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Der Jagdaufseher hatte am frühen Morgen einen Schlitten aus der kleinen Remise gezogen und ihn beim Schein einer Stalllaterne einer letzten Besichtigung unterzogen.
»Ich hatt' mir gedacht,« meinte er zu Richard Marschall, der neben ihm auf dem hartgefrorenen Schnee stand, »die Herrschaften würden ihn vielleicht lieber benutzen als die holprigen Bauernwagen. Da hab' ich ihn schon in der Frühe zurechtgeputzt.«
»Sie sind eine Seele von einem Menschen,« sagte Marschall und ging fröhlich pfeifend um das Gefährt herum. »Sehr schön, sehr schön! Nur die Bespannung! Ihre Ziegenböcke dürften nicht ausreichen, und wenn wir keinen Gaul beschaffen können, müssen wir schon das schöne Spiel spielen: Wer zweimal drückt, darf einmal fahren.«
Der Mann lachte. Dann überlegte er.
»Ich werd' zum Oberförster laufen. Als Nachbar hilft man sich schon aus. In einer guten Stunde könnt' ich zurück sein. Es wird eine feine Schlittenfahrt werden, Herr, so stramm hat der Winter hier lang' nicht eingesetzt.«
Unterm Giebel klirrte ein Fenster. Mit geröteten Wangen beugte sich Frau Helga vor.
»Guten Morgen!« rief sie zum Hof hinab. »Ich bin schon seit einer Stunde auf.«
»Kommen Sie herunter! Ich fahr' Sie Probe.«
Sie verschwand vom Fenster und stand nach einer Minute neben den Männern.
»So früh bin ich seit Jahr und Tag nicht aufgestanden. Und geschlafen hab' ich in der blauen Giebelstube! Den richtigen Kinderschlaf. Was für einen langen Tag hab' ich nun gewonnen.«
Richard Marschall betrachtete sie mit unverhohlenem Wohlgefallen.
»Ordentlich rote Backen haben Sie bekommen. Daß mir die nicht wieder vertauscht werden.«
»Keine Angst. Ich gefall' mir ganz gut darin.«
Er nahm ihren Arm und promenierte mit ihr über den Hof, in dem der Dämmer des Wintermorgens mit dem roten Schein der dampfenden Stalllaterne stritt. »Hören Sie, Frau Helga, ich habe schon meine Depesche für Johanna Grube geschrieben. Der Hausverwalter leiht uns gern seinen Jungen her, um sich ein paar Groschen mehr zu verdienen. Der kann durch den Wald springen, zur nächstgelegenen Poststelle, die einen Telegraphendraht oder eine telephonische Verbindung mit der nächsten Telegraphenstation hat. Schreiben Sie eine Zeile für Ihren Kasseler Notar auf, damit er Ihre Adresse hat. Wir wollen nichts verabsäumen, was Zeit einbringen kann.«
»Sie denken an alles,« sagte sie herzlich. »Wann werde ich mich an das selbsttätige Denken gewöhnen, wenn Sie mich selbst in den kleinsten Dingen so mit Ihrer Sorge umgeben.«
»Es wird noch genug für Sie übrig bleiben, Frau Helga. Aber wissen sollen Sie immer, daß ich da bin.«
»Das weiß ich,« erwiderte sie einfach, und sie gingen ins Haus, und nach einer halben Stunde trabte der Junge durch den Wald. Während der Verwalter zur Oberförsterei schritt, um sich ein Pferd auszuleihen, führte Helga den Freund durch das ganze Haus. Bereitwillig hatte ihnen die Verwaltersfrau nach dem Frühstück alle Räume geöffnet, und nun ließ sich Marschall die Zimmer weisen, in denen die Freundin als Kind gespielt und geträumt hatte, in denen sie aufs Vaters Schoß gesessen und mit ihm gemeinsam durch die Fenster gelugt hatte, wenn der Wintersturm um das Haus pfiff oder das erste Frühlingsbrausen vom Walde sich nahte – ob Mutter nicht käme. Er sah sie vor sich als ganz kleines, über ihre Jahre ernstes Persönchen, wie sie in der Ecke neben dem Klavier hockte und darüber nachgrübelte, daß es doch etwas Großes, über die Maßen Heiliges sein müsse um die Kunst ihrer Mutter, da sie stärker sei als Vaters traurige Augen und ihre eigenen Kindertränen. Und er versetzte sich in das einsame kleine Kindergehirn, das ohne Austausch und Belehrung seine Phantasien spann, die immer die Mutter umkreisten und ihr Tun in magischem Licht erscheinen ließen. Bis es nicht mehr davon abkonnte und in der Kunst die gewaltigste Gottheit sah, gegen die es keinen Widerspruch gab.
Nur wenige Worte wurden bei der Wanderung durch die Räume gewechselt.
»Hier unterrichtete mich der Vater,« sagte Frau Helga, »dort war sein Arbeitszimmer, dort – lag er aufgebahrt, als er mit seinem Tode die Mutter zu mir rief, die er mit seinem Leben nicht hatte fesseln können. Und in diesem Zimmer nahm meine Mutter die Gesangsstudien mit mir auf, bis die Musik sie selber wieder packte. Da flatterten wir beide auf. Aber mir hatte wohl das Leben in diesen Räumen zu wenig gegeben, daß ich wie ein Gläubiger zu seinem Schuldner zurückgekommen bin.«
»Wir wollen ins Freie gehen, Frau Helga.«
»Ja,« sagte sie. »Und haben Sie keine Befürchtungen mehr. Ich nehme heute auch von dieser Vergangenheit Abschied.«
Er schritt voraus. Und als er sich an der Tür wandte, um sie zu erwarten, sah er, daß sie im Arbeitszimmer ihres Vaters die Lehne des Sessels mit ihren Lippen berührte. Ohne sich noch einmal umzuschauen, ging sie durch die Räume und neben dem Freunde her die Treppen hinab auf den Hof, wo der Verwalter bemüht war, den Gaul des Oberförsters als Schlittenpferd einzuschirren.
»Schon reisefertig?« meinte der Mann. »Gleich kann's losgehen. Mutter hat schon heiße Ziegelsteine in Decken gewickelt und im Schlitten verpackt. Sie sollen doch nicht frieren, wenn Sie das Haus verlassen.«
»Frieren ist ausgeschlossen,« bestimmte Richard Marschall. »Was sagen Sie, Frau Helga?«
Und sie antwortete tapfer: »Frieren ist ausgeschlossen.«
Dann klangen die Schellen, die Peitsche knallte, die Frau kam herbeigelaufen, nahm Abschied und bedankte sich für das reiche Entgelt, und noch einmal umfaßte Helgas Blick das einsame weiße Haus, aus dem sie zum zweiten Male ihren Ausflug nahm, hinaus ins Ungewisse. Da spürte sie den Druck von Marschalls Hand. Und nun wußte sie: diese Fahrt würde nicht ins Ungewisse gehen. Und alle Schwermut des Abschieds wandelte sich in frohe Lebenserwartung.
Der Gaul lief einen guten Trab. An den Bäumen sang der gefrorene Schnee mit einem zirpenden Laut, und in der Luft sang der Frost. Aber das war den Schlitteninsassen gerade recht. Richard Marschall wollte nicht dahinten bleiben, schob den Hut in den Nacken und stimmte ebenfalls einen Sang an. Und Frau Helgas Augen glänzten. Ganz warm kuschelte sie sich unter die Schlittendecke.
Als der Schlitten nach langer Fahrt aus dem Wald auftauchte und die Chaussee gewonnen hatte, deren knorrige Baumreihen dicht mit stumpfsinnig philosophierenden Krähen besetzt waren, ließ Marschall am nächsten Wirtshaus halten und bestellte einen Seelenwärmer. Helga schüttelte sich, als sie auf sein Geheiß das kleine Gläschen auf einen Zug ausgetrunken hatte, und sah entsetzt den Gefährten an.
»Das war Schnaps,« sagte der und trank einen zweiten. »Ja, Sie lernen was.«
»Es war der erste Schnaps meines Lebens,« und sie schüttelte sich noch einmal.
»Und ich hoffe, daß es nicht mein letzter war,« gestand er.
Dann ging es weiter, mit Schellengeläut und Peitschengeknall, aber die Lieder ließ Marschall unterwegs, denn nun kreuzte man Dorf auf Dorf, und auf dem näherrückenden Habichtswald hob sich das Wahrzeichen Kassels, der Herkules, und grüßte hinüber nach den verschwimmenden Ketten des Reinhardswaldes. Und bald schoben sich die ersten Häuser des vorgelagerten Bettenhausen bis ins beschneite Feld hinein.
»Kassel,« sagte ihr Fuhrherr und wies mit der Peitsche nach den roten Ziegeldächern. Und Marschall nickte: »Kassel,« und Helga sprach es nach.
Sie wollten zu Fuß in die Stadt hinein, und es gab ein herzlich Abschiednehmen von dem biederen hessischen Gastfreund, der noch immer schmunzelnd in der Tasche klimperte, als seine beiden Gäste längst in der Straße verschwunden waren. Das Gepäck sollte er mit Marschalls Visitenkarte beim Bahnhofsportier niederlegen.
Mit dem Vieruhrzug fuhren Richard Marschall und Frau Helga nach Frankfurt. Sie saßen allein im Coupé, und er las ihr aus einem Bändchen, das er in der Bahnhofsbuchhandlung erstanden hatte, eine lange, spannende Kriminalgeschichte vor. Jedesmal, wenn der Zug in eine der wenigen Haltestationen einlief, hatte der gewiegte Detektiv den Verbrecher beinahe erwischt, und sie konnten kaum erwarten, bis der Zug und die Geschichte weiterging. Kurz vor Frankfurt war der große internationale Gauner ins Netz gegangen. »Er hätte es schon in Marburg oder Gießen gekonnt,« sagte Richard Marschall und klappte das Buch zu. »Aber der Autor wurde gewiß zeilenweise bezahlt, daher sein unerklärliches Mitleid mit dem Burschen.«
»Schimpfen Sie nicht, es war doch schön.«
»Ja, es hat uns nach Frankfurt gebracht. Gerade fahren wir ein. Seien Sie willkommen, Frau Helga.«
Er hob sie aus dem Wagen, rief einen Träger für das Handgepäck herbei und nahm eine Droschke, die sie zur Bleidenstraße brachte. In die Eisblumen des Coupéfensters hatte Helga eine Lücke gehaucht. Das dunkle Köpfchen gegen die Scheibe gelehnt, begrüßte sie die Stadt, in der sie einmal glücklich gewesen war. Soweit sie vom Glück gewußt hatte.
»Es regt Sie doch nicht auf?« fragte Marschall aus seiner Ecke heraus.
Und sie verstand den Ton der Besorgnis, und er tat ihr wohl. Ohne den Kopf von dem Fensterchen zu lassen, tastete sie nach seiner Hand und hielt sie fest, bis der Wagen den Grubeshof erreicht hatte.
Da stand schon die alte Aufwartefrau und nahm ihr Gepäck in Empfang. Und oben, in der weitgeöffneten Wohnungstür stand Johanna Grube mit geröteten Augen. Aber ehe Helga sich darüber klar werden konnte, fühlte sie sich ins Zimmer gezogen, und zwei weiche Arme lagen fest um ihren Nacken und zwei weiche Lippen fest auf ihrem Mund.
