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3.

Franz Grube saß in einem hohen gotischen Kirchenstuhl, den er seiner reichen Schnitzereien halber als Lehnstuhl bevorzugte, dicht an einem der runden Fenster seiner Wohnung und blickte auf die Straße hinab, über die die Dämmerung den einförmig grauen Schleier zog, und über Herrn Bettermanns niedriges Hausdach hinweg, hinter dem er die Kuppel der Paulskirche, kreuzgeschmückt, im Abendnebel noch zu erkennen vermochte. Zu seinen Füßen hockte auf einer alten Nürnberger Truhe Richard Marschall. Die zusammengelegten Hände zwischen den Knieen, träumte er in der Pause, die in der Unterhaltung entstanden war, vor sich hin …

Im Zimmer dunkelte es. Das schwere Gebälk der Decke schien sich herabzusenken auf die hohen Schränke in flämischer und altkölner Renaissance, auf die breitfüßigen Eichentische mitteldeutscher Herkunft, die gotischen Kredenzen und Stühle, die süddeutschen Truhen und Altarkästchen und die lange Reihe altersdunkler Bilder, die die Schulen der Niederländer, der Kölner, der Nürnberger und Augsburger in seltenen Werken umfaßte. Es war kein einheitlicher Stil. Aber es war eine tiefe Harmonie, jener Art, die den Beschauer mit seltsamen fernen Heimatsgefühlen erfüllt und ihm zuruft: Sitz nieder! Wer seine Füße unter diese Tische streckt, ist Gast nach altdeutschem Brauch, wie ihn vor Jahrhunderten die Väter übten, deren Wagenzüge aus den weiten Hofräumen hinausrollten, die alte Heerstraße den Rhein entlang gen Holland, oder durch Franken, über die Alpenpässe gen Bozen und Venedig. Der Grubeshof hatte seine Vergangenheit.

Daran mochte auch der letzte Besitzer, der seine Blicke in das Dämmer der Straße versenkte, denken. Er lehnte sich tiefer in den alten Kirchenstuhl zurück und seine Hände umkrampften fester die starkgeschnitzten Lehnen. Das Holz knisterte unter dem Druck. Ein paar Sekunden nur … Dann ließ der Druck nach und das Knistern erlosch. Das Schweigen war wie zuvor.

»Franz,« sagte Marschall endlich und hob den Kopf, um behutsam die Züge des Älteren zu erspähen. »Franz!« und er legte ihm leise eine Hand aufs Knie.

»Ja, ja, Richard – wovon sprachen wir gleich? – – Die Vergangenheit … Ja, siehst du, das nennt man so die Vergangenheit. Aber es gibt Menschen, deren Gegenwart aus der Vergangenheit besteht. Da liegt ein Docht, den man aus der Lampe gezogen hat, auf der Erde und schwelt weiter. Die Lampe hat einen modernen Brenner erhalten. Da taugte er nicht mehr. Er schwelt. Fünkchen lebt noch. Na, ja, es lebt noch …«

»Franz,« wiederholte Marschall.

»Weshalb ich dir die Geschichte überhaupt erzähle? Eigentlich weiß ich es selbst nicht. Vielleicht, weil du so lustig und – nimm's nicht übel – so leichtsinnig von deinen Liebesabenteuern erzähltest, vielleicht, weil ich dich gern habe und der Mensch einmal nach einem Sprachrohr verlangt. Vielleicht auch, weil Heuer der Herbst so still und rätselhaft schön ist, fast wie das junge Mädchen, das sich bei unserem Nachbar Bettermann einquartiert hat.«

»Helga Nuntius,« sagte Marschall laut, und es war, als ob in den dunklen Ecken plötzlich das Echo geflüstert würde.

