Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Auf Wiedersehen, Frau Helga. Machen Sie rechte Fortschritte in der Lebenskunst!«
»Werden Sie bald wiederkommen, Herr Marschall?«
»Ich rechne mir gerade aus, wie hoch sich ein Abonnement auf der Eisenbahn stellen würde.«
»Ich werde es Ihnen zu Weihnachten schenken.«
»Topp, abgemacht. Was haben Sie heute für glänzende Augen! – Jawohl, Schaffner, ich steige schon ein; wie kann man so neidisch sein!«
Aus dem Fenster winkte er ihr zu. »In acht Tagen – –!«
Dann schob sich der Zug aus der Bahnhofshalle, und sie ließ ihr Tüchlein flattern, bis eine Kurve ihr den Wagen entzog. »Gute Reise,« nickte sie ihm nach. Und dann wartete sie, ob sich das alte Einsamkeitsgefühl melden würde. Aber es blieb aus. Allerlei feine Stimmchen waren in ihr lebendig und probierten zu frischgespannten Saiten. Das war eine wohlklingende Musik. Und sie versuchte, sie nachzusummen, während sie den Bahnhof verließ und die Kaiserstraße entlang ging, und es glückte ihr.
Johanna Grube war daheim geblieben.
»Erst eine Inspektionsreise auf eigene Faust,« hatte sie geraten. »Da finden Sie am schnellsten heraus, wo es hapert. Und dann komme ich und fasse Sie unter den Arm, und wir marschieren zusammen über den Berg. Vielleicht brauchen Sie mich gar nicht, oder nur, um abends am Kamin einen Zuhörer zu haben. Das wäre das Schönste! Denn nichts macht gesunder und fröhlicher als das steigende Vertrauen zu sich selbst.«
Sie hatte es schon. Ganz tief holte sie Atem. Es war schon da. Er, der soeben abgefahren war, hatte es ihr zurückgelassen.
»Und nun nicht mehr grübeln,« gebot sie sich. »Alles nehmen als ein Geschenk, und soviel wie möglich wieder schenken. Das schafft die ewige Festtagstimmung, hat mich mein Brückenbauer gelehrt, und ich muß dem Meister Ehre machen. Wem schenk' ich zuerst etwas?«
Sie schlug den Weg durch die Anlagen ein und kam zum Konservatorium. Da lag es vor ihr, breit und weiß wie vor Jahren, in selbstgefälliger Gelassenheit auf den Schmuck des Architekten verzichtend. Nur einen stärkeren Herzschlag spürte Helga, dann sah sie nur noch ein Haus, geräumiger als andere, aber ebenso nüchtern. Die Verzückung der Schülerin von einst wollte bei der Mündiggewordenen nicht mehr einkehren. Sie sah den Jammer der Enttäuschten neben dem jungen Künstlerhochmut auf den Bänken hocken und die Erfüllung nur wie einen Schemen auf einer rollenden Glückskugel durch die Räume schweben, und keiner hob die Hände danach, denn jeder glaubte schon sein Abkommen mit der Göttin getroffen zu haben. Und von Hunderten hielt die lockende Zufallsgöttin nur einem das Wort. Einige machte sie zu Marionetten, andere zu Prahlhänsen, andere zu Weltverächtern, und eine Gruppe lachender Mädchen drückte sie auf rollender Kugel tief hinein in den Erdenschmutz.
Als Helga Nuntius an dem sonnenblanken Septembermorgen, der nun schon sechs Jahre zurücklag, bebend vor Erregung das Haus der Kunst betreten hatte, hatte sie Hymnen des Himmels zu erlauschen geglaubt. Ihr Gehör war schärfer geworden. Aus den Hymnen des Himmels klang ihr ein Weinen heraus und ein angstvoll unterdrücktes Schluchzen. Und sie fragte sich: geht aus diesem Portal der Kunst mehr Freude oder mehr Jammer hinaus …?
In der Loge des Hausmeisters erfragte sie die Adresse Professor Fallers. Sie wollte doch Geschenke bringen.
Als sie die Treppen zur Wohnung ihres alten Lehrers hinaufstieg, hörte sie ihn spielen. Er unterhielt sich mit seinem großen Freunde Beethoven über die Erbärmlichkeit des Menschendaseins. Aber energisch klopfte sie an. Ihr war gar nicht menschenverachtend zu Mute.
»Bleiben S' draußen gefälligst!« polterte drinnen eine aufgeschreckte Stimme.
»Fällt mir gar nicht ein!« rief Helga und steckte den Kopf durch die Tür.
»Himmel Sakra, bin ich Herr in meinem Haus oder bin ich's nimmer!«
»Sobald eine Dame zugegen ist – nimmer!«
»Dös wär'! Dös wär' die neueste Mod'! Frauenzimmer! Philister über mir! Was wollen S' denn von mir? Machen S' kurz. Locken hab' ich kein' mehr zu verschenken, und zum Liebhaben fehlt mir der Gusto.«
»Mir aber nicht!« lachte der Besuch, huschte zum Klavierbock und legte dem griesgrämigen Alten den Arm um die Schulter. »Guten Tag, Herr Professor. Wo ist der Kavalier, dessen Ruhm als Mensch und Künstler von Baireuth aus in die Welt gegangen ist? Ich komme ihn besuchen.«
»Hören S',« sagte der Alte und zog die Augenbrauen hoch, »es ist keine höfliche Frag': aber sind nun Sie verruckt oder bin's ich?«
»Ja, Herr Professor, ich darf wohl nur über mich urteilen. Also! ich bin's nicht!«
»Sie ni–icht?« brüllte der Professor und schlug auf die Tasten. Dann werd' ich's wohl sein! Dann i–ich!«
Herr Professor – – wollen Sie mich nicht einmal anschauen?«
»Ich schau' keine Frauensleut an! Meine Ruh' will ich! Und jetzt – leben S' wohl, meine Gnädige.« Und er paukte höhnisch die Elvira-Arie aus dem Don Juan.
Ohne zu zögern, setzte Helga Nuntius ein:
»Mich verläßt der Undankbare – –«
Da ging das Pauken in eine aufhorchende künstlerische Begleitung über …
Und dann sagte der Alte, ohne sich umzuwenden: »Das kann nur die kleine Nuntius sein.«
»Wollen Sie mir jetzt guten Tag sagen?« fragte ihre Stimme, und ihre Hände legten sich auf die seinen, die auf den Tasten ruhten.
Er griff danach und hielt sie fest. Es war ein heftiges Zittern in seinen Händen. Und sie schob ihren Kopf an die vertrocknete Wange, und er rührte sich nicht und zog nur tief den Atem durch die Nase, als söge er mit dem Duft dieses Frauenhaares Erinnerungen ein, aus dem Frühling, aus der Jugend.
»Das ist gut,« sagte er, »das ist sehr gut.«
»Daß ich gekommen bin? Freuen Sie sich nun ein ganz klein wenig, wie ich mich freue?«
»Freuen Sie sich wirklich?«
»Wär' ich sonst hier?«
Da griff er hastig über die Schulter und zog ihren Kopf näher und küßte sie mit suchenden Lippen auf die Augen.
»Lieber, lieber Professor –«
»Mädel, Mädel! Also meinetwegen? Aus Anhänglichkeit hast dich herg'funden? Hast den alten Faller nicht vergessen? Bist halt die einzige von denen, die durch den Faller was geworden sind. Deshalb ist meine Freud' so kindisch geworden. Lachen möcht' ich, nix als lachen – –!«
»So lachen Sie doch! Heraus damit! Ich bin dabei!«
Und dann lachten sie gemeinschaftlich, daß es klingend und jubelnd durch das Zimmer schallte. Ihr Kopf lag fest an dem seinen. Er hatte ihn gar nicht erst freigegeben.
»Sehen Sie nun, wie jung Sie noch sind, Sie Griesgram?«
»Und wie jung Sie geworden sind! Wer mir das einmal g'sagt hätt', keine zehn Kreuzer hätt' ich dafür verwett't.«
Plötzlich schob er ihren Kopf beiseite und erhob sich stolpernd.
»Ich bitt' halt um Entschuldigung,« und er nestelte errötend an seinem fadenscheinigen Hausrock, an dem die Knöpfe baumelten. »Nur einen Gewandwechsel. Wissen S', von wegen des Kavaliers aus Baireuth.«
Fort war er. Und sie hockte auf dem Klavierbock, die Hände im Schoß, und verwunderte sich nicht einmal über ihre Fröhlichkeit. Wenn Richard Marschall sie jetzt sehen könnte, ging es ihr durch den Kopf, der würde mit seinem Lehrling zufrieden sein. Es ist gar nicht so schwer, dachte sie, das Brückenbauen. Aber es ist so vergnüglich. Ob ich meine Kunst dem alten Professor mitteile? Ich hab' ja schon so viel gelernt, daß ich davon abgeben kann. Ach, so jung sein! – –
Da kam der alte Herr zurück. Im langen schwarzen Gehrock, und ein Kettchen mit Miniaturorden unterm Rockaufschlag. Er hielt sich sehr aufrecht, und als er drei Schritte auf sie zu getan hatte, machte er ihr eine tadellose Verbeugung. Und sie erhob sich vom Klavierbock und erwiderte das Kompliment mit einem tiefen Hofknicks.
»Gestatten, Gnädige, daß ich Ihnen die Hand küss'?«
»Ich weiß diese Ehre zu schätzen.«
Und er küßte mit großer Sorgfalt die eine und dann die andere Hand, bot seiner Dame den Arm und führte sie zu einem Fauteuil, über dessen verschlissene Pracht er mit geschicktem Schwung die Diwandecke warf.
»Jetzt aber nix als einen gemütlichen Plausch,« sagte er und rekelte sich in seinem Stuhl zurecht. »Was macht der Braun?«
»Das,« erwiderte Helga Nuntius freundlich, »haben Sie nun falsch angefangen. Wir stehen in der Scheidung.«
»Sakra,« fuhr der Professor auf und starrte sie an. Und wieder zusammensinkend, stammelte er: »Ich bin zu nix mehr gut auf der Welt. Lauter Dummheiten, lauter Dummheiten, mag ich's anfassen, wie ich will.«
Es tat ihr weh, ihn so zu sehen.
»Sonst hätte ich ja nicht zu Ihnen kommen können,« sagte sie leise. »Jetzt aber kann ich gehen, wohin mich meine Liebe treibt. Und recht, recht oft möcht' ich zu Ihnen kommen, wenn Sie mich auch ohne den Namen Braun haben wollen.«
»Ich hab's vorausgesehen,« murmelte der alte Sänger, »ich war, wenn man's genau nimmt, Mitschuldiger. Der Bengel hatte mich damisch gemacht mit seiner schönen Stimm'.«
»Er war kein Bengel,« sagte sie leise und lächelnd.
»Ni–icht?« brauste der Alte auf. »Was denn? So eine Frau auszulassen! So eine – –!«
»Und wenn ich – ihn ausgelassen hätte?«
»Helga, Mädel, is's wahr? Vernünftig können S' auch sein?«
Sie legte ihm beschwichtigend die Hand aufs Knie. »Herr Professor –«
»Ach was, Herr Professor! Gewurmt hat's mich wie nix Recht's. Handelsgeschäfte in der Kunst! Und der Faller als ehrlicher Makler! O Gott, Kind, ich schäm' mich zu Tod.«
»Aber, Herr Professor, dazu haben Sie ja nicht den geringsten Grund. Ich selbst hab's ja nicht anders gewollt. Ich glaubte ja, alles Leben sei nur da, wo die Kunst sei. Und Robert Braun hatte die Kunst so souverän. Da dachte ich, bei ihm müßte auch das Leben sein.«
»Hetzjagd, Hetzjagd, immer dem Mammon nach,« stieß der Alte heraus, »nur nicht vom Parnaß in die Wiesen steigen, nur keine Erinnerungen sammeln! Können sie's Geld fressen? Diese großen Künstler? Aber die Erinnerungen – ah, die sind nahrhaft. Schaff dir Erinnerungen, Kind, in deinem Herzen und im Herzen der Menschen. Das macht unsterblich. Das Leben macht den Künstler, durch sein Leben wird er's. Der Faller hat's gesagt.«
Da war er bei seinem Lieblingsthema, und es wurde Helga leicht, ihn dabei festzuhalten. Das pergamentene Gesicht erhielt Farbe, die welken Züge wurden straff, und das Feuer der Begeisterung stieg ihm in die Augen. Und er erzählte mit fliegender Hast, denn er glaubte den Eindruck seiner ungeschickten Frage verwischen zu müssen, und dann hielt er das junge Wesen, das zu ihm altem Manne gekommen war, für noch viel verlassener als sich selbst. Das merkte das junge Wesen, aber es hütete sich, den alten Mann von seiner Ansicht zu bekehren, denn mit feinem Fraueninstinkt empfand es, daß der Griesgram sich an seinem Mitleid mit einer anderen zu einer lebensmutigen Stimmung erholte, die ihm selbst zu gute kam.
»Glauben S' nur den Unsinn nicht,« schloß der Professor, »daß der Künstler auf Stelzen wandeln müßt. Wenn er mit den Göttern Schmollis trinkt, versteht ihn das Volk nicht mehr. Mitten unter die Bagasch' muß er, mitten unter das lustige Volk und unter das sehnsüchtige Volk, überall hin, wo was pulsiert. Wer zum Volk sprechen will, muß das Volk kennen. Das Volk ist nie erstaunter, als wenn's in der Kunst seine eigene Sprache sprechen hört, wenn diese Kunst so umfassend ist, daß es seine eigene Liebe und seinen eigenen Haß drin wiederfindet, justament wie der Bevorzugte. Das aber lernt man nur unter Menschen. Sonst bleibt's eine kalte Kunst, eine tote Kunst.«
»Ich möcht' unter Menschen, Herr Professor. Deshalb bin ich zurückgekommen.«
»Und da,« sagte er mit plötzlichem Staunen, »kommen S' ausgerechnet zu mir?«
»Ich hätt' es gar nicht besser treffen können,« erwiderte sie. »Das, was Sie soeben aussprachen, war's, was mich aus der kalten toten Kunst forttrieb. Ich suche Nachhilfestunden, Herr Professor.«
»Nein, nein,« wehrte er ab, »da haben Sie die falsche Adreß. Ihnen tut Jugend not.«
»Und Ihnen, Herr Professor?«
Mißtrauisch schaute er sie an. Aber sie wiederholte ganz tapfer die Frage. »Und Ihnen, Herr Professor?«
»Ja,« sagte er langsam, »erinnern Sie sich denn wirklich meiner? Was wollen S' denn mit mir?«
»Zu Ihnen aufschauen möcht' ich. Damit ich junges Ding einen Mut bekomm', wenn ich seh', wie ein alter rüstiger Herr resolut das Leben erfaßt.«
»Aha,« meinte der alte Sänger und blinzelte in die Luft, »Kindermädchen auf meine alten Täg …«
Da wandelte sie die seltene Lust an, recht weiblich zu kokettieren, und sie beugte sich vor, daß sie ihm von unten herauf in die Augen sehen konnte, und fragte lächelnd: »Wär' Ihnen das so verhaßt?«
Er blickte weg. Aber mit seiner großen mageren Hand strich er ihr über das Gesicht. »Na, na, na,« knurrte er.
»Na?« machte sie und hielt seine Hand fest.
Da kroch die alte Seele ungelenk aus ihrem Schmollwinkel.
»Satansweiber, alle miteinander! Selbst so ein stiller Fratz wie du – keine Ausnahm'. Ja, ja, die stillen Wasser, die stillen Wasser …« Dann setzte er sich gerade auf. »Aber in die Kneipen kannst du doch nicht mitlaufen?«
»In die Kneipen? Nein. Aber zu mir sollen Sie kommen, ich wohn' im Grubeshof, und da wollen wir so recht aneinander auftauen. Und ich komme wieder zu Ihnen heraus, zum Musizieren. Und spazieren wollen wir laufen, durch die Stadt und die Dörfer ringsum. Wir wollen das Leben schon packen. Auf unsere Art.«
»Donnerwetter – Mädel – –!«
Nun errötete sie selbst. Aber jetzt hatte sie ihn angesteckt. Er schüttelte ihr beide Hände.
»Handschlag drauf. Du und ich! Auf unsere Art. Wir sterben noch lange nicht. Weißt, das war's, die Furcht vor dem Sterben, seit ich klapprig werd' und nicht mehr ins Konservatorium geh'. Ich muß Musik haben, Musik – und du, weißt, du bist halt Musik.«
Sie errötete noch tiefer. Aber er fuhr fort, mit greisenhafter Lust zu schwatzen.
»Wann darf ich kommen? Wann ich will? Dös is g'scheit, denn ich will sehr oft. Und – und –« fügte er blinzelnd hinzu, »aufs Heiraten spekulierst du nicht, Kind. Gelt, nicht? Dös leiden nämlich meine Erinnerungen nicht.« – – –
Was war das wieder für ein frischer Tag! Wenn ich jetzt einsam auf dem Kaufunger Wald säße, dachte sie; und ein Gruß flog dem Manne nach, der sie mit herzhaftem Griff herausgeholt hatte, bevor sie eingeschneit war und dem Leben abgewandter als sonst. Ein paar Passanten blickten sich nach der schlanken, schönen Frau um. Sie empfand es, aber sie wich nicht scheu in eine Nebenstraße. Sie freute sich, daß sie gefiel, auch ohne den Bühnenzauber. Es regte sich in ihr so viel Mädchenhaftes, daß sie heimlich einen kleinen Übermut hätschelte und ermunterte. Das war die Stimmung, Meister Bettermann und Frau Lena unter die Augen zu treten. Und sie ging hin.
Herr Johann Bettermann saß mit seiner Gattin beim Nachmittagskaffee. Aber er beschäftigte sich nicht mehr damit, Schiffchen aus Weißbrot in seiner Tasse schwimmen zu lassen. Er hatte Ernsteres zu tun. Auf dem Tisch lagen Baupläne, Grundrisse und Architekturblätter. Aus einem »Katechismus der Baukunst« las er Frau Lena vor und nahm dazu in gemessenen Abständen, um die Stimme geschmeidig zu erhalten, einen Schluck aus der Tasse.
»Aber Mann,« beschwichtigte Frau Lena seine Vortragswut, »du baust wieder in die Wolken. Wir wollen doch in die Bleidenstraße kein Museum bauen!«
»Bscht,« machte Herr Bettermann. »Owacht gewwe! Des stärkt des Schönheitsgefühl.«
»Mann, auf fünfundzwanzig Fuß Front läßt sich doch kein Schönheitsgefühl entwickeln. Sei praktisch, Mann.«
»Was sich die Weibsleut' ein' gebildet' Sprache angewehne, wenn sie von Dinge redde, die sie net verstehe.«
»Mann, du verstehst sie ja selber nicht.«
»I, is es die Meeglichkeit! So e Frauenzimmerverstand. Lange Haar un korzer Sinn. Verkaaf du dei Krämche im Ladegeschäft, awwer nu redd' mer net mehr enei in mei gotisch Baukunst. Des sein Männersache.«
Da klopfte es an der Tür.
Meister Bettermann schaute seine Frau an, und die Frau ihn. »Herein – –?«
»Bin ich hier recht bei Bettermanns?«
Da zuckte der Meister zusammen. Diese Stimme kannte er. Und dann flog der Katechismus der Baukunst wirbelnd zwischen Baupläne und Grundrisse, und Herr Johann Bettermann so schnell zur Tür, daß seine Pantoffeln mitten in der Stube das Rennen aufgaben und ihn auf Socken das Ziel nehmen ließen.
»Das Fräulein! Das Fräulein Helga! Ja, wisse Sie denn scho', daß ich bau'? Mutter, nu wirste dei Wunner hörn! Awwer so nemme Se doch Platz. Gott, die Freed macht mei Kopp ganz werbelig. Sitze Se gut? Sie kenne doch Gotik, Fräulein! Mutter, so gebb doch endlich als e Tass' for unser Fräuleinche her!«
Und Frau Lena rannte und holte eine Tasse und trug die Lampe herbei, und Herr Johann Bettermann stopfte dem Gast ein dickes, perlenbesticktes Sofakissen in den Rücken und drückte ihr den Katechismus der Baukunst in die Hand, und Frau Lena nahm ihr das Buch wieder weg und gab ihr dafür den dampfenden Kaffee, und keiner verstand minutenlang den anderen, und es war eine große Aufregung.
»Was soll ich nun zuerst tun?« rief Frau Helga und saß ganz überrumpelt.
Da siegte auch das gute Herz Herrn Bettermanns, und er rief mit seiner Frau gemeinsam: »Uns die Ehr antun un sich recht herzlich begrüße lasse.«
Bis zum Abend saß Helga Nuntius unter den glücklichen Menschen, und das alte Knabengesicht des Meisters strahlte, als der Gast von berühmten Städten erzählte und der Kunst der großen Bauherrn. Und er schluchzte vor Wonne, als ihm Frau Helga gestand, daß sie den gotischen Stil über alle anderen stelle, da er ihr immer wieder wie in Stein gehauene Musik erscheine.
»No, Mutter?« zwinkerte er, »no? Bin ich e Kenner, wie? Musik in Stein, Mutter! Hat's der Faller net gesagt vor Jahr und Tag: Sie sinn e Musikkenner, e Kunstkenner? Des is Gotik, Mutter, mit eim Wort: Gotik!«
Und dann entschuldigte er sich und lief auf Pantoffeln über den Schnee zu seinem Bauplatz.
»Er ist ganz närrisch vor Freude,« sagte Frau Lena, »aber es hält ihn so jung. Was der Mensch sich einbildet, das is er, und was er in seine Sach' hineinträgt, das wird sie. Und wenn's zum Schluß auch nur vier Wände mit einem Dachstuhl werden, für ihn ist es die Gotik.«
»Ich möchte mir ein Beispiel an Ihrem Mann nehmen, Frau Bettermann – –«
Da freute sich die schaffensfrohe Frau über die Lebensklugheit ihres jungen Gastes.
»Sie dürfen ihm nicht gram sein, daß er Sie noch immer Fräulein tituliert. Für ihn sind Sie immer das Fräulein Helga geblieben; daß Sie Frau Braun sind, hat er, glaub' ich, nie begriffen.«
»Das ist gut,« antwortete sie, »denn ich bin nun auch wieder die Helga Nuntius.«
Als die Frauen voneinander schieden, sagte Frau Lena Bettermann nur: »Nun wünsch' ich der Frau Nuntius, daß sie diesmal in Frankfurt das rechte Auge haben mög' für das rechte Glück.«
Auf dem Bauplätzchen gegenüber dem Grubeshof sah Helga den frischgebackenen Gotiker herumgeistern. Oben aber auf der Treppenstufe kam ihr Johanna Grube entgegen und schloß sie lachend in die Arme.
»Sie Herumtreiberin, Sie haben Besuch!«
»Besuch – –? Aber von wem denn nur?«
»Er sagt, Sie hätten ihn ausdrücklich eingeladen. Und geschimpft hat er auch: Wenn auf die Helga kein Verlaß mehr wär', dann sollt' man ihm doch überhaupt vom Leibe bleiben. Da hab' ich ihm ein Fläschchen Rheinwein vorgesetzt und den Deckel des Klaviers aufgeschlagen. Nun trinkt und spielt er abwechselnd. Hören Sie nur, jetzt singt er sogar.« Und aus dem würdigen Patrizierzimmer klang es brüchig:
»Und er saß, und vergaß, auf seiner Burg am Rhein,
Denn das Herz, und den Schmerz, tröstet Rüdesheimer Wein …«
»Der Professor!« rief Helga. »Ach, Fräulein Johanna, ich fühl' mich ja so fest auf meinen Füßen. Wie hab' ich mir nur einbilden können, allein zu sein!«
*
Nein, sie war nicht mehr allein. Wenn es auch absonderliche Menschen waren, die ihren Kreis und ihre Gefolgschaft bildeten. Hatte Richard Marschall daran gedacht, als er sie in diese Umgebung verpflanzte? Damit die Sehnsucht ihres Lebensdranges nicht in die ungewisse Weite gehe und lerne, daß die Sonne in alle Fenster schaue, wenn man bereitwillig an der Gardine zöge? Er schrieb ihr oft, und sie las den Sinn zwischen den Zeilen heraus und merkte ihn sich. Und wenn er an theaterfreien Abenden aus seiner Residenz herüberkam, gab es immer eine stumme Prüfung, und als Weihnachten vorüber war, und als im Taunus die Schneeschmelze begann und im März schon an den Bäumen in den Anlagen der Stadt die braunen Blattknospen aufsprangen, da meinte er eines Tages: »Nun haben Sie das solide Fundament, Frau Helga. Jetzt können wir bald daran denken, in die Höhe zu bauen.«
Ganz hatte sie ihn nicht verstanden, aber über die Anerkennung, die in seinen Worten lag, hatte sie sich doch gefreut.
Am anderen Tage begann sie bei Professor Faller ihre Musikstunden wieder. –
Es war ein sonderbares Kleeblatt, dem die Spaziergänger in den Eschenheimer Wiesen oder in den Wäldern bei der Schweinstiege häufig begegneten. Eine junge schöne Frau, blühend und elegant, von zwei merkwürdigen alten Herren begleitet, von denen der eine, lang und vergilbt, zum schwarzen Gehrock einen breiten Schlapphut trug, während der andere, kurz und rosig, ebenfalls im schwarzen Gehrock einherschritt, aber sein Haupt festtäglich mit einem Zylinder bekleidet hielt.
Zuerst hatte Professor Faller Einspruch gegen die Hinzuziehung des »gotischen Lederfritzen« erhoben. Aber Frau Helga war darüber hin zur Tagesordnung gegangen. Ihr galten die alten Freunde gleich. Und als der einstige Heldensänger in seinem verbitterten Gemüt erst die anbetende Bewunderung des kleinen Meisters empfunden hatte, da gewöhnte er sich auch an den gesträubten Zylinderhut.
»Der Kerl hat nicht nur Phantasie, er hat auch Geschmack,« sagte nach einem dieser Spaziergänge der Professor zu Frau Helga. Denn der Professor hatte an dem Tage eine längere Abhandlung über wahre Kunstauffassung gegeben, und Meister Bettermann sich jedes Wortes enthalten. An diesem Abend folgte Herr Professor Faller einer respektvoll vorgetragenen Einladung Meister Bettermanns zu einem Schoppen Apfelwein bei Heiland.
Sonst wurde nicht viel geredet auf den Wegen durch Wald und Feld. Aber der schüchterne Frühling wurde belauscht, und sein Kommen und Vordringen. Und die drei Menschen spürten ihn, jeder auf seine Art, in der Brust. An den heftigen Bewunderungsrufen Meister Bettermanns entzündete sich das vertrocknete Herz des in Vergessenheit geratenen Sängers, und bald vermochte seine Phantasie der geläufigen des kleinen quecksilbernen Freundes ein Paroli zu bieten. Und zwischen den beiden, die nur in abgehackten Empfindungssätzen sprachen, schritt Helga und verglich die Abendfreude der beiden Alten mit ihrer Morgenfreude.
Jede Stunde als ein Geschenk nehmen, und jeder ein Geschenk bringen!
Und sie überlegte oft, wie sie Richard Marschall erfreuen könne, wenn er das nächste Mal kommen würde. Aber immer kam er ihr zuvor. In den wenigen Stunden, die zwischen seiner Ankunft und Abreise lagen, erfüllte er das Haus mit seinem frischen Leben, das alles in die Sonne rückte. »Ich muß sorgen, daß sich nirgendwo Spinnweben ansetzen,« pflegte er zu sagen, und dann klappte er den Klavierdeckel auf und spielte ungarische Tänze, die ihm seit der Zigeunernacht in St. Pauli am meisten am Herzen lagen. Dann schmeichelte die Vorfrühlingsluft weicher um Helga Nuntius, und sie wußte nicht, woher, und in ihr tauchten fremde Empfindungen auf und gebärdeten sich ganz herrisch in ihrer Brust, obwohl sie keinen Namen für sie fand. Und sie schloß die Augen, um ihr eigenes Lächeln nicht zu sehen. Aber Richard Marschall sah es, und dann schaute er angestrengt auf die Tasten, als fürchtete er eine Fingerentgleisung.
Am letzten Apriltag war er auf zwei Tage gekommen.
»Gibt's denn diesmal keine Theaterferien?« hatte ihn Johanna Grube gefragt. »Sie müssen doch endlich einmal ausspannen, sonst werden Sie uns noch krank.«
»Und wenn schon,« hatte er erwidert.
Da war Helga Nuntius auf ihn zugetreten und hatte seine Hand berührt und leise gesagt: »Das war ein häßliches Wort. Soll ich mich danach richten?«
»Um Gottes willen! Frau Helga!«
»Wollen Sie es dann schleunigst zurücknehmen?«
»Ich nehme es zurück und schäme mich, weil ich ein schlechtes Beispiel geboten habe.«
»Werden Sie es nicht wieder tun?«
»Nein, ich werde es nicht wieder tun.«
»Wie lange es schon hell bleibt,« sagte sie und ließ die frühe Abendluft ins Zimmer. »Es ist gerade, als wollte es jetzt gar nicht mehr Nacht werden. So müssen Sie auch denken.«
»Wollen wir einen Spaziergang machen, Frau Helga?«
»Gern. Wird Fräulein Johanna sich anschließen?«
Aber Johanna Grube hatte noch Küchensorgen. »Unser Freund Richard muß heute besonders gut gepflegt werden,« sagte sie mit Betonung. »Unser Freund Richard – –« wiederholte sich Helga.
Dann gingen sie, und sie nahm, ohne daß er ihn ihr geboten hatte, seinen Arm. Da biß er sich auf die Lippen, um nicht zu schreien, und doch war die Berührung so weich.
Herr Bettermann stand vor dem Rohbau seines neuen Hauses, das am Dachstuhl Fahnen und Kränze trug.
»Ich geh' mit,« rief er über die Straße.
»Morgen!« rief sie zurück. »Sonst wird Professor Faller böse.«
Das leuchtete ihm ein, und er schwenkte grüßend seine Mütze.
So gingen sie allein durch den Frühlingsabend. In den Anlagen am Eschenheimertor sprangen die grünen Blätter aus den braunen Umhüllungen. Der April hatte frostige Nächte gebracht und die Entwicklung der Knospen zurückgehalten.
»Aber einmal bricht sich doch Bahn, was drinnen ist,« sagte Richard Marschall.
»Was ist Ihnen, lieber Freund? Sie sind heute so anders.«
»Gegen Sie nicht, Frau Helga, gegen Sie nie. Nur gegen mich, und das ist eine Dummheit.«
»Was ist es?« bat sie.
»Der Frühling,« antwortete er kurz. »Oder die Arbeit.«
»Macht sie Ihnen keine Freude mehr? Männer wie Sie finden doch nur in der Arbeit ihr Leben.«
»Wenn man weiß, wofür.«
»Haben Sie Unannehmlichkeiten gehabt? Dann geben Sie mir einen Teil auf meine Schultern.«
»Sie sind so gut, Frau Helga. Aber Unannehmlichkeiten – o nein! Das Gegenteil dürfte eher der Fall sein. Mein gnädiger Herr hat für den Monat August einen Festspielzyklus befohlen, den ich mit den ersten Kräften besetzen soll. Im Mittelpunkt soll meine Oper ›Hadwiga‹ stehen. Darin liegt eine große Ehrung für mich. Der Fürst hätte sie ja auch als Repertoireoper befehlen können.«
»Nun also,« sagte sie erfreut, »dann ist es also nicht die Arbeit.«
»Es wird der Frühling sein,« meinte er. »Wir haben heute Walpurgisnacht, das ist eine gefährliche Zeit für Phantasten.«
Sie schritten weiter, das Ende des Öderwegs entlang, das von einem weiten Park abgeschlossen wurde. Frau Helga sann auf ein gutes Wort.
»Der Frühling,« sagte sie nach einer Weile, »ist etwas zurückgeblieben. Die Bäume sind noch braun und die Knospen noch nicht entfaltet. Aber sagten Sie nicht selbst vorhin: einmal bricht sich doch Bahn, was drinnen ist?«
»Das ist der Frühling für alle Welt, Frau Helga.«
»Gibt's einen anderen?«
»Wenn man sich auf den Zehen hebt – ich glaub's schon. Nur ein bißchen über sich selbst hinausheben muß man sich. Dann findet man ihn überall und ganz im geheimen.«
»Das wäre die Mär' vom Paradiesgärtlein, das sich den Sonntagskindern zeigt.«
»Sollen wir nicht Sonntagskinder sein, Frau Helga?«
»Ich bin's nicht, lieber Freund, mein Mut ist noch zu jung für den neuen Glauben.«
»Auf den Zehen sich heben, Frau Helga, auf den Zehen sich heben. Sehen Sie denn nichts?«
Sie schaute verwundert zu ihm auf. Seine plötzliche Aufgeregtheit steckte sie an.
»Was soll ich sehen?«
»Dort, dort!« und er blickte mit großen, glänzenden Augen über die Parkmauer.
Sie hob sich auf den Zehen. »Es geht nicht.«
»Wofür bin ich denn Ihr Helfer. Es ist Maiennacht,« murmelte er, streckte die Arme und hob sie mit starken Händen hoch.
Da lag der verlassene Park vor ihren Blicken. Am bestirnten Himmel war der Mond aufgezogen und streute sein Licht wie Goldregendolden ins Gebüsch. Braun und leer ragten die Baumreihen noch. Aber mitten in dem verwilderten Garten schwamm eine weiße Insel. Nichts sah man vom braunen Geäst, nur ein Schwelgen in Blütenflocken. Das war wie eine selige Vision. Bräutliches Land! Ein schwelgendes Blühen und ein schwelgendes Duften, ein flüsterndes Geheimnis … als zöge von hier – über ein kleines – der junge Frühling in die Welt!
Wie ein Seufzen glitt es durch Helga Nuntius.
»Das Paradiesgärtlein …«
»Frau Helga –«
Ein Zittern lief durch ihren Körper bei dem bittenden Klang. Da stand sie auf den Füßen und strich sich über die Stirn. »Ich danke Ihnen.«
Und wie sie das Dankeswort aussprach, marterte es sie, daß sie nur immer Dank fand und nie ein Geschenk für ihn.
»Ja,« sagte er ruhig, »so ein Paradiesgärtlein, draußen vor der lauten Stadt, von keinem gekannt als von mir, das ersehn' ich mir. Nach der Arbeit hingehen können und über den Zaun blicken! Ob Sommer oder Winter. Ich würde mich so lange auf den Zehen heben, bis ich irgendwo den Blütenschnee fände. Und ich weiß, ich würde ihn finden. Nur nicht die Flinte hinwerfen. Das hat mich dieser überraschende Blick in das Blütengeheimnis des verwahrlost scheinenden Parkes wieder gelehrt.«
Er bot seiner Gefährtin den Arm. Ihre Schritte waren zögernd, als zög' es sie zurück zu der Mauer. Aber der Mund fand nicht das Wort zur Bitte. So kamen sie in das Gewühl der Straßen, und hinter ihnen lockte der Zauber der Walpurgisnacht, bis er langsam verglomm …