Dann rief das große starke Mädchen über den braunen Kopf des Gastes hinweg, der so geborgen an ihrer Brust liegen blieb: »Was, Richard? Wir wollen sie schon fröhlich machen!« Und Richard Marschall nahm Johanna Grubes Hand und klopfte daran herum und küßte sie und klopfte aufs neue daran herum. Der gewaltige Kronleuchter, der aus einer Ritterburg zu stammen schien, ließ das alte Patriziergemach aufleuchten wie in Mittagssonne, im Kamin knatterten und ratterten die Feuergeister, blendend weiß war die Tafel gedeckt, Blumen lagen auf dem Tisch verstreut, und vor Helgas Gedeck, das von einem grünen Kränzchen umgeben war, prangte und duftete ein Rosenstrauß.
»Ich habe nie ein herzlicheres Willkommen ausgesprochen,« sagte Johanna Grube. »Kommen Sie in mein Zimmer, und dann wollen wir uns gleich zu Tisch setzen. Erklärungen brauche ich nicht. Aber wir wollen viel, viel und gemütlich miteinander plaudern.«
Sie kam allein aus ihrer Kammer heraus, und nun lächelte sie Marschall an.
»Das haben Sie gut gemacht, sie zu mir zu bringen. Das ist gläubige Freundschaft.«
»Johanna,« sagte er, »Sie beschämen mich. Ich komme, Sie um etwas zu bitten, und Sie – danken mir.«
»Ja,« meinte sie sinnend, »ist das nicht das Schöne? Muß es nicht so sein zwischen Menschen, die sich nahe getreten sind? Wenn der eine bitten will, weiß der andere, daß er ihm wert ist, und so werden Bitte und Dank eins.«
»Werden Sie sie gern – und lange – bei sich behalten?«
»Bis sie mir eines Tages abgefordert wird.«
»Er wird sie nicht abfordern,« sagte er und dachte an Braun. »Der Scheidungsantrag kann gestern schon eingereicht worden sein.«
»Oder bis sie ein anderer abfordert, Richard. Ich will sie ihm schon behüten.«
»Johanna,« erwiderte er hastig, »nicht ein Wort von mir! Ich komme gar nicht in Betracht. Ich habe lediglich aus denselben Beweggründen zu handeln wie Sie. Nur aus freundschaftlichen Erinnerungen heraus. Und das will ich durchführen.« Er machte eine Pause, und blickte zu Boden. Dann hob er frei den Kopf. »Johanna, sie denkt selbst nicht anders darüber. Sonst – wäre sie nicht mitgekommen. Also erschrecken wir sie nicht, geben wir ihr mit vollen Händen den Frieden. Ich werde mich schon bescheiden müssen.«
»Wie lange, Sie liebe Unvernunft?«
»Wie lange?« wiederholte er ernst. »Das kann ein Menschenleben währen. Mir steht kein Wort darin zu.«
Sie fuhr ihm mit einer mütterlichen Bewegung über das Haar.
»Helga kommt,« sagte sie dann. »Seien Sie fröhlich!«
Das brauchte sie ihm wahrlich nicht auf die Seele zu binden. Strahlend wie ein siegreicher Admiral saß er, der alle seine Schiffe sicher in den Hafen gebracht, und er hob den Pokal und ließ Frankfurt leben und der geliebten Mainstadt gastlichstes Haus, den Grubeshof, und alle seine Bewohner von heute, gestern und morgen.
»Und Bettermanns?« fragte Helga über die Tafel Johanna Grube.
»Sie haben einen Unterschlupf gefunden, dicht nebenan. Die Nachbarn mochten sie alle gern, und da räumte man ihnen eine kleine Parterrewohnung ein, bis das Haus aufgebaut ist. Meister Bettermann hat sich um zehn Jahre verjüngt. Wenn er seine Kunden besucht hat – denn er hat vorläufig keinen offenen Laden – spielt er Baumeister. In der einen Woche hat er das alte Gemäuer bis auf den Grund niederlegen lassen.«
»Na, viel niederzulegen war da wohl nicht,« meinte Marschall und trank auf das Wohl des Hauses Bettermann.
»Er baut mit einer streng gotischen Front,« berichtete Johanna Grube weiter. »Er sagt, er müsse reinen Stil zeigen. Das sei er seinen Freunden von der Kunst schuldig.«
»Wenn er dadurch nur Ihnen nicht umsomehr schuldig bleibt.«
»Aber Richard,« lachte Johanna, und es war heiteres Leben in dem alten Patrizierhaus.
Es schlug elf Uhr. Da erhob sich Marschall erschreckt.
»Wo bleibt die Zeit? Und Sie lassen sich meine lästige Anwesenheit seelenruhig gefallen, obwohl Sie todmüde sind. Ja, ja: der Mann sollte sich nichts anschaffen als Freundinnen. Wie das verwöhnt!«
Er gab Johanna Grube kräftig die Hand.
»Jetzt will ich möglichst ohne Umweg ins Hotel. Morgen mittag reise ich weiter. Da darf ich wohl am Morgen noch einmal einschauen.«
»Sie – reisen – –?« fragte Helga, als er ihre Hand nahm.
»Es ist nicht weit. In zweieinhalb Stunden kann ich am Platze sein. Übrigens: wir haben ja morgen noch den ganzen Vormittag. Nun sollen Sie schlafen. Gute Nacht, Frau Helga! Unter dem Dach des Grubeshofs ist gut sein.«
»Gute Nacht, Herr Marschall …« aber sie hielt seine Hand fest.
»Lehrling,« sagte er da lächelnd und mit Betonung. Aber sie schüttelte erregt den Kopf.
»Ich find' ja das Wort des Dankes nicht,« stieß sie hervor. »Ich bin ja nur immer mitgelaufen, als müßt' es so sein.«
»Mußt' es auch,« entgegnete Marschall und führte ihre Hände an seine Lippen. »Jetzt haben Sie Johanna.«
»Helfen Sie mir doch, daß ich ihm danke,« bat sie und sah mit feuchten Augen zu Johanna auf. »Er hat ja eine Art, Guttaten zu erweisen, daß man sogar den Dank vergißt.«
Aber Richard Marschall war schon draußen. Und nun zog er, den Kragen hochgeklappt, die Hände in den Taschen seines Mantels vergraben, pfeifend die Bleidenstraße entlang und entschied sich an der Hauptwache, auf das Wohl seiner beiden Freundinnen im gegenüberliegenden Café doch noch einen Punsch zu trinken.
»Lassen Sie ihm doch die Freude,« sagte droben Johanna Grube, »wir machen's schon wieder wett. Und nun sollen Sie mir in Ihrem Zimmerchen sagen, ob Sie sehr müde sind.«
»Ich könnte die ganze Nacht mit Ihnen plaudern, und ich möchte es auch.«
»Also setzen Sie sich auf den Fensterplatz. Erinnern Sie sich, daß Sie in diesem Stübchen schon einmal waren und auf diesem Platze saßen? Es war an dem Abend, an dem Sie zum ersten Male öffentlich gesungen hatten.«
»Und Franz Grube hatte Geburtstag,« vollendete sie und ließ den Blick wie streichelnd über die Mahagonimöbel und die Familienbilder in den ovalen Rahmen gleiten. Ja, sie erinnerte sich und hatte es nie vergessen: Hier hatte ihr der treue Mann, der kein Betrüger werden wollte, Worte der Liebe gesagt, und sie hatte sich, die Augen voll Tränen, auf den Zehen erhoben und ihn auf den Mund geküßt.
»Es ist ein Brief für Sie eingetroffen und auch eine Depesche, Frau Helga. Wollen Sie sie lesen?« Die Stimme Johannas sollte gleichmütig klingen, aber ein leises Vibrieren war doch darin. Und Helga hörte es heraus, und nun war ihr, als sei die Reihe des Beschwichtigens an sie gekommen, und sie sagte und schaute Johanna voll an: »Liebes Fräulein Johanna, ich bin nicht leichtfertig fortgegangen. Ich bin erst gegangen, als die Vergangenheit ganz tot für mich war. Daher kann sie mich auch nicht mehr schrecken. Geben Sie mir ruhig alles, was für mich einläuft. Sie brauchen nie, nie in Unruhe um mich zu sein.«
Da gab sie ihr das Schreiben und die Depesche.
»Ich bleibe im Nebenzimmer. Wenn Sie noch mit mir plaudern wollen, brauchen Sie nur zu rufen.«
Helga entfaltete ruhig die Depesche. Sie war von ihrem Kasseler Anwalt und lautete lakonisch: »Von Hamburg wegen Scheidungsantrag verständigt worden. Erbitte Nachricht oder Bevollmächtigung.« Dann nahm sie das Schreiben und sah an der Aufschrift, daß es von Robert Braun war. Ohne zu zögern, aber auch ohne Hast öffnete sie den Umschlag und las langsam den dichtbeschriebenen Bogen durch.
»Liebe Helga! Obschon Du mir nur die Adresse Deines Kasseler Sachwalters zurückließest, richte ich diesen Brief nach Frankfurt am Main an die Adresse des Grubeshofes, zumal auf eine telegraphische Anfrage Dein Rechtsanwalt antwortete, daß ihm Dein Aufenthalt unbekannt sei. Ich bin überzeugt, daß Dich der Brief antreffen wird, denn ich kenne ja Deine Neigungen für Frankfurt. Du darfst ruhig weiterlesen, ohne die Befürchtung, ich gedächte aufdringlich zu werden oder einen Schritt ungeschehen zu machen, der getan ist.
»Was mich zwingt, Dir persönlich zu schreiben, statt unsere Angelegenheiten gänzlich durch unsere Anwälte ordnen zu lassen, ist zunächst der Wunsch, den wohl jeder anständige Mensch hegt, der Frau, mit der man eine Reihe von Jahren Seite an Seite gelebt und der man nichts vorzuwerfen hat, als daß sie diesem Leben doch nicht gewachsen war, ein persönliches Lebewohl zu sagen. Das tu' ich hiermit. Lebe wohl und versuche, ob es für Menschen unserer Gattung ein Glück außerhalb der Kunst zu geben vermag. Du hast die Trennung eigenmächtig herbeigeführt. Du wirst Dir vorher überlegt haben, daß Du auch die Konsequenzen allein zu tragen haben wirst. Was mich betrifft, so wünsche ich Dir gern, daß Du von unvorhergesehenen üblen Folgen verschont bleiben mögest. Mehr kann ich nicht.
»Du hast an mich das Verlangen gestellt, die Trennung in eine Scheidung umwandeln zu lassen. Die Art Deiner plötzlichen Abreise legt mir den Gedanken nahe, daß Dir die rascheste Erledigung die liebste Erledigung sein würde. Leider – in diesem Falle leider – haben wir die Gesetzesparagraphen zu berücksichtigen. Doch hoffe ich, dadurch eine Beschleunigung zu erzielen, daß ich unsere Angelegenheit dem Richter persönlich vortrage und ihn auf die außergewöhnliche Schwierigkeit der Lage hinweise, die durch meine Gastspielreisen durch Amerika und den europäischen Kontinent geschaffen ist. Aber drei Vierteljahre dürften bis zum Scheidungsspruch immerhin vergehen, wenn nicht mehr, und ich bitte um Verzeihung, daß mir, um dies zu erreichen, nichts übrig bleibt, als ›böswilliges Verlassen‹ als Begründung anzugeben. Habe die Güte, Deinem Anwalt von Deiner kategorischen Weigerung, zu mir zurückzukehren, Kenntnis zur weiteren Verwendung zu geben.
»Ich muß, soweit ich Dich kenne, annehmen, daß Dir meine geschäftsmännische Art, mit der ich alle Dinge zu betrachten liebe, heute zum ersten Male nicht mißfällt. Denn sie führt uns über alle kleinlichen Auseinandersetzungen hinweg. Rechnen wir also nur noch mit den Tatsachen, und lassen wir alle Sentimentalitäten beiseite, mit denen wir uns im besten Falle auf die Dauer der Brieflektüre belügen würden. Ebensowenig gedenke ich – ganz in Deinem Sinne – nachträglich ein Zusammenleben in den Staub zu ziehen, in dem ich mich Jahre hindurch wohl befunden habe. Aber da Du es warst, die die Aufhebung der Ehegemeinschaft herbeiführte, so bedaure ich, nunmehr auch für mich jede Freiheit des Handelns in Anspruch nehmen zu müssen, die mir geeignet erscheint, meine Kunst und meine Laufbahn vor den Rückschlägen zu bewahren. In diesem Sinne werde ich von heute an alle meine Gastspiele auffassen, und ich darf Dich wohl bitten, als Äquivalent meines Entgegenkommens und in Würdigung meiner künstlerischen Pläne auf die Führung meines Namens hinfort zu verzichten.
»Es ist wohl selbstverständlich, daß eine Abrechnung über unser gemeinsam errungenes Vermögen herbeigeführt wird. Sie wird in Berücksichtigung unserer jeweiligen beiderseitigen Engagementsbedingungen erfolgen, so daß Dir etwa ein Drittel, mir etwa zwei Drittel zufallen dürften. Eine Verzichtleistung Deinerseits kann ich nicht anerkennen. Ich nehme keine Geschenke.
»Den Namen meines Rechtsanwaltes habe ich Deinem Kasseler Sachwalter zugehen lassen. Die persönliche Korrespondenz zwischen uns schließe ich hiermit. Ob Du von dem Lied an die Kunst die Brücke findest zu dem Lebenslied, das Dir begehrenswerter erscheint, kann ich von meinem Standpunkt aus nicht glauben. Aber wünschen will ich es Dir gern. Das soll mein letztes Lebewohl sein.
Robert Braun.«
Den Kopf zurückgelehnt saß Helga lange und dachte über jede Zeile des Briefes nach. Und plötzlich war es ihr, als ob sie beten müsse. Als ob eine Gefahr an ihr vorübergegangen sei. Und die Hände zusammengelegt, dachte sie: »Herrgott, Herrgott, ich danke dir, daß du mich vor der furchtbarsten Enttäuschung bewahrt hast. Daß Robert Braun wohl Robert Braun, aber nicht kleiner als seine Art war. Nun brauche ich mich der vergangenen Ehe nicht zu schämen. Herrgott, dafür dank' ich dir.«
Sie erhob sich und suchte Johanna Grube auf. Und dann saßen sie zusammen und vergaßen die Stunden.
»Habe ich nicht Wort gehalten, Fräulein Johanna? Sind Sie zufrieden mit mir?«
»Sie sind ein merkwürdiges Geschöpfchen, Frau Helga. Daß solche Briefe geeignet sind, einem die Gemütsruhe wiederzugeben, hätte ich mir nicht denken können. Sie müssen mit besonderen Augen lesen.«
»Ich meine, das sei meine Pflicht; gegen mich und – ihn.«
»Sprechen Sie weiter, Frau Helga.«
»Weshalb ich das meine? Weil außergewöhnliche Verhältnisse doch auch außergewöhnliche Deutungen verlangen dürfen. Das ist mir in den letzten Tagen so klar geworden, und am klarsten heute. Daran ist dieser Brief schuld. Er enthält nicht ein einziges herzliches Wort. Aber er enthält auch keinen Vorwurf, keinen Schimpf. Man muß sich doch jeden Menschen in seiner Eigenart vorstellen und nur danach seine Größe oder Kleinheit beurteilen. Ein Mensch, der jedes Innenleben belächelt, kann doch in seinem Tun nicht nach inneren, sondern nur nach äußerlichen Handlungen bemessen werden. Und daß er mich hierin enttäuscht hat, ja beschämt hat, das ist meine Freude.«
»Sie freuen sich, daß Sie sich beschämt fühlen?«
»Ja, Fräulein Johanna! Denn das kann ich doch wieder gut machen, indem ich mit versöhnenden Gedanken an eine Zeit denke, die für mich selbst so gar keinen Inhalt hatte. Jetzt weiß ich doch, seine Art war nicht die meine, aber sie war, mit seinen Augen betrachtet, keine unwürdige. Deshalb meine Freude.«
Johanna Grube nahm sie fest in ihre Arme.
»Fräulein Johanna –«
»Sprechen Sie, liebe kleine Frau.«
»Ich lege seinen Namen nieder. Von heute ab heiße ich wieder Helga Nuntius, wenn auch – Frau Helga Nuntius. Das ist bis jetzt der Erlös meiner Mädchenträume …«
Die Uhren tickten durch die Stuben, und die Zeiger schoben sich weiter und weiter. Jetzt setzte die große Kastenuhr im Speisezimmer mit kurzem Gerassel zum Schlag an. Dröhnend wie Kirchenglocken tönten die Schläge. Aber Helga Nuntius rührte sich nicht. Als fühlte sie die Müdigkeit von Jahren in dieser Stunde geborgen.
Unbeweglich hatte Johanna Grube gesessen. Ihr Sinnen war bei Richard Marschall. Sie hatte eine Rechnung zum Abschluß zu bringen, und sie brachte sie zum Abschluß. »Liebe?« zitterte es ihr noch einmal durch die Seele. Die Faktoren stimmten nicht, da ging das Exempel nicht auf. Und mit einem tiefen Aufatmen sagte sie: »mütterliche Liebe.«
Da war ihr, als fühle sie die Hand ihres Bruders Franz auf ihrem Scheitel …
Und sie lächelte: »Du und ich! Und unsere Lieblinge!« –
Sie beugte sich vor und rief Helgas Namen. Die schweren Augenlider hoben sich langsam. Da ließ sie den feinen jungen Frauenkopf aus ihren Armen in das Polster gleiten und kniete nieder und zog ihr die Schuhe von den schmalen Füßen. »Helga,« sagte sie noch einmal, und dann öffnete sie behutsam die Haken des Kleides und die Bänder des Mieders und nahm sie, die es lächelnd geschehen ließ, in ihre Arme und entkleidete sie wie eine Mutter ihr Kind. Der braune Kopf ruhte schlummertrunken auf ihrer starken Schulter.
»Ja, ja,« stieß das Mädchen hastig hervor, »du bist nun auch mein Liebling.«
Beim Schein der Kerze saß sie noch lange an ihrem Lager und sah, wie in endlichem Geborgensein die zarte Brust sich hob und senkte – –.
»Wie schön sie ist. Da wagt sich das Unschöne nicht heran – –.«
Als es gegen Morgen ging, küßte sie sie auf die Lippen.
»Gute Nacht,« sagte sie. »Von heute an werde auch ich gute Nächte haben. Alles ist klar und still und schön geworden, und ich habe mein Amt, Euch beide zu lieben. Den einen um des anderen willen, und den anderen um des einen willen.«
Lächelnd und aufrecht ging sie hinaus. Aber über ihre Mädchenzüge war eine unsichtbare Hand geglitten und hatte die Leiden und Freuden des Muttertums hineingeprägt, die zusammen die Liebe bilden. – –