Grube hatte die Augen geschlossen. Und mit geschlossenen Augen, die Hände um die hohen Lehnen gelegt, sprach er vor sich hin: »Ich bin älter als ihr, an Jahren wenigstens. Und ihr behauptet, mein Empfinden sei so jung, ja öfters jünger noch als das eure. Ich habe mich, obwohl ich Kaufmann bin, an euch angeschlossen, und ihr euch an mich. Ihr meintet, ich tät' es der Kunst wegen, die ich liebe; ich tat es des Lebens wegen.«

Und nach einer Pause: »Wenn ich, wie heute von dir, die lustigen Schwänke und Liebesgeschichten vernahm, hatte ich stets das richtige Verständnis dafür. Ich hatte es ja in früheren Tagen gemacht wie ihr, und mein Vater, der Chef der Firma, war reich. Dann verlobte ich mich. Wie man sich eben mit fünfundzwanzig Jahren verlobt. Man gefällt sich gegenseitig, Stellung und Vermögen stimmen, man küßt sich eines Tages, und die Väter bestellen die Ringe. Du weißt, daß im Frankfurt alten Schlages ein Verlöbnis so bindend wie eine Ehe erachtet wurde. Und nun, lieber Marschall, blick mal in dich. Was wissen wir in diesen Jahren vom Weib? Trotz aller unserer heiligen und unheiligen Tändeleien? Was wissen wir im Grund von der Liebe, die gar nicht weich ist, wie die Dichter singen, noch weiß ist wie Blütenschnee, oder blaue Augen hat und Vergißmeinnichtkränze? Die wie ein Sturm in uns ist und uns erstickt, das ganze bisherige Leben, jedes frühere Tun, jeden früheren Gedanken vor dem einen und einzigen: Da bist du! Da bist du! Und vor dir und nach dir wird nichts anderes sein. Meine Seele ist deine Seele, und mein Hirn dein Hirn. Wir sind zwei Teile eines Ganzen. Wenn ich durch Schmerzen müßte und über Abgründe – ich muß zu dir! Ich – muß – zu dir – –.«

»Und du konntest dennoch nicht …?«

»Doch,« sagte Grube mit harter Stimme, »ich hätte gekonnt! Ich habe ihretwegen, die mich liebte wie ich sie, mein ganzes Leben ausgelöscht und es neu begonnen. Ich habe mit meiner Verlobten gebrochen und gegen die Familienautorität angekämpft. Ich bin aus dem Hause gegangen ohne einen Pfennig und habe von draußen versucht, meine Familie umzustimmen. Herrgott, das waren Tage … Aber dann nahm sie meinen Kopf und küßte mich: Der Sturm ist da, wir haben ihn gerufen. Und dieses ›Wir‹, dieses jetzt und allezeit so selbstverständliche Zusammengehörigkeitswort ›Wir‹ – das gab den Ausschlag. Nun wußte ich, ich kann warten, denn sie ist so stark wie ich. Und sie wird warten, bis ich mir, aus eigener Kraft und von keinem unterstützt, das neue Haus gezimmert habe. Ein paar Jahre nur. Über ein paar Jahre. Ein wenig länger, als wir im ersten Jubel geglaubt hatten. Aber was verschlug das? Dagegen stand doch das Wort: Wir! Wir! Wir! Vor dem ›Wir‹ ein Schlachtfeld, hinter dem ›Wir‹ die unergründliche, die Vergangenheit löschende, die Zukunft überstrahlende Seligkeit: Wir! Das wog die Schmerzen der Wartezeit, das Achselzucken der Menschen selbst, ja ihre Verfolgung auf. Dies grenzenlose Vertrauen: ich warte, auf dich. Wir werden uns nicht enttäuschen. Glaube an mich. – Und ich habe geglaubt und zu arbeiten begonnen, um die materielle Grundlage zu schaffen, einsam, aber mit heißem Blick, und wenn die Verhältnisse nicht gleich wollten wie ich, so tröstete ich mich mit ihren Worten: Der Sturm ist da. Wir haben ihn gerufen! Das half. Verstehst du das?«

Marschall nickte stumm. Er hatte seine Hände auf die des Freundes gelegt. Der saß und hatte die Augen weit geöffnet, als ob er plötzlich erwacht sei.

»Ich hatte es auch verstanden und verstehe es noch heute. Und sie – –«

»Und sie?« fragte Marschall beklommen.

»Sie?« Grube lachte bitter auf. »Sie wurde mürbe. Das Warten legte sich wie ein Alb auf sie. Sie war Sängerin, und der Künstlerdrang prickelte in ihr. Und sie wurde müde, und das Wort ›Wir‹ wandelte sich langsam in ihrem Munde zu dem Worte ›Ich‹. Und obschon sie wußte, daß es für mich keine Umkehr mehr geben konnte – mitten auf dem Wege verließ sie mich.«

Er saß, den langen Körper gestreckt, und blickte geradeaus.

»Sie hat dich deiner Familie zurückgegeben,« sagte Marschall leise.

Da wandte sich Grube langsam um und fuhr dem Tröster so mitleidig übers Haar, als ob er ihn zu trösten Grund hätte.

»Junge – mein Junge – –. Der Familie zurückgegeben! Die Attrappe von Franz Grube. Der Inhalt war bei ihr, den nahm sie mit. Und siehst du, das ist der einzige Vorwurf, den ich ihr mache, daß sie das wußte.« Er erhob sich und suchte seine aufgeschossene, langgliedrige Gestalt gerade zu richten. »Werd' mir nicht schwermütig, Richard. Es ist ja ein Glück, daß nicht viel von mir übrig geblieben ist. Umsoweniger hab' ich an mir zu schleppen. Und nun will ich dir mal zunächst das Geld geben, das du für deine holde Franziska brauchst. Bevor die anderen kommen.

»Franz,« stieß Marschall hastig hervor, »Franz, laß das jetzt. Ich schäm' mich ordentlich mit meinen windigen Liebesaffären vor dir. Ich pump' dich um Geld an, und du gibst mir statt dessen – statt dessen – –«

»Was denn?« fragte Grube lächelnd.

»Glauben, Mut, Trotz, Liebe – was weiß ich!«

»Schau,« meinte Grube mit nachdenklichem Lächeln, »ich bin wie ein alter Anatomiegaul, an dessen Gebresten man die Heilkunde studiert. Bitte, bediene dich.« Er nickte ihm zu, ging zu einem der Schränke und holte einen Geldschein heraus, den er dem Freunde einfach in die Tasche schob. »Still, kein Wort. Das wär' doch kläglich.« Dann wandte er sich um und zündete die Flammen des schweren eisernen Kronleuchters an, der vor Jahrhunderten einem Rittersaal zur Zierde gereicht hätte.

»Franz,« bat Marschall und stand neben ihm im hellen Lichtschein. »Was ist aus ihr geworden?«

»Das Gleiche wie aus mir. Zu Grund' gegangen, vor der Zeit.«

»Weshalb?«

»Weil die Liebe, die einzig wahre, die es gibt, auch in der Erinnerung noch den Menschen erstickt.«

»Aber es gibt doch auch so viele Ehen, mit denen man sich abfindet.«

»Es gibt ja auch so wenige Menschen.«

»Und was verlangst du von ihnen?«

Da trat der müde Mann auf den nach dem Leben Verlangenden zu und legte ihm die Hände auf die Schultern.

»Was ich verlange? Wenn das Wort ›Liebe‹, wie ich es verstehe, wenn das ›Wir‹ in diesem untrennbaren Sinne ausgesprochen ist, dann: zusammen marschieren, zusammen hoffen, zusammen ertragen, um einmal, wann oder wie, zusammen das gemeinsame Glück zu ersiegen, das da kommen muß! Wer den anderen auf der Mitte des Weges stehen läßt, ist wie ein Straßenräuber, der seinen Weggenossen in der Einöde läßt, nachdem er ihn ausgeplündert hat. Sprich nicht. Nicht von schmerzlicher Entsagung oder derlei Redensarten. Denn Menschen, die so eins geworden sind, haben nicht mehr das Recht, für sich allein zu bestimmen, weder im Guten noch im Schlechten, denn es ist nur noch eine gemeinsame Seele. Und tun sie es dennoch, so begehen sie einen Totschlag an der Seele des anderen. – Da! Da hast du so eine totgeschlagene Seele vor dir. Weil man ein paar Jahre nicht warten konnte, verzichtete man auf ein ganzes Menschenleben. Mach's nicht nach, Richard. Um alles in der Welt nicht. – So, und nun leg die Noten rund um den Tisch herum. Die Sangesbrüder werden erscheinen.«

»Machen dir die Volkslieder wirklich so große Freude? Dir, dem Menschen, der eine Tagereise nicht scheut, um einen großen Gast in Wagneraufführungen zu hören?«

