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Es stand ernster beim Doppelkonsul, als man dachte. Er hatte es gar nicht zu vertuschen versucht, daß die Fia unversichert untergegangen war; in seiner ersten Bestürzung hatte er es im Gegenteil laut ausgerufen. Jetzt meldeten sich die Folgen davon; er und sein Erster Ladendiener Berntsen hatten genug zu tun, um erschreckte Gläubiger fernzuhalten. Sie berieten sich miteinander, sie handelten und wandelten, der Konsul hatte sogar das Dampfschiff noch telegraphisch versichert, als es schon untergegangen war; aber das hatte er auf eigene Faust getan, und Berntsen hatte augenblicklich und ebenfalls auf eigene Faust diesen tollen Einfall rückgängig gemacht. Berntsen war eine Perle.
Aber die Perle Berntsen war doch auch ein Mensch. Mitten in der großen Aufregung in der Stadt hielt er seinen Kopf klar und dachte menschlich auch an sich selbst.
Seht, da stehen die Leute in kleinen Haufen vor den Häusern und sprechen von der Katastrophe: jetzt sei der Doppelkonsul bankerott, er, der noch niemals ohne Hilfsquellen gewesen war, er, der jederzeit Geld genug für alles gehabt hatte, der Mittelpunkt in dem Wohl und Wehe der ganzen Stadt, der nach rechts und links austeilte, der das große Haus mit Veranda und Altan besaß – nun sei er bankerott. Was wußten die Leute davon? Alle wußten es. War nicht gestern ein Herr aus Christiania gekommen, um sein Geld zu verlangen! War nicht heute ein anderer Herr aus Hamburg angekommen, um sein Geld zu verlangen! Und würde nicht ein dritter und vierter daherkommen, würde nicht jeden Tag einer daherkommen! Die Leute verstanden gut, daß dies den Untergang bedeutete.
Das wirkte nach allen Seiten hin, es zerrte an allen Gliedern der Stadt, der Doktor merkte es in seiner Praxis, die Werft stand still. Henriksen auf der Werft verlor den Kopf und sagte: Geht heim, Leute, ich kann nicht mehr!
Und nun, da die Stadt in Krämpfen lag, war es wohl Zeit, daß der Mensch zum Nachdenken kam und sich bekehrte. Die Menschen waren vor mehreren Jahren bei einem gewissen Postdiebstahl ernstlich gewarnt worden; aber darum hatten sie sich nicht mehr gekümmert als um ein Kalb mit zwei Köpfen, die Menschen waren auch weiterhin geblieben, wie sie waren.
Aber jetzt? Sollte wirklich nicht einmal eine solche Erschütterung, ein Erdbeben, wie der Bankerott des Doppelkonsuls, imstande sein, die Menschen zu erwecken? Wie waren denn diese Leute beschaffen? In der Tageszeitung des Orts stand jetzt ein Aufruf an das Volk, fromm zu werden, und die Weiber am Brunnen verhandelten dieses Programm eifrig; bald war es in jeder Stube in der Stadt bekannt geworden, aber die Leute änderten sich offenbar nicht, es war von Tag zu Tag nicht die Spur von Veränderung an ihnen wahrzunehmen, im Gegenteil, war eine solche da, so schien sie eher zum Schlimmen zu sein. Allerdings kam ja wahrhaftig mit demselben Küstendampfer, der den Herrn aus Hamburg brachte, auch ein anderer Gast in die Stadt, eine alte Dame, eine von früher bekannte Persönlichkeit, die Tanzlehrerin! Die Welt war leider verrückt. Gerade jetzt, da die Leute fromm sein und vor lauter Gottesfurcht nicht wiederzuerkennen sein sollten, kam die Tanzlehrerin wieder, um in einer neuen Generation zu wirken. Und die Menschen blieben, wie sie waren.
Aber was ist mit Berntsen? O ja, Berntsen schließt seinen Kramladen wie sonst auch und geht mit seinem gewöhnlichen Schritt an dem einen Haufen Leute, die vor den Häusern stehen, nach dem andern vorbei und sieht auch nicht eine Spur niedergedrückt aus. So soll auch der Mann auftreten, der Geschäftsführer bei einem bankerotten Chef ist, er soll das Beste seines Herrn im Auge haben und aussehen, als ob er ein gutes Geschäft in Aussicht hätte. Daneben kann er dann auch menschlich an sich selbst denken.
Berntsen geht an diesem Abend nicht geradeswegs heim in sein Mansardenzimmer, o, weit entfernt, er geht ohne weiteres nach dem großen Hause von C. A. Johnsen und bittet Fräulein Fia um eine Unterredung. Er wußte wohl, daß der Konsul nicht da war, der Konsul ging lieber anderswo hin, als nach Hause, wenn ihn etwas bedrückte. Aus der Stube drangen fremde Stimmen, Alice Heiberg war da, Konstanze von der Werft war da, auch Fräulein Olsen und sogar die Tochter des Postmeisters, die im Modegeschäft angestellt war, sie alle waren wohl gekommen, damit Fräulein Fia mit ihrem Kummer nicht ganz allein sein sollte.
Nun, Fräulein Fia, die Komtesse, konnte eins ausgezeichnet gut zeigen: wenn sie Kummer hatte, so hatte sie auch die Bildung, ihn zu tragen; im Augenblick erzählt sie den Damen ein indisches Märchen, das sie gelesen habe und das sie nun illustrieren wolle.
Sie ließ Berntsen in das kleine Zimmer im Erdgeschoß, das Kabinett genannt, führen und setzte sich zu ihm, um sein Anliegen anzuhören. Seht, Berntsen hatte ja in den letzten Tagen mehr als genug mit dem Konsul selbst geredet, und zu Frau Johnsen, die sich in den Zeiten des Glücks nie um Berntsen gekümmert hatte, wollte er nicht gehen. Da blieb niemand anders übrig als Fräulein Fia. Ja, so war es wohl, was hätte es sonst sein können? Nun saß er da vor ihr und stellte ihr gewiß nur die ganze Lage dar, die schwere Klemme, in der sich das Geschäft befand, den Ruin; was hätte er ihr sonst vortragen sollen? Übrigens dauerte es nicht lange, nicht viele Minuten, und als Berntsen das Haus verließ und Fräulein Fia wieder zu den andern ins Zimmer trat, war ihr Gesicht ebenso ruhig und unbewegt wie sonst. Die jungen Damen sahen sie betrübt an. Berntsen war ohne Zweifel mit einer neuen Unglücksbotschaft gekommen, mit was denn sonst? Aber Fia bewies Seelenstärke.
Ja, jetzt bewies Fia in hohem Grade Seelenstärke. Es ärgerte sie wohl, daß alle diese jungen Mädchen, die so weit unter ihr standen, sich ein so aufdringliches Mitleid ihr gegenüber erlaubten, sie lächelte über sie, ja, das tat sie.
Als die jungen Mädchen das sahen, lächelten sie auch und freuten sich. Gute Nachrichten? fragten sie.
Ja, was denkt ihr wohl? Er hat mir einen Antrag gemacht.
Eine stumme Minute.
Wer? Berntsen?
Fia nickte überlegen lächelnd. Ja, meines Vaters Ladendiener, sagte sie.
In der darauffolgenden Minute konnte sich keines der Anwesenden fassen. Alice Heiberg wollte gern fein sein, obgleich sie nicht reich war, und so sagte sie: Die Diener werden frech in diesen Zeiten.
Und Fia erwiderte darauf: Ja, man muß sich viel bieten lassen.
Aber so vielem Komtessewesen gegenüber konnte sich Fräulein Olsen nicht enthalten, recht nachdenklich zu werden; auch in der Seelenstärke muß man Maß halten. Da saß nun Fia Johnsen, ihr Vater hatte sein Landhaus verkaufen müssen, es ging ihm schlecht, es war vielleicht von dem Ladendiener gar nicht so unglaublich gehandelt, wenn er in diesem Augenblick mit Herz und Hand einspringen wollte.
Was hast du geantwortet? fragte Fräulein Olsen.
Aber Fia sah sie nur mit hoch hinaufgezogenen Augenbrauen an und schwieg.
Ich weiß nicht, ob es so ganz unverschämt war, Fia. Berntsen ist nicht so sehr viel älter als du, er bekommt wohl einmal sein eigenes Geschäft und hat auch gar kein so häßliches Äußere.
Fräulein Olsen stellte es verlockend hin, es war, wie wenn sie nichts dagegen hätte, wenn Fia Johnsen eine weniger glänzende Partie machte. Aber Fia konnte sie nur wieder ansehen, diese Grütze-Olsens, ja, sie waren wirklich etwas für sich. Und gewiß, Fräulein Olsen war nicht überfein und gewählt und gertenschlank, nein, sie konnte nicht Bilder kopieren und war gewiß auch nicht ganz fest im Rechtschreiben, auch hatte sie keine indischen Märchen gelesen; aber Fräulein Olsen hatte ihre gesunden fünf Sinne, sie dachte wahrscheinlich, jetzt wäre es wohl auch Zeit, daß Fia Johnsen sich verheiratete. Sie sagte: Dir steckt vielleicht ein anderer im Kopf, Fia; denn sonst sähe ich nicht ein, warum der arme Berntsen zu weit gegangen sein sollte.
Da hatte sie es, und gerade ins Gesicht!
Aber hör einmal! sagte Alice Heiberg zurechtweisend.
Ich müßte wirklich sehr in Not sein, sagte Fia.
Nun, dann sage ich noch einmal: du mußt einen andern im Hintergrund haben.
Jetzt antwortete die Komtesse wahrhaftig ein bißchen ärgerlicher, als sie zu sein pflegte: Ich habe zehn andere, wenn ich will.
Eine stumme Minute. Die vier jungen Damen dachten wahrscheinlich, das sei ein kühner Ausspruch, und Fräulein Olsen sagte: Ja, wenn es so ist, dann –
Jawohl, es ist so, versetzte Fia und nickte dazu. Wenn ich aber auch nicht einen einzigen anderen hätte, würde ich Berntsen doch nicht nehmen. Wenn ich keinen einzigen andern hätte, würde ich doch keinen von hier aus der Stadt nehmen.
So? sagte Fräulein Olsen, und sie kniff ihre etwas üppigen Lippen fest zusammen. Seht, sie hatte einen Sperling in der Hand, und der war aus der Stadt hier, aber er konnte bei Gelegenheit gut genug sein, oho, es war nicht ausgeschlossen, daß die Stadt einmal für ihn flaggen würde. Aber Fräulein Olsen hatte wohl in diesem Augenblick ein eifersüchtiges Gefühl, als ob ihr Vogel zuerst um Fia Johnsen gekreist habe, ehe er zu ihr geflogen war – ach, was mußte sie nicht alles ertragen!
Ich bin doch wirklich ein wenig in der Welt draußen gewesen und habe da verschiedenes gesehen und gehört, sagt Fia. Meine Kunst ist es hauptsächlich, für die ich mich interessiere, und Künstler sind mein Umgang, nicht die Herren hier von der Stadt.
Na, das war nun etwas zu stark für Alice Heiberg, sie hatte selbst einen hier in der Stadt, Reinert, den Sohn des Küsters; der war freilich noch sehr jung, aber was hatte er für schöne Locken und was für ein flottes Auftreten! Welch ein Kurmacher! Sie hatte sich wahrlich während der letzten Ferien in den frischen Studenten tüchtig verschossen.
Fia wiegte nachdenklich den Kopf hin und her und murmelte: Himmel, die Künstler würden mich schön auslachen!
Darauf versetzte Fräulein Olsen: Meinst du, wenn du Berntsen nähmest? Mein Schwager würde dich jedenfalls deshalb nicht auslachen.
So? fragte Fia neugierig; jetzt wurde sie lebhaft. Fräulein Olsens Schwager war nicht der erste beste, sondern ein Künstler, dessen Name immer bekannter wurde, er war ein aufgehender Stern. Sie fragte, was er denn gesagt haben könne? Was er gemeint habe, ob sie etwa nicht gut male?
Er sagte, du seist viel zu wählerisch, und du könnest nicht lieben und nicht über die Stränge schlagen, das sagte er. Ich weiß nicht, was er damit meinte, aber es sei so deine Natur, sagte er, du werdest dich gewiß nicht verheiraten.
Fia überhörte das ungebildete Gerede und fragte nur: Aber was sagte er über meine Bilder?
Das weiß ich nicht mehr. Ich glaube, er sagte, es sei keine Glut darin.
Was sei nicht darin?
Glut. Ach, ich weiß es nicht mehr so genau. Aber du seist ein kalter Mensch, und das meinten alle die andern Künstler auch, sagte er.
Arme Fia, jetzt versinkt sie in Gedanken und schweigt eine gute Weile. Dies zu hören tat nicht gut, sie wurde sehr zahm.
Er hat meine letzten Kopien aus dem Louvre nicht gesehen, sagte sie dann, die haben Glut, ich glaube, das kann ich mit Recht sagen. Er hat übrigens auch die Illustrationen nicht gesehen, die ich für das indische Märchen machen will. Ich glaube, die werden jedermann die Augen öffnen, wer es auch immer sei.
Als die Besuche gegangen waren, suchte Fia ihre Mutter auf, zum erstenmal wirklich beunruhigt, beunruhigt bis in die Tiefe ihrer Seele. Die Mutter war ja, müde von des Tages Last und Bürde, schon zu Bett gegangen, und die Tochter würde sie sicherlich nicht aufmuntern, nein! Warum ging nur Fia gerade jetzt zu ihr?
Sie trat natürlich nett und gebildet ein, fragte, ob sie nicht störe, ob sie nicht lieber wieder gehen solle, es sei nur – im Grunde genommen sei es nichts.
Was ist es denn, Fia?
Ach, du hast es selbst nicht leicht, es ist nichts, es ist besser, es hat Zeit bis später einmal. Aber nicht wahr, Mama, ich bin doch eine Künstlerin, und ich lasse mich von ein wenig Kritik nicht unterkriegen?
Was redest du da, Kind, du hast doch nur gute Kritiken bekommen.
Nicht wahr? Ja, ich werde es ihnen zeigen. Du sollst sehen, womit ich morgen anfange, es wird das beste von allem, was ich seither gemacht habe.
Ist Berntsen hier gewesen?
Ja, weißt du, was er wollte?
Ich glaube, ich kann es erraten.
Nein, das kannst du nicht. Er hat mir einen Antrag gemacht.
Zu Fias großer Verwunderung richtete sich die Mutter nicht jählings im Bett auf und verlangte, daß der Erste Ladendiener Berntsen sofort entlassen werde, nein, sie blieb ruhig liegen, und es hatte den Anschein, als müsse sie sich irgend etwas reiflich überlegen.
Du weißt doch, daß dein Vater das Landhaus verkauft hat? sagte sie dann.
Welches Landhaus? Fia wußte nichts; das wäre ja unerhört, am liebsten hätte sie sofort den ganzen Handel rückgängig gemacht. Unser Landhaus verkauft!
Ja, an Grütze-Olsens.
Nun sank Fia auf das Bett der Mutter nieder. Deshalb also waren die vier jungen Mädchen an diesem Abend bei ihr gewesen. Diese Tochter vom Grütze-Olsen hatte ein Gefolge mitgenommen, damit es Zeuge ihres Triumphes sein sollte. Hätte Fia jetzt ihre Kunst nicht gehabt, dann wäre sie bankrott gewesen, so aber war sie reich.
Dein Vater und ich haben darüber gesprochen, sagte die Mutter, Berntsen hat es uns geraten, wir stimmten ganz miteinander überein, daß jedenfalls du etwas haben sollst, auf das du jederzeit zurückgreifen kannst.
Ich? sagte Fia. Ich habe meine Kunst.
Mutter und Tochter berieten sich darüber. O, Frau Konsul Johnsen war offenbar nachdenklich geworden, vielleicht durchschaute sie auch das Vorgehen des Ersten Ladendieners Berntsen, sie konnte im ganzen genommen jetzt auch Leute in der Stadt, die unter ihr standen, besser verstehen. Und nun Berntsen? Er hatte getan, was ihr eigener Mann, der Konsul, einstmals getan hatte, und was so viele Männer taten. Wir leben im Zeitalter der Menschen.
Mutter und Tochter besprachen die Sache wieder und wieder, aber Fia dachte wahrscheinlich nur an ihre eigene Angelegenheit und hielt sich nicht streng auf der Erde. Die Künstler meinten, sie sei eine kalte Natur, war das der Dank für alle Hilfe, die sie ihnen hatte angedeihen lassen? Nicht wahr, Mama, ich habe ihnen doch geholfen?
Jawohl. Aber das hat nun ein Ende. Grütze-Olsens, Konsul Olsens, sind jetzt reicher als wir.
Aber sie haben keine Kultur, wendete Fia tröstend ein.
Nein, aber sie sind sehr reich. Bedenke, sie haben jetzt sogar Fingerschalen aus echtem Kristall!
Mutter und Tochter lächelten und wurden im ganzen etwas frischer. Selbst Frau Johnsen, die da mit ihrem gelben Gesicht und ihrem Kummer und Unglück in ihrem Bette lag, sagte: Ja, ja, nun müssen wir eben warten, bis Scheldrup heimkommt, er weiß vielleicht einen Ausweg.
Gewiß, gewiß, Mama. Hab keine Angst! Siehst du, die Künstler haben gar nicht soviel auszusetzen gehabt. Sie meinten nur, ich hätte keine innere Glut, das ist alles. Aber das werde ich ihnen schon beweisen, verlaß dich darauf. O, sie sollen es sehen!
Und sie sprach noch weiter über diesen Punkt.
Da saß Fräulein Fia! Sie war nun nicht mehr ganz jung. Ihre Gesichtsfarbe, die einst wie Pfirsichblüten schimmerte, war nicht mehr frisch, sie war überreif, die junge Dame hatte allmählich etwas Verblühtes bekommen. Sie hatte alle ihre Jahre dahingelebt ohne eigentlichen Erfolg, aber auch ohne Mißerfolg, nichts war imstande gewesen, ihren Sinn zu ändern, sie war unzugänglich und entzückend selbstbewußt. Daß sie nicht auf Abwege geraten war, kam nur daher, daß sie sich überhaupt nicht auf unbekannte Wege einließ. Warum sollte sie solche aufsuchen? Sie war ja so sittsam und beschränkt. Ihre Liebe und ihr Mutterberuf fanden ihre Betätigung im Bildermalen, die ganze Zeit über hatte es nicht an den Mitteln gefehlt, sich dieser Beschäftigung hinzugeben; sie malte weder aus innerer noch aus äußerer Notwendigkeit, aber sie malte. Niemand hatte jemals gesehen, daß sie über sich selbst unglücklich gewesen wäre; sie machte keine Fehler, tat niemand etwas zuleide, war nicht verschwenderisch, drückte sich im Gespräch mit andern gut aus, verneigte sich hübsch. Eines Tages hätte sie gut den Himmel über sich und die Erde unter sich fragen können: Bin ich jemand? Bin ich etwas? O ja, das hätte sie gut fragen können.
Fräulein Fia – vielleicht konnte sie das Gewicht ihrer eigenen Vorzüge nicht ertragen, vielleicht waren sie eine Bürde auf ihrem Wege. Es ist nicht gut, wenn der Mensch ganz ohne Drangsale und ganz ohne Reue über sich selbst ist.
Ich ein kalter Mensch? sagte sie und stand vom Bett ihrer Mutter auf. Und dann soll ich nicht über die Stränge schlagen können?
Mutter und Tochter waren nun beide in guter Laune und konnten scherzen. Die Mutter setzte sich im Bett auf und lächelte bisweilen, beide hatten dasselbe Temperament und waren gleich herzlich gern bereit, trübe Erinnerungen der Vergessenheit anheimzugeben.
Fia mimte jetzt ausgelassene Laune; hoho, sie stieß nach hinten ein wenig mit dem Fuß aus, wie wenn sie so recht unternehmend aufgelegt wäre, o, gar nicht so wenig, und sie stieß auch mit dem Ellbogen gerade so, wie wenn sie jemand neben sich, in den sie verliebt wäre, ein wenig in die Seite stieße. Es war gar nicht schlecht nachgemacht. Sie hob ihre Röcke mit den Fingern auf, so daß ihre weißen Hosen gut sichtbar wurden; sie waren fein und tadellos, voller Spitzen und Schleifen, geradezu paradiesisch, nun kamen sie ans Tageslicht, und Fia streckte das linke Bein in die Luft. Dabei sah sie wirklich äußerst hoffnungsvoll aus, als ob sie mit der Zeit die Künstler recht wohl mit Ausschweifungen überraschen könnte. Hoho! sagte sie wieder. Jawohl, denn in Wirklichkeit sei sie ja ein desperates und ein liederliches Frauenzimmer, nicht wahr, die würden es schon sehen! Als sie das Bein zum drittenmal in die Luft gestreckt hatte – war das nun nicht sehr, sehr viel? Hatte sie noch nicht genug getan? Es fehlte ja nur noch, daß sie wieherte.
O, das Ganze war sicherlich höchst anständig und unschuldig, aber es war eine betrübliche Vorstellung, und dieses Hin- und Herschwenken der alten Jungfer hätte ein Ofenrohr zum Lachen bringen können.
Und wo ist Berntsen? fragte sie plötzlich. Ist er fortgegangen? Was meinst du, Mama, warum auch nicht, ich bin jetzt zu allem aufgelegt. Er steht vielleicht noch drunten vor dem Hause, soll ich ihn wieder heraufholen? –
Dieses Opfer wurde indes nicht von Fia verlangt, sie hätte sich dieses großmütige Anerbieten sparen können, das Schicksal richtete es so ein, daß sie ihr bisheriges Leben fortsetzen konnte, ihr sittsames, mit viel Schönem geschmücktes Leben, genau wie vorher, warum hätte sie es da ändern sollen?
In der Stadt traf nämlich ein Mann ein, der brachte alle Geschäftsangelegenheiten in Ordnung, rettete die Firma, setzte die Familienglieder wieder auf ihren rechten Platz, stillte die Krämpfe der Stadt. –
Scheldrup Johnsen kam heim.
Brachte er alle Geschäftsangelegenheiten in Ordnung? Einige brachte er in Ordnung. Ach, das konnte nicht vermieden werden. Die Menschen puffen sich gegenseitig aus dem Wege und schreiten übereinander weg, einige fallen zu Boden und dienen andern als Brücke, einige gehen unter, das sind die, die die wenigsten Püffe aushalten können, und sie gehen unter. Aber die andern blühen und gedeihen. So ist die Unsterblichkeit des Lebens beschaffen. Seht, all dies wußten die Weiber am Brunnen!
Als Scheldrup Johnsen von Neu-Orleans dahergereist kam, schien er nicht sehr weichherzig und sanftmütig aufgelegt zu sein. Dem Ersten Ladendiener Berntsen gab er zwar kein böