sie über das ganze Gesicht!«

Helga lachte mit.

»Nein, wie Sie aus allem, was um Sie her ist, das Helle und Heitere ziehen können!«

»Werden Sie auch bald lernen. Deshalb bin ich ja hier!«

»Deshalb?«

»Nur allein deshalb. Betrachten Sie mich ruhig als Ihren Brückenbauer. Wenn Sie wollen, hab' ich Sie als Lehrling angenommen. Gilt's?«

»Es gilt. Ich werde zwar viel Lehrgeld zahlen müssen.«

»Hm – ja – es ist gut, daß Sie die Frage anschneiden. Wegen des Lehrgelds, da müßten wir uns verständigen.«

Ihre Augen wurden ernst.

»Sehen Sie,« fuhr er fort, »ich hab' es mir ja eigentlich schon vorweggenommen. Aber es wäre mir doch ein angenehmes Gefühl, wenn ich so 'ne Art kontraktliche Berechtigung darüber hätte. Das steht nun bei Ihnen.«

»Bitte – –« sagte sie nach einer Pause.

»Es ist wegen der Anrede. Den Namen, den ich Ihnen in Hamburg gab, den möchte ich nicht mehr gebrauchen. Denn Sie haben ihn zurückgegeben, wenn er Ihnen für die Öffentlichkeit auch weiter gehört. Und – Frau Helga Nuntius? Das stimmt auch wieder nicht. Darf ich Sie nun, der alten Freundschaft wegen, Frau Helga nennen?«

»Der neuen Freundschaft wegen,« sagte sie und gab ihm die Hand.

»Das wär's Lehrgeld,« meinte er, »und nun haben Sie nichts zu tun, als mir zu folgen.«

»Meister Brückenbauer,« und das heitere Lachen kam ihr zurück, »Sie verfügen über Ihren Lehrling – –«

»Also nicht den Weg hier hinauf, sondern dort hinauf!« unterbrach er sie.

»Aber wir wollen doch nicht nach Kassel, wir wollen auf den Bilstein!«

»Ich blase die Feder wohl über die Mauer,
Und fällt sie grad' oder schräg:
So geht mein Weg!«

sang er Hans Sommers junge Weise mit schmetternder Stimme und warf, das Orakel zu fragen, den Hut in die Luft. »Achtung, was gespielt wird! Da saust er herunter! Baus! Donnerwetter! Da sitzt er fest.«

»Auf einem Wegweiser!« rief Frau Helga und reckte den Arm hoch.

»Wahrhaftig,« sagte Marschall beschämt.

»Holen Sie schnell Ihren Hut, damit Sie sich nicht erkälten, Meister Brückenbauer.«

»Spotten Sie nur,« knurrte Marschall, »dafür werde ich sogleich Ihre Heimatskunde zu schanden machen. Dort hinaus liegt der Bilstein. Das werde ich Ihnen vermittelst des Wegweisers sofort beweisen.«

Nun standen sie vor der beschneiten Stange, deren Richtarme nach allen vier Seiten auseinanderliefen.

»Oh – –,« machte er bedauernd, »nichts zu lesen. Der Schnee klebt einen Zoll dick auf den Brettern.«

Er hob sich auf den Zehen und streckte die Arme, um den Schnee herunterzuwischen.

»Die Stange ist infam hoch,« sagte er nach einigen fruchtlosen Bemühungen, »und ein Hut bleibt ein Hut, wenn man keinen zweiten hat. Ich werde mich mit Ihrer gütigen Erlaubnis als Kletterer produzieren.«

»Gehört das zum Lehrfach?«

»Wie's fällt, Frau Nachbarin. ›Nur nix auslassen,‹ sagte der Major des wackeren Herrn Bettermann.«

Mit zwei Klimmzügen war er oben.

»Für alle Tage möcht' ich den auch nicht als Taktierstock zwischen den Fingern haben.«

Er nahm den Hut und schob ihn lachend in den Nacken. Dann beugte er sich vor und griff nach den Brettern, um den festgefrornen Schnee herunterzukratzen. Da murrte das Holz, solcher Belastungsproben nicht gewöhnt, durch den ganzen Schaft.

»Herr Hofkapellmeister, der Stamm ist morsch!«

»Himmelsaperment,« rief Richard Marschall und umklammerte die Richtarme.

»Umdrehen, Frau Helga! Drehn Sie sich herum!«

Sie hielt vor Schreck die Hände vor die Augen. Und krachend schlug der Stamm um, daß die Bretter links und rechts flogen.

Als sie verängstigt aufzublicken wagte, schien ihr die Sonne einen Luftsprung zu machen und die alten Fichten ringsum vor Vergnügen mit den Schneebärten zu wackeln. Richard Marschall saß im Schnee und klaubte die Richtarme zusammen.

»Ja,« sagte er, »lesen könnt' ich sie jetzt. Auf diesem steht Kassel, auf dem hier Großalmerode, auf dem dort Roßbach und hier – Bilstein. Bitte zu wählen.«

»Bilstein!« rief sie. Und ihr junger Mut wuchs zum Übermut.

»Ganz meiner Meinung,« erwiderte er mit hochgezogenen Brauen. »Jetzt brauchte das Brett nur vor uns herzulaufen.«

»Versuchen Sie's!« rief sie ihm zu. »Hier ist ja doch alles verzaubert!«

Da gab er dem Brett einen Ruck, daß es in der Richtung des Wegs, auf den er bestanden hatte, sprang. So, wie man ein Taschentuchhäschen aus der gehöhlten Hand springen läßt.

»Oh, Frau Helga,« meinte er und erhob sich, »das hätten wir bequemer haben können. Aber der Frauengeist verlangt nach halsbrecherischen Wundern, bevor er gläubig wird. Nun aber 'rein in den Wald, wo er am dicksten ist. Es geht gegen Mittag.«

Da folgte sie ihm, und ihr Herz war ganz leicht, und all das schwere Denken, das bis gestern gewährt hatte, war von ihrem Kopf genommen, und in ihr war eine Mädchenfröhlichkeit voll Unberührtheit und schimmerndem Glanz, wie sie in Kindern ist, die noch vor dem Leben stehen …

Zwischen edlen, breitnadeligen Tannen, zottigen Fichten und stattlichen Buchen ging es einher, von denen es wie Puder stäubte, wenn Marschalls Hand die Zweige zum Durchschlupf beiseite bog. Mit der elastischen Anmut, die ihr eigen war, wand sich Helga durch das Gewirr. Ihre Wangen waren von der kalten Winterluft gerötet, an ihren langen Wimpern hingen ein paar Schneekristalle und ließen das Leuchten ihrer Augen noch glänzender erscheinen. Ihr Jakett sah aus wie ein Müllerkittel, so weiß hatte es der von den Bäumen rieselnde Schneestaub gefärbt, aber die Brust hob und senkte sich darunter wie unter einem Festkleid. Wenn Richard Marschall die Zweige hob und sie an sich vorbeischlüpfen ließ, weitete sich sein Blick vor Staunen. Aber er hütete sich, es zu verraten. Er fühlte, daß er sie nicht stutzig machen dürfe, daß er heimlich nur, aber stetig, nachhelfen müsse, so daß sie glaubte, alles käme aus ihr selbst. Das würde ihr das Selbstvertrauen geben, bis sie eines Tags auf festen Füßen stände und mit gefestigter Seele. Ohne das Hinübergleiten empfunden zu haben. Wofür war er denn auf der Welt, er, der Freund, der Brückenbauer?

Er lachte in sich hinein. Aber sie hatte es doch bemerkt.

»Was ist?« fragte sie, als sie aus einer Schneise auftauchte und sich den Schnee aus den Haaren schüttelte. »Wenn es was Gutes ist, lassen Sie mich teilhaben.«

»Ich dachte, es krauchte ein Elflein daher.«

»Der Wald steckt voll davon. Als Kind hab' ich immer hinter einem Baum gestanden und sie gelockt.«

»Wie haben Sie denn das gemacht?«

»Gott, wie man als Kind das tut, was man in Märchenbüchern gelesen hat. Ich hab' mein Schürzchen abgebunden und das Kleidchen und die Schuhe ausgezogen und alles auf die Waldwiese gelegt. So recht schön augenfällig. Und dann hab' ich barfuß und im wollenen Röckchen hinter einem Baum gekauert und mit ganz feinem Stimmchen gesungen.«

»Kamen dann die Elfen?«

»Ich weiß nicht recht. Es kamen Hasen über das Moos gehumpelt, und bunte Häher über die Zweige gehüpft, und einmal, in der Dämmerung, eine ganz tief revierende Eule. Die strich mit ihren runden Flügeln so nah' über mich hin, daß ich vor Bestürzung keinen Ton von mir geben konnte. Als ich wieder zu mir kam, rannte ich nach der Waldwiese. Aber Schuhe, Schürzchen und Kleidchen waren weg. Da hatte ich nicht acht gegeben und gerade an dem Abend, an dem die Elfen gekommen waren, der dummen Eule wegen meinen Herzenswunsch verpaßt. Laut weinend bin ich nach Hause gelaufen. – – Wie seltsam. Heute steht das alles ganz klar wieder vor mir, und ich habe jahrelang nicht daran gedacht …«

»Und die Elfen?« forschte Richard Marschall, um sie nur nicht an den neu sich einstellenden Gedanken haften zu lassen. »Hat sich das undankbare Gesindel denn nicht nachträglich gemeldet?«

»Leider ja. Aber auf Kosten meines Elfentraums. Da ist eine Wirtschaft in dem Dorf Kleinalmerode, direkt neben dem Pfarrhaus, mit einer fröhlichen, dicken Wirtin, die von aller Welt Minchen genannt wird in ganz Kurhessen. Dorthin ging der Vater zuweilen in früheren Jahren, wenn die Jagd ihn weiter geführt hatte. Später hat er auch das unterlassen. Nun, und bei Minchen hörte er dann Tags darauf, daß am Abend ein Handwerksbursch ins Dorf gekommen wäre, und der hätte versucht, Kinderzeug zu verkaufen. Die Bäuerin aber, die das Kleidchen um und um drehte, um die Nähte zu prüfen, hatte auf einem Leinenbändchen meinen Namen entdeckt. Und dann haben die Bauern den Mann furchtbar durchgeprügelt und ins Spritzenhaus gesteckt. Aus dem ist er dann nach einer gutverbrachten Nacht am anderen Morgen dankbar ausgebrochen.«

Sie lachte.

»So geht's, wenn man träumt. Da entpuppt sich das feine Elflein als ein borstiger Handwerksbursche.«

»Wer weiß?« meinte Marschall nachdenklich. »Wenn er so mir nichts dir nichts aus dem Spritzenhaus verduftet ist, könnte es doch schon ein Elferich gewesen sein. Die haben ihre Marotten.«

»Gehen Sie! Sie möchten mir wohl meine dummen Kinderträume wiedergeben?«

»Das möcht' ich schon. Einige wenigstens.«

Und dann gingen sie weiter, bis sich die Schneise weit öffnete und sie auf einer Anhöhe standen. Rings um sie her schoben sich die Waldwege ineinander, und über die Gipfel der Tannen lugten immer neue waldige Bergkuppen hervor in schneeweißem Gewand, das die Wintersonne mit roten und feurigen Streifen säumte. In der Luft stand mit ausgebreiteten Schwingen ein Bussard, der, vom Schneefall des letzten Abends überrascht, scharf nach den Waldwiesen äugte, um ein verlaufenes Rebhuhn zu schlagen.

»Woran denken Sie, Frau Helga?«

»Ich denke an eine andere Waldwanderung vor Jahren.«

»Nehmen Sie nur das Schöne heraus, ich rate Ihnen gut.«

Sie nickte und sah ihn offen an.

»Wissen Sie noch, wie wir durch den Taunus zogen, zu Ihrem Vater? Es war der wunderbarste Sommertag, den ich erlebt habe. Wie oft habe ich ihn vor mir erstehen lassen. Dasselbe herrliche Schweigen wie hier, das Schweigen, das alle Stimmen der Seele auslöst und dadurch so wundersam beredt wird. Nachmittags waren wir mit Ihrem Herrn Vater in der Kirche, und er spielte die Orgel –«

»Und ich tanzte, die Annahmebescheinigung der Weimarer Intendanz über meine Erstlingsoper in der Tasche, auf dem Blasebalg –«

»Und ich sang die Arie aus dem ›Messias‹.«

»Die Erlöserarie. Da verliebte sich mein alter frommer Herr in eine kleine Sängerin –«

»Und abends –« sie stutzte plötzlich.

Und Richard Marschall stutzte auch. Und dann nahm er all seinen Humor zusammen und voltigierte über die jäh sich auftuende Schlucht des Gesprächs hinweg und rief, als ob es sich nun erst um die lustigste Episode handle: »Ach ja, und abends! Da gab's ein Gewitter, daß es nur so rasselte, und die Bäume im Wald sich duckten wie geprügelte Schulbuben. Und als Gott den Schaden besah, da hatte auch ich meine Kopfwäsche weg. Die war nicht von schlechten Eltern und in der Wirkung, wie's die Barbiere auf ihr Haarwasser schreiben: »Erfrischt die Kopfhaut, benimmt den Schwindel! Juhu, Frau Helga, und da ist der Bilstein!«

»Geben Sie mir mal erst Ihre Hand.«

»Gern,« sagte er und nickte dabei dem ragenden Aussichtsturm zu.

»Sie haben es mir nicht nachgetragen?«

»Aber was denn? Vorwärts, in zehn Minuten haben wir die letzte Höhe.«

»Das mit dem – Gewitter, Herr Marschall.«

»Ach was, die Kopfwäsche kam mir ganz gelegen. Nun aber: frische Schneid zum Einzugsmarsch!«

»Verstellen Sie sich wirklich nicht? Sie sind mir nicht böse? Bitte, sehen Sie mich an.«

Da sah er sie an. In seinen Augen blinkerte es ein wenig. Dann wurde der Blick groß und offen.

»Zufrieden?« fragte er.

»Das hat mir auf der Seele gelegen, den ganzen Tag über. Nun steht nichts mehr zwischen unserer Freundschaft.«

»Nein,« sagte er, und das Wort, das so lustig erklang, tat ihm weh …

»Lieber Freund. Wenn ich Sie nicht hätte – –.«

Er schaute in das stille, vertrauende, hoffende Gesicht. Und dann gab er sich einen Ruck.

»Das Hifthorn heraus! Trara – Trara! Bilstein, wir kommen! Heda, Wirtschaft, einen Ziemer an den Spieß! Wirt, roll das Faß herein – Mädel, schenk ein, schenk ein – Mädel, schenk ein!« Und er sandte die Strophe wie einen Juchzer aus durstiger Kehle, und doch war ihm die Kehle nicht eingeschnürt vom Durst.

Sie kletterten hinan, und er hielt das Gezweig und ließ sie hindurchschlüpfen, und der Schnee stäubte ihnen von den Zweigen ins Haar, daß sie ausschauten wie ein Rokokopärchen, und als sie oben standen, sauste das Blut wieder lebendiger durch ihre Adern, und die Brust hob sich hoch nach dem raschen Anstieg, und die Augen blitzten vor frisch erwachter Daseinsfreude.

»Noch nicht umschauen, noch nicht!« gebot sie. »Erst auf dem Turm. Ich habe hier für meine Heimat die Honneurs zu machen.«

Und sie tasteten sich in dem Turm zurecht und klommen die scharfgewinkelten Stiegen hinauf und erreichten tiefatmend die Plattform.

»Meine Heimat,« sagte sie, »mein Hessenland.«

Und sie schwiegen beide und ließen überwältigt die Blicke schweifen. Durchsichtig war die blanke Winterluft. Die Fernen schienen näher gerückt, wie die Rundkulissen eines gewaltigen Panoramas, aus mächtigen Bergzügen gebildet. Und tief zu ihren Füßen, meilen- und meilenweit, breitete sich die beschneite Landschaft mit Wäldern, Städtchen, Dörfern und Weilern, wie aus einer Spielzeugschachtel unter flockigem Weihnachtsbaum aufgebaut.

»Dort, in der Ferne, sehen Sie –?«

»Das silberne Band? Herrgott, ist das schön!«

»Die Werra. Und das ist das Werratal. Dort hinaus liegt Witzenhausen, wo Sie gestern ausgestiegen sind, um Ihre Freundin zu suchen.«

Er spähte nach den alten Türmen, den Resten vergangener Jahrhunderte, aber eine Hügelreihe deckte sie.

»Dich werd' ich nie vergessen, Witzenhausen,« murmelte er.

Und sie fuhr fort, ihm die Namen der Dorfschaften zu nennen, soweit sie ihr geläufig waren. Dann nannte sie mit Stolz die Berge.

»Dort, der mächtige, behäbige Rücken mit der überhängenden Bergnase, das ist der Meißner. Der ist verwunschen, denn auf ihm, dem höchsten Gipfel Hessens, saß Frau Holle, und in den seltsam gegliederten Basalthöhlen, die noch heute im Berg sich befinden, hausten die Zwerge.«

»Ist das auch wahr?«

»Mein Vater hat's mir gesagt. Dort hinten, das ist das Eichsfeld. Wenn Sie scharfe Augen haben, können Sie den Harz erkennen und den Thüringer Wald.«

»Und die famose Burg mit den beiden drohenden Türmen?«

»Das ist mein Liebling, der Hanstein. Folgen Sie einmal mit dem Blick dem Werralauf. Dem Hanstein gegenüber, auf einem niedrigen Hügel – haben Sie ihn? – auch die eintürmige Burg, die fast wie eine Kirche aussieht? Das ist der Ludwigstein. Aus dem Gequader springt eine greuliche Fratze heraus, die zeigt dem Hanstein die Zunge.«

»Und das läßt sich der Kerl, der Hansteiner, gefallen?«

»I wo, er hat auch eine Fratze angebracht, die macht's ebenso.«

»Gott sei Dank,« sagte Richard Marschall, »sonst wär's hier ja wie im Paradies so schön. Jetzt fühl' ich mich wieder unter Menschen.«

»Und die kahlen Berge, dicht vor Witzenhausen, die aus der Ebene aufspringen und nur auf der Spitze je ein Häuflein Bäume wie einen Haarschopf tragen, das sind die Warteberge.«

»Das klingt ja ganz kriegerisch.«

»Von dort aus werden die alten Deutschen wohl ins Land gelugt haben, denn hier herum stoßen heute noch allerlei Grenzen zusammen: Sachsen, Thüringen, Hannover, Hessen. Ist es nicht schön hier oben?«

Da nahm er ihre Hand und drückte seine Lippen darauf.

»So schön,« sagte er, »daß ich verstehe, weshalb Sie zuerst hierher gegangen sind.«

Sie schwieg, ließ ihm die Hand und umfaßte mit weitem Blick noch einmal alle die Wunder der Landschaft. Und der Schnee, der Wälder und Felder, Berge und Täler überzog, erschien ihr nicht als ein Bahrtuch, er erschien ihr als ein neues, weißes Blatt im Lebensbuch, bereit, ein neues Lebensmärchen zu beginnen …

Sie waren vom Turmplateau heruntergestiegen und suchten in der Schutzhütte nach der Wirtin. Aber wie Marschall auch seine Stimme erschallen ließ, niemand zeigte sich. Da sahen sie verdutzt einander an.

»Die Frau,« entsann sich Helga endlich, »wohnt in Großalmerode. Ich weiß es noch aus meinen Mädchenjahren. An Wintertagen kommt sie nur herauf, wenn der Zug von Kassel um die Mittagszeit Gäste bringt. Wir müssen also abwarten.«

»Bis dahin sind Sie erfroren,« sagte Marschall. »Nehmen Sie Platz, ich muß eingreifen.«

Er rückte einen Stuhl neben den kalten eisernen Ofen, und als sie sich hineingekauert hatte, zog er seinen Mantel aus und wickelte ihn ihr behutsam um Kniee und Füße. Dann zog er sein Taschenmesser, öffnete die breite Klinge und zog auf Raub aus. Wenige Minuten später stand er, rot von der Kälte und der Arbeit, wieder auf der Schwelle und warf einen Arm voll Reisig auf den Boden, das er an geschützten Waldstellen herausgesäbelt hatte. Ein paar alte Briefschaften dienten als Zünder, das feinste und trockenste Reisig wurde daraufgeschoben, über das knatternde Feuer kräftigeres Holz gelegt, das das Taschenmesser in Splitter schnitt, das Ganze mit einem dürren Kloben gekrönt, und aus dem Prasseln, Knacken, Sprühen der Flammen zog eine wohltuende Wärme durch die Hütte, daß die beiden Einsiedler die Augen schlossen und mit einem Lächeln auf den Lippen dem Gesang der feurigen Wichtelmänner im Ofen lauschten. Und eine warme, frohe Stunde zog vorüber. – – Eine Stunde der Einkehr …

»Horch,« sagte Frau Helga und beugte sich vor. Und während ihr Gefährte sich bückte, um den herabgeglittenen Mantel sorgsam wieder um ihre Kniee und Füße zu wickeln, ertönten Schritte von draußen und fröhliche Ausrufe. Dann wurde die Tür der Schutzhütte aufgerissen, und ein Häuflein Touristen drängte herein.

»Guten Tag! Gibt's hier keine kurhessische Wirtin mehr?«

Vom Waldaufstieg schallte Hundegekläff. Ein schottischer Schäferhund stürmte ins Zimmer, ruckte sich zusammen und hielt mit hellem Geläut eine Ansprache.

»Der ist so gut wie Noahs Taube,« erklärte ein Tourist. »Wir sind gerettet.«

Mit dröhnendem Hurra wurde die Wirtin begrüßt, die, den wohlgepackten Proviantkorb am Arm, schmunzelnd sich die Huldigungen gefallen ließ, vergnügt nach dem rotbäckigen Ofen schielte und alsbald im Nebenraum verschwand, um Schinken mit Eiern und dampfende Grogs zu bereiten. Mitten zwischen der lustigen Gesellschaft, die die Freude an der Natur aus den engen Stuben der Stadt hinausgetrieben hatte in die Winterberge, saß Helga, und allen Fragen stand sie Red' und Antwort, als sei sie selbst ein Naturkind geworden.

Richard Marschall betrachtete sie mit lächelnder Genugtuung. Und in dieser Stunde gelobte er sich noch einmal, die jungen Rosen auf ihren Wangen nicht ersterben zu lassen und, was an ihm sei, das frohe Leuchten ihrer Augen zu erhalten, über diesen Tag hinaus, über die Jahre hinaus, und nur an sie zu denken und nicht an sich.

Das Mahl war vorüber, die Touristen rüsteten sich zum Abmarsch über Roßbach nach Witzenhausen, um dort die Bahn zu erreichen. Mit erneutem Hurra nahmen sie Abschied und zogen singend ihre Straße. Und Richard Marschall wanderte mit Frau Helga den Weg zurück, den sie am Morgen gekommen waren.

Aber es flog kein lautes Lachen mehr über den Weg, und von Elfen wurde nicht mehr geflüstert. Und doch war der Widerglanz und Widerhall der fröhlichen Bergfahrt in ihnen.

Sie sprachen nicht. Nur von Zeit zu Zeit nickten sie sich zu, um sich ihr Wohlergehen zu bestätigen. Und wenn eine glatte, abschüssige Stelle kam, nahm Richard Marschall Frau Helgas Hand und legte sie fest auf seinen Arm, und dann glitt er hinab über die leuchtende Schneebahn, und ihre leichten Füße glitten mit.

Nun schaute die Wintersonne wie durch ein glutrotes Glas und ließ den Himmel aufflammen wie ein Herdfeuer. Der Schnee auf den Wegen begann zu funkeln, und die weißen Fichten- und Tannenbestände, und hinter ihnen die ragenden Buchenwaldungen warfen durchschimmernde rosa seidene Gewänder über ihre schneeigen Unterkleider.

Helga blieb stehen und schaute in die Glut, die sich bis an den fernen Horizont breitete und dort sprühend verlief. Und Richard Marschall stand neben ihr und wartete auf ein Wort.

»Wissen Sie auch,« begann sie endlich, »was wir uns als Kinder bei diesem Schauspiel dachten?«

»Sagen Sie es mir,« bat er leise.

»Wenn die Adventszeit kommt und in der Abendsonne der Himmel so geheimnisvoll zu glühen beginnt –«

»Daß Weihnachten naht,« sagte er.

»Ja,« fuhr sie fort, »Weihnachten. Und die Vorfreude darauf! Wenn die Sonne schräg stand und allerlei Laute sich im Walde erhoben, dann ließ ich mich als Kind so gern umschauern von Zeichen und Wundern. Und jede Erscheinung mußte sich deuten lassen, auf den heiligen Christ. ›Jetzt backt das Christkindchen die Weihnachtskuchen,‹ sagte ich mir und sah mit stockendem Atem hinauf in die Glut des Abendhimmels. Und mit klopfendem Herzen dachte ich, ob mein Kuchen heute wohl auch darunter sei.«

»Nun ist Weihnachten wieder nahe,« sagte er, »daran wollen wir denken.«

»Ich denke daran,« erwiderte sie, und es war, als käme die alte Schwermut zurück.

»Frau Helga, dort oben backt das Christkindchen die Weihnachtskuchen.«

»Ich habe seit Jahren keine mehr gegessen.«

»Dann muß die Vorfreude diesmal umso größer sein. Sehen Sie mal, wie das Herdfeuer stiebt! Da ist ein Extrakuchen in der Mache.«

»Nicht für mich,« antwortete sie. »Was sollte ich allein mit dem Extrakuchen!«

»Allein? Wer spricht denn von ›allein‹?«

»Sie hören es. Ich spreche davon.«

Sie waren weitergeschritten durch den rotleuchtenden Schneewald, der jetzt violette Säume trug.

»Nein,« sagte Richard Marschall plötzlich, »das gebe ich nicht zu.«

»Sie geben es nicht zu? Ja, da können Sie auch nicht helfen. Bis das Frühjahr kommt, bleibe ich hier oben.«

»Und dann?«

»Dann werde ich mein Gleichgewicht gefunden haben, das ich suche und brauche.«

»Glauben Sie doch das nicht, Frau Helga. In dieser Abgeschlossenheit fehlen Ihnen die Maßstäbe. Wenn Sie ein halbes Jahr hier oben in der Abgeschiedenheit gesessen haben, werden Sie weltfremder sein als bisher. Weshalb? Wo Sie doch mit dem alten Leben abgeschlossen haben? Weil Ihnen die Vergleichswerte fehlen werden, weil Sie Ihre neuen Gedanken nicht mit den Wirklichkeitserscheinungen messen können, mit einem Wort: weil Sie sich nichts als eine neue Traumwelt aufbauen würden. Wieder eine Traumwelt!«

»Wo gehör' ich denn hin?«

»Ins Leben hinein gehören Sie! So schnell Ihre Füße Sie zu tragen vermögen: ins Leben!«

»Ich komme ja daher. Müd', niedergeschlagen, flüchtig – was Sie wollen.«

»Sie kommen aus dem Scheinleben. Wir wollen ehrlich sein, Frau Helga.«

»Ich bin es. Aber für das neue Leben muß ich mich erst sammeln.«

»Frau Helga, was ich sage, mag hart klingen, aber ich muß es doch sagen, weil ich Ihr Freund bin und selbstlos Ihr Bestes wünsche. Sie haben, Frau Helga, fünf Jahre lang Zeit gehabt, sich zu sammeln. Jetzt steht die Tür offen. Und jetzt aufs neue zögern und hinausschieben – das wäre Feigheit. Das einzige, was ich Ihnen nicht zutraue.«

Da sie nicht antwortete, blickte er sie an.

»Um Gottes willen, was haben Sie? Ich bin ein Tölpel.«

Sie ging mit festem Schritt, den Blick gradeaus gerichtet, neben ihm her. Aber aus ihren Augen strömten die Tränen, aus den Augen, die er niemals weinen gesehen hatte.

»Frau Helga,« bat er, »nicht weinen. Ich will ja keinen Ton mehr sprechen. Aber nicht weinen, nicht weinen. Das kann ich nicht mit ansehen. Ich hab' mein Lebtag nicht geweint – aber gleich fang' ich auch an.«

»Aber es ist ja so gut – so gut –« brachte sie hervor.

»Nicht doch, nicht doch. Wie hab' ich das nur anstellen können?«

»Lieber, lieber Freund, ich bin Ihnen ja so dankbar.«

»Erlauben Sie, Frau Helga. Dankbar? Für mein rücksichtsloses Zutappen? Schelten Sie mich nur lieber aus.«

»Ach, ich weiß wohl, daß Sie mich verstehen. Sie haben mich ja immer verstanden, selbst da, wo ich mich selber noch nicht verstand. Seit fünf Jahren habe ich nicht weinen können. Als es das letzte Mal geschah, war Franz Grube gestorben, und ich – Braut. Und ich wußte nicht: weinte ich über das eine oder über das andere. Und dann haben sich alle Tränen festgesetzt und mich fast verbrannt, aber sie haben sich nicht mehr herausgewagt, weil ich ja doch keinen Trost hatte. Das wäre ja so demütigend gewesen. Heute – heute kann ich weinen.«

»Weil Sie nicht nur einen Trost, weil Sie eine Hilfe haben,« sagte er ernst.

»Ich bin nicht feige – –« sagte sie wie aus langem Nachsinnen heraus.

»Nein, Sie sind es nicht, und Sie werden es zeigen.«

»Ich bin nur so ganz wegunkundig, und wenn der erste Graben kommt, steh' ich am Rande und weiß nicht aus noch ein.«

»Dafür haben Sie ja jetzt Ihren Brückenbauer. Das lassen Sie nur seine Sorge sein. Wollen Sie?«

Da strich sie mit der Hand die Tränen fort und versuchte ein Lächeln.

»Ich will.«

Durch die Büsche schimmerte das weiße Jagdhaus, das sich einst Helga Nuntius' Vater erbaut hatte, um darin die Wiederkehr seines Lebens zu erwarten, das mit seiner Frau hinausgezogen war. Und da er nur das Warten verstand und nicht das Zugreifen und Bändigen, starb er am Warten.

»Glauben Sie mir,« sagte Richard Marschall, »wenn wir das Leben lachen hören wollen, müssen wir es uns durch unser Lachen herausfordern wie ein Echo. Unser Schicksal ist immer der Widerschein von uns selbst.«

»Ich glaube es,« entgegnete sie, und als sie in das Haus traten, in dem die Verwaltersfrau die Lichter anzündete, waren ihre Augen so hell und hoffnungsfreudig wie am Morgen, als sie ausgezogen waren, in der Größe der Natur die Kleinheit ihrer Trauer zu verlieren.

»Das nenn' ich einen glücklichen Kreislauf,« sagte Richard Marschall, und wie ein Bruder der Schwester stäubte er ihr mit ganz sanfter Hand den Schnee aus dem Haar.

Bis spät in die Nacht hinein saßen sie an dem schweren Eichentisch, an dem Helga Nuntius schon als Kind gesessen hatte, und wieder kam sie sich wie ein Kind vor, als sie dem Freunde gegenüber saß und an seinem Munde hing, der so beredt zu überzeugen verstand.

»Morgen,« so entschied Richard Marschall, »wird uns unser Wirt gegen klingende Entlohnung ein Fuhrwerk herbeischaffen, das uns schlankweg nach Kassel bringt. Das ist erfrischender als die Lokalbahnfahrt. Von Kassel telegraphiere ich an Johanna Grube, der ich nichts Schöneres von der Reise mit bringen könnte als Sie. Bei Johanna Grube werden Sie wohnen, solange Sie wollen. Die Entgeisterung Meister Bettermanns werden Sie durch das Versprechen beschwören, im Frühjahr sein neues Haus einzuweihen. Und im alten lieben Frankfurt sollen Sie Erholung finden und – neue Anregung. Das eine ist nichts ohne das andere. Für den Rest lassen wir den lieben Gott sorgen.«

»Das alte liebe Frankfurt,« sagte sie … »Ich glaube jetzt wirklich, daß das Christkindchen heute abend im Walde Weihnachtskuchen gebacken hat.«

»Und stellt sich der Appetit ein?« lachte er und stand auf, um ihr Gute Nacht zu wünschen.

»Ich wollt', ich ständ' schon unterm Weihnachtsbaum.«

»Von morgen an stehen Sie drunter. Nein, von heute an. Da – schauen Sie hinaus!«

Über dem verschneiten Wald hing der Himmel der Winternacht mit Tausenden von Sternen.

Er hörte ihren hochgehenden Atem und sah, daß der Adventszauber sie heimlich umschauerte.

Da wandte sie sich um.

»Gute Nacht, Meister Brückenbauer.«

»Gute Nacht, Lehrling.« – – –


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