Franz Grube schwieg. Dann sah er den jüngeren Freund offenen Blicks an. »Spielen wir uns keine Komödie vor, Richard. Ich tu' nicht mehr lang' mit. Der Docht schwelt zu Ende, und der Docht, das ist die Vergangenheit, und die Vergangenheit ist mein Leben. Da bin ich stehen geblieben, mitten in der freudigsten Jugend. Das, was dann noch kam, war ja nur noch ein Hindämmern. Und wachte ich einmal für Augenblicke auf, so geschah es, um deutlicher horchen zu können, nach den Volksliedern, die sie mit Vorliebe sang, und nach einem starken, trutzigen Burschenlied, das ich mit Vorliebe sang. ›Weg mit den Grillen und Sorgen …‹ Deshalb halte ich Freundschaft mit euch jungen Burschen. Wegen eurer Jugend und eurer Lieder. Ich betrüge mich mit euch und eurer Kunst. Sei still, dich hab' ich lieb. Und nun ruf' mir die Johanna, damit sie das Fäßlein hereinbringen läßt. Ich höre schon Gepolter auf der Treppe wie von Sängerstiefeln: Was kostet die Welt?«

Er klopfte Marschall auf den Rücken und schob ihn durch die Tür, die zu den Küchenräumen führte. Dann horchte er auf, schritt rasch zum Fenster und drückte die Stirn gegen das kalte Glas. Das beruhigte ihn. Und als es kurz darauf mit derben Knöcheln gegen die Tür pochte, konnte er sich mit dem alten, freundlichen Gesicht den Hereinstürmenden zuwenden.

»Guten Abend, Grube, 'n Abend, edler Mäcen!«

Wie ein Schwarm Hummeln flogen die jungen Konservatoristen durcheinander, disputierten und fielen sich in die Rede, lachten und lärmten, bis ein korpulenter Phlegmatiker den Klavierbock erstiegen hatte und seelenruhig das »Gebet einer Jungfrau« begann. Da schwiegen sie augenblicklich und schauten entgeistert auf den im Spiel Versunkenen. Und einer aus dem Schwarm löste sich und trat an den Pianisten heran, zog ihm schonend die Hände von den Tasten und bat mit stockender Stimme: »Fridolin, denk an deine brave Mutter, die dich das teure Klavierspielen lernen läßt. Nicht wahr, du kannst auch noch was anderes?«

»Hören Sie, Grube, haben Sie auch was Flüssiges hier?«

»Ich habe, ich habe,« beruhigte der Hausherr lachend.

Und in den Jubel der Leichtsinnigen hinein trat Johanna Grube, groß und dunkel, mit einem mütterlich freundlichen Ernst. Hinter ihr trug Richard Marschall ein angezapftes Fäßchen.

Die Leichtsinnigen aber verbeugten sich sittsam, traten einer nach dem anderen heran und schüttelten die Hand, die ihnen Johanna Grube bot.

»Hast du noch Wünsche, Franz? Ich möchte sonst noch eine Besorgung bei Bettermanns vornehmen.«

»Geh nur, Kind. Ich werde die da nicht über eine Stunde hierbehalten. Sie sind mir schon zu ausgelassen.«

»Soll ich für einen anderen Gast sorgen?« fragte sie neckend.

»Wenn du drüben das Fräulein siehst, Fräulein Nuntius, grüße sie herzlich.«

»Wollen sehen, Franz. Adieu, Herr Marschall, Adieu, meine Herren!«

Mit einem Gemurmel des Bedauerns wurde sie zur Tür begleitet. Dann machte der Schwarm kurz kehrt und stürzte auf das Fäßchen.

Aber der Hausherr beschwor sie: »Erst ein paar Lieder. Ich mach's heut gnädig.«

»Grube, mich druckt's in der Kehl'.«

»Grube, ich bin halt so kratzig.«

»Nur eins fürs Gemüt, Franzerl.«

Da mußte der Hahn sich drehen, bis der Umtrunk stattgefunden hatte. Dann scharten sie sich um Marschall, der den Taktstock erhob. Der kleine Rausch war verflogen. In dieser Sekunde dachte jeder nur an den Gesang. Die Kunst war ihnen Gottesdienst, selbst zwischen zwei Bierhumpen.

»Franz Grubes Lebenslied!« gebot der Dirigent.

Und jauchzend schwoll es aus acht Männerkehlen wie ein Strom von unbesiegbarem Leben:

»Weg mit den Grillen und Sorgen,
Brüder, es lacht ja der Morgen
Uns in der Jugend so schön!
Laßt uns die Becher bekränzen – kränzen,
Laßt bei Gesängen und Tänzen – Tänzen
Uns durch die Pilgerwelt gehn,
Bis uns Zypressen umwehn.«

Franz Grube saß in seinem hohen gotischen Kirchenstuhl am Fenster und horchte still dem Doppelquartett. Seine lange Gestalt war zusammengesunken, seine Züge schmerzlich verträumt. Er hielt die Hand beschattend über die Augen, als wollte er das Licht des Kronleuchters abwehren. Dann aber, als die Sänger eine Pause machten, horchte er weiter. Ein feiner Ton war zu ihm gedrungen. Von jenseit der Gasse. Und behutsam, damit es die Sänger nicht störe, öffnete er einen Spalt breit das Fenster.

»Mein' Mutter mag mi net,
Und kein' Schatz han i net,
Ei, warum stirb i net,
Was tu' i do?«

Dann verstummte die Mädchenstimme. An dem erleuchteten Fenster der Bettermannschen Wohnung gewahrte der Spähende die Silhouette von Helga Nuntius. Eine andere Silhouette schob sich neben sie. Er erkannte seine Schwester Johanna. Und während er das Fenster leise wieder schloß und wieder, die Augen beschattend, im Lehnstuhl lag, dachte er über die seltsame Anziehungskraft nach, die Frauen aufeinander ausüben, wenn sie, ohne sich zu kennen, die Liebes- und Leidenskraft des Weibes in der anderen wie ein Gleiches verspüren …

Die jungen Sänger hatten längst zu pokulieren begonnen. Eine sentimentale Stimmung wallte allmählich auf und machte sich mehr und mehr in der Wahl der Volkslieder geltend. Auch ihr Kapellmeister gab dem Schwermutszug nach. Er kam von der Erzählung Franz Grubes nicht los und dachte an die Frau, die von ihrem Schicksalsweg abgewichen war, weil ihr stürmisches Wesen das Warten nicht kannte, das Warten auf das Wort des Geliebten.

»Ja, ja,« murmelte er, als die Sangesbrüder auf einem neuen sentimentalen Volkslied bestanden. »Ist schon recht.« Und er hob den Stock:

»Ich habe mein Feinsliebchen
So lange nicht gesehn,
Ich sah sie gestern abend
Wohl vor der Türe stehn.

Sie sagt', ich sollt' sie küssen,
Als ich vorbei wollt' gehn;
Die Mutter sollt's nicht wissen,
Die Mutter hat's gesehn.

Ach, Tochter, du willst freien,
Wie wird es dir ergehn;
Es wird dich bald gereuen,
Wenn du wirst andre sehn.

Wenn alle jungen Mädchen
Wohlauf zum Tanzboden gehn,
Mit ihren grünen Kränzerchen
Im Reihentanze stehn.

Dann mußt du, junges Weibchen,
Wohl bei der Wiege stehn,
Mit deinem schneeweißen Leibchen,
Der Kopf tut dir so weh.

Das Feuer kann man löschen,
Das Feuer brennt so sehr;
Die Liebe nicht vergessen
Ja nun und nimmermehr.«

Da erscholl des Hausherrn Stimme hart: »Wir wollen Schluß machen.«

Die Sänger protestierten. Wenn man so famos im Zuge sei! Aber Marschall, des Freundes bittere Stimmung verstehend, schob sie zur Tür hinaus. Ihre aufgeregte Unterhaltung schallte noch einige Minuten durch das Treppenhaus. Dann wurde es still in dem alten Patrizierbau, der verwundert hinter den merkwürdigen Gästen der Neuzeit einherlauschte …

Der Hausherr hatte das Fenster weit geöffnet, als ob er nicht genug an frischer Luft erhalten könnte. Die eingefallene Brust tat ihm weh. Ganz still saß er und blickte nach dem erleuchteten Fenster der Bettermannschen Wohnung. Die dort, die dort eingezogen war, würde auch auf ihrem Schicksalsweg einen Umweg machen müssen, das fühlte er, das hatte er gewußt, als er zum ersten Male die jungen Augen gesehen hatte, die keine Jugend kannten. Und er empfand ein starkes und heißes brüderliches Mitgefühl.

Am Klavier saß Marschall. Er spielte eine eigene Komposition. Die war wie zarte schlanke Mutterhände, die die zerfurchte Stirn und das verbrannte Herz des Kindes suchen, neue Kräfte hineinzusenken. Und die zarten, schlanken Mutterhände wurden ihrer Arbeit nicht müde und streichelten und streichelten, bis der Mann am Fenster ganz von sich abließ und von der Zukunft des fremden Mädchens und in sich hineinzulächeln begann und mit schwerer Zunge vor sich hin sprach: »Helga Nuntius …«

War ihm ein Zauberwort über die Lippen getreten? Die Tür tat sich auf, und auf der Schwelle stand, zögernd und mit verwunderten Augen, die Gerufene. Über ihre Schulter schauten die lachenden Züge Johanna Grubes ins Zimmer. Sie hatte den Arm um die Taille der Fremden gelegt und freute sich der gelungenen Überraschung.

»Hab' ich es recht gemacht?«

Franz Grube war es, als löste sich eines seiner köstlichsten Bilder aus dem Rahmen und träte auf ihn zu. Seine Augen belebten sich, seine Muskeln erhielten Spannung. Mit tiefem Behagen zog er den Atem ein … Dann erhob er sich hastig und war mit wenigen Schritten an der Tür.

»Willkommen im Grubeshof, Fräulein Nuntius. Entschuldigen Sie meine Versunkenheit. Steifleinene Gesellen wie ich träumen nächstens noch bei hellem Tage. Aber daß Sie gekommen sind, das ist eine Freude, das ist eine Wirklichkeitsfreude.«

Und er schüttelte ihr die Hand und hielt sie noch in der seinen, als die Begrüßung längst zu Ende war.

»Ihr Fräulein Schwester,« sagte Helga und blickte das große Mädchen herzlich an, »ist so sehr Güte, daß man nur noch Wärme verspürt. Sie hat mich ganz einfach in meinem Zimmer aufgesucht, und nach einer Viertelstunde gab ich mich in ihre Hände. Und sofort hat sie mich verpflanzt.«

»Wenn's nicht meine Schwester wär', Fräulein Nuntius, müßte sie einen Kuß von mir haben.«

»Den habe ich sowohl erwartet als verdient,« rief Johanna Grube. »Da sehen Sie nun die brüderliche Galanterie.«

»Fräulein Johanna,« ertönte da Marschalls Stimme aus der Klavierecke, »wenn Sie vielleicht mit mir fürlieb nehmen wollen –?«

Johanna Grube wandte langsam den Kopf nach ihm um. Ihre Stirn hatte sich gerötet, und es lief ein kaum merkliches Zittern um ihren Mund. Wie eine Freude, die sich nicht zu Tage wagt, weil sie sich vor dem Licht fürchtet.

»Richard, ich kenne Ihren Studieneifer. Aber nehmen wir den guten Willen für die Tat.«

Da verbeugte er sich und begrüßte alsbald mit kameradschaftlichem Handschlag den Gast.

Dann saßen sie alle um einen der großen Eichentische, auf den der Hausherr selbst die zierlichen venezianischen Kelche und eine Karaffe mit rubinrotem Valpolicello aufgebaut hatte, und plauderten wie Glieder derselben Familie, die sich allabendlich zusammenfinden.

»Das ist hier ein Raum,« meinte Helga und ließ die Blicke von den Menschen zu den Bildern und von den Bildern zu den seltenen Schränken und Truhen verflossener Jahrhunderte wandern, »zu dem man sofort Zutrauen gewinnt, wie zu alten Familienchroniken. Man möchte sich nur immer dehnen und in sich hineinlachen.«

»Tun Sie es doch,« bat der Hausherr.

»Ich tu' es ja auch. Wissen Sie, daß ich Sie beneide? Das ist hier wie eine Burg. Man zieht die Falltüren auf, und das Außenleben ist abgesperrt.«

»Und was bleibt?«

»Das Innenleben. So ganz heimlich gibt man sich selbst Audienz und sendet die Gedanken aus und empfängt sie in neuer feierlicher Audienz.«

»Sie haben als Kind nie mit Altersgenossen gespielt?«

»Doch – einigemal – –. Eine Viertelstunde von dem Jagdhaus, das wir im Kaufunger Wald bewohnten, lag die Oberförsterei. Die Jungens kamen zuweilen herübergerannt und holten mich auf die Waldwiese. Sie lasen Indianergeschichten und übersetzten sie in die Wirklichkeit. Dazu brauchten sie mich als Squaw. Dann hatte ich auf der Waldwiese zu sitzen, mit aufgelöstem Haar, bis einer der wilden Buben hervorsprang, mich beim flatternden Haar faßte und als Beute durch das Gras schleifte. Dabei durfte ich nicht mucksen. Das wäre die Art verweichlichter Bleichgesichter und nicht indianermäßig, betonten die Buben mit finsteren Grimassen, und ich wurde vor so viel heldischem Wesen ganz kleinlaut. Nachher mußte ich Schuhe und Strümpfe ausziehen und mit nackten Füßen Maiskolben zerstampfen, die sie aus den Feldern stibitzten. Sie nannten das: eine indianische Maismühle. Zum Schluß prügelten sie mich durch und rannten nach Hause. Später lasen sie lateinische und deutsche Klassiker. Da konnten sie mich nicht mehr gebrauchen. Und da hatte ich zuweilen ordentlich Sehnsucht danach, Squaw zu spielen, trotz des Haarreißens, der blutenden Füße und der Prügel.«

»Und auf andere Jugenderlebnisse entsinnen Sie sich nicht?«

»Ich entsinne mich auf meinen Vater. Er war nicht lustig und spielerisch, aber er hatte mich lieb und war meine Jugend.«

Franz Grube hob das Glas. »Sein Wohl!« sagte er nur.

»Er ist tot,« antwortete das Mädchen.

»Sein Gedächtnis!«

Da stieß sie mit ihm an, und der aufleuchtende Blick, mit dem sie ihm dankte, küßte ihn wie einen Bruder.

»Ihre Frau Mutter,« fuhr er fort, »habe ich früher oft bewundert. Zuletzt in Baireuth, als Isolde. Ich habe ähnliches nie gehört.«

»Ja,« sagte das Mädchen, »sie ist eine große Künstlerin,« und sie dachte an ihren toten Vater, den man einst auf zwei Flinten heimgetragen hatte, weil er die Einsamkeit nicht mehr ertragen konnte.

Dann hörte sie, wie Marschall von seinem alten, steifnackigen Vater erzählte, der, früher ein flotter Marburger Korpsstudent, sich in seiner Dorfpfarre im Taunus der Orthodoxie ergeben hätte und der profanen Musik abhold wäre wie höllischem Blendwerk. Als der Sohn nach sechs Münchener Semestern von der Anatomielehre zur Kompositionslehre überschwenkte, war die Absage erfolgt. Aber der Sohn lachte so fröhlich über den ungestümen Zorn seines alten Herrn, daß ihm eine alte Schlägernarbe auf der Stirn rosig erglühte. »Ich krieg' ihn ja doch. Laßt nur erst meine Oper draußen sein. Auch der orthodoxe Pfarrer hält was von klingenden Kompetenzen.«

Später setzte er sich ans Klavier und spielte Bruchstücke aus seiner Oper. Und als aus den Tasten die Klänge wie Funken sprühten, horchte Helga Nuntius auf und durchforschte verwirrt das kühne Raubvogelgesicht des Komponisten, und als die Töne miteinander zu ringen begannen wie Menschen der Verzweiflung um ihr Glück, da erhob sie sich merkwürdig strack und steif, und als unter seinen Händen ein alles verstehendes, alles vergebendes Mitleiden hervorquoll, stand sie dicht neben ihm am Klavier …

Es war spät geworden, als Helga Nuntius sich vor Herrn Bettermanns Haus von Marschall verabschiedete.

»Nur der Hausherr,« sagte sie aus plötzlichem Sinnen heraus, »hat nichts aus seinem Leben erzählt. Woran leidet er?«

»Er hat einmal geglaubt,« antwortete Marschall ernst, »die Liebe verlangte von ihm ein Leben, und sie verlangte von ihm nur hastige Tage. Aber er hatte schon sein ganzes Kapital hineingesteckt, und so war er bankrott.«

Da ging sie grübelnd in ihr Mädchenstübchen, und aus dem Fenster des luftigen Bettermannschen Vogelnestes schaute sie lange hinüber nach dem alten schwergefügten Patrizierhaus …


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