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4. Die arktischen Naturvölker

Wir steigen in der Kultur wieder tief herab, indem wir uns nach dem hohen Norden wenden, aber nicht so tief, als man bei dem von der Natur so stiefmütterlich bedachten Klima der Eisregionen des Polarkreises erwarten sollte. Im allgemeinen haben die Weiber, bei den Eskimos, wie bei den sibirischen Völkerschaften, alle Arbeit zu besorgen, da die Männer sich nur mit Jagd, Fischfang und Schiffahrt beschäftigen. Dagegen giebt es Fälle, in welchen die Frau »die Oberherrschaft im Hause hat«; sehr häufig ist sie auch intelligenter als der Mann; ja Europäer konnten von Grönländerfrauen bessere Auskunft über Wege erhalten als von Männern, und sogar Kartenzeichnungen durch sie erlangen. Die Kinder folgen in Grönland der Mutter, was bei Scheidungen eine Art Einsiedlerleben der Männer zur Folge hat. Bei der Kargheit der Erzeugnisse des Bodens und der geringen Zahl der Frauen ist der Polygamie die Grundlage entzogen. Die Braut wird auch hier gekauft. Bei den Renthierschuktschen muß der Freier dieselbe durch Heerdendienst bei ihrem Vater verdienen. Die Samojeden halten die Frauen für unrein und unterwerfen sie empörenden Gebräuchen, damit sie kein Unheil anrichten, wie sie fürchten. Ploß, das Weib II S. 456 (nach Pallas). Ihre Freier zahlen für die Braut Renthiere, Wild, Felle, Kessel, und erhalten als Mitgift Hausrath, Kleidung und Nahrung bis zu 20 Schlitten voll, nebst letzteren und den Zugthieren. Bei demselben Volke kommt auch Brauttausch vor, d. h. der Vater des Freiers giebt dem Schwiegervater eine seiner Töchter, die dann der letztere wie seine eigene Tochter verheiratet. Bei den Tungusen bemüht sich der Bräutigam nicht zur Braut, sondern letztere wird ihm vom Vater zugeführt, worauf sie neben der Jurte ihres Mannes eine eigene errichtet und die Feier mit einförmigem Tanz und Gesang schließt.

Zu den arktischen Naturvölkern gehört ursprünglich auch das finnische Volk. Durch seinen Aufenthalt in Europa, der wohl in unerforschbare Urzeiten hinabreicht, hat sich in demselben eine eigentümliche Kultur entwickelt, deren Zeugnisse in ehrwürdigen und ergreifenden Heldenliedern vorliegen. Unter dem Titel »Kalewala« (d. h. Heimat des Heldenvaters Kalewa) gesammelt, athmen sie getreu den Eindruck der Naturscenerie Finlands und der Sitten und Anschauungen seiner Bewohner.

Viel beschäftigt sich Kalewala mit den Gebräuchen der Hochzeit und den Auffassungen über die Ehe. Wie in den Mythen anderer Völker müssen auch hier die Helden, um die Braut zu gewinnen, Herakles-Arbeiten vollführen, namentlich wilde riesige Thiere einfangen, welche der böse Geist Hiisi, der finnische Loki, in die Welt gesetzt hat. Die Frauen spielen indessen eine untergeordnete Rolle und ihr Loos ist nicht das angenehmste. Sogar bei der Werbung werden sie schon mit Aufzählung der ihnen bevorstehenden Arbeiten begrüßt. So sagt Wäinämöinen zu der umworbenen Nordlandstochter:

Deshalb sollst du in den Schlitten
Du, o Jungfrau, dich hier setzen,
Daß du Honigbrot mir backest,
Daß das Bier du mir bereitest,
An dem Tische munter singest,
An dem Fenster dich erfreuest,
Auf den Höfen Kalewalas.

Die Jungfrau hat aber den Vogel der Fluren um Rath gefragt:

Wie es besser ist zu leben
Als ein Mädchen bei dem Vater
Oder bei dem Mann als Gattin?

Und der Vogel hat ihr georakelt:

Hell und warm sind Sommertage,
Wärmer doch noch Mädchenfreiheit,
Kalt wohl ist im Frost das Eisen,
Kälter noch der Frauen Freude;
Gleicht das Mädchen, das zu Hause,
Einer Beer' auf gutem Boden,
Ach, so ist die Frau beim Manne
Wie ein Hund nur an der Kette:
Selten wird dem Knechte Gnade,
Nimmermehr der Frau gewähret!

Zu der Hochzeit wird vor allem ein riesiger Ochse geschlachtet und lange Zeit hindurch wird Bier gebraut, wozu man, wie die großsprecherische Dichtung sagt,

Brauchte Holz von ganzen Hainen,
Ganze Brunnen voll von Wasser.

Ferner backt man große Brote und bereitet ungeheure Massen Breies. Zur Hochzeitfeier ladet man vor allem einen wohlerfahrenen Sänger, dann aber auch Arme, Blinde, Lahme, Krüppel, ja das ganze Volk, nur allein die abgewiesenen Freier nicht. Der mit großem Gefolge erscheinende Bräutigam wird festlich empfangen. In der großen »Stube«, welche die Stelle der skandinavischen Hallen einnimmt, sind die Tische gewaschen, die lange Bank begossen, die Planken gescheuert und die Bretter gekehrt. Nicht zu vergessen aber ist im kalten Lande der kupferne, mit Blumen geschmückte Ofen. Der Bräutigam wird von der Mutter der Braut bewillkommt:

Voll Gesundheit sei dein Kommen
In den kleinen Raum der Stube,
In das Haus, das niedrig stehet.
In die tannenreiche Wohnung,
In die fichtenreiche Stätte.

Der Eidam erhält den höchsten Platz; er wie seine Leute werden mit Butter, Klößen, Lachsen, Schweinebraten und Bier bewirthet. Der Sänger spricht einen Segen über das Bier:

Liebes Bier, du schön' Getränke,
Laß die Leut' nicht schweigend trinken.
Treib' die Männer zum Gesange,
Zu dem Lied mit goldnem Munde!

Dann singt er, verherrlicht die Familien der Feiernden und lobt die Anwesenden, Indessen wird die Braut zur Abreise ausgerüstet. Sie wird beklagt, ihre Heimat verlassen und in die ungewohnte Fremde ziehen zu müssen. Auch sie selbst klagt und jammert über dieses Schicksal und hält sich für unglücklicher als andere. Mit großer Beredsamkeit wird von den Verwandten und ihr der schlimme Wechsel geschildert, dem sie entgegengeht, und sie wird mit bewegten Worten zum Weinen aufgefordert, was sie denn auch reichlich thut. Erst nach langem Klagen und Weinen kommt der Trost an die Reihe, wird die vorher verlästerte neue Heimat und der Gatte gerühmt, die vorher als schlechter geschilderte künftige Stellung plötzlich als eine bessere gemalt. Dann belehrt man die Braut über ihre Pflichten, unter denen strenge Arbeit die Hauptsache ist. Die Einleitung zu der Lehre lautet bedeutsam:

Gehest du aus diesem Hause,
Kannst du alles Andre nehmen,
Drei der Dinge laß im Hause:
Träume, die man hat am Tage,
Deiner Mutter liebe Worte
Und das Kosten frischer Butter.
Neue Sitte ist zu lernen
Und die früh're zu vergessen,
Vaterliebe zu verlassen,
Schwäherliebe zu erfassen,
Tiefer mußt du dich nun bücken,
Gute Worte mußt du spenden.

Die Verhältnisse sind hier in allem noch so wie bei den meisten Naturvölkern: äußerste ungebundene Freiheit genießen die Mädchen, in härtester Knechtschaft seufzen die Frauen, darum mit Recht die Hochzeit für die Braut nicht als ein Freuden-, sondern als ein Trauerfest erscheint.

Steht der große Bär gerade,
Mit dem Kopf gewandt nach Süden,
Mit dem Schwanze hin nach Norden,

dann muß die Frau sich aus den lebensfrischen Armen des jungen Mannes reißen, Feuer anmachen, das Vieh füttern, von der Krippe edeler Rosse bis zum Freßtrog der Schweine, dann ihr Kind stillen, darauf den Boden der Stube kehren, die Tische reinigen, die Bänke abstauben, den Ruß von der Decke entfernen u. s. w. Die später in ein Haus heirathende Braut nimmt nicht nur den Schwiegereltern, sondern auch den Frauen der älteren Brüder gegenüber eine untergeordnete Stellung ein und hat auch ihnen Dienste zu leisten, ihre Kinder zu pflegen, ihr Vieh zu füttern. Sie soll nicht stöhnen und seufzen beim Mahlen, soll mit Freude backen, voll Anmuth den Eimer zum Wasserholen tragen, beim Geschirrwaschen achten, daß nichts durch Hunde, Katzen, Vögel, Kinder wegkomme; dann kommen noch die Anweisungen zum Wärmen des Bades für den Schwiegervater, zum Spinnen und Weben, zum Bierbrauen, zur Bewirthung der Gäste (welche die Frau nur bis zur Thüre begleiten soll, damit der Mann nicht eifersüchtig werde), – so daß die arme Frau wirklich hundert Arme nöthig hätte, um allen Anforderungen gerecht zu werden und man fragen muß, was dann die Schwiegermutter und die Schwägerinnen überhaupt noch thaten, von Dienstboten nicht zu reden! Zuletzt wird der Braut noch eingeschärft, von der Schwiegermutter nicht übel zu sprechen:

Fragen in dem Dorf die Schnure
Oder andre Frau'n des Dorfes:
»Gab die Schwiegermutter Butter,
Wie zuvor zu Haus die Mutter?«
Darfst du nicht gerade sagen:
»Nein, sie giebt mir keine Butter.«
Sage, daß sie stets gegeben,
Mit dem Löffel dir gereichet,
Wenn auch einmal nur im Sommer
Seit dem Winter du bekommen!

Den schönen Schluß der Lehren bildet aber die Mahnung, die eigene Mutter nicht zu vergessen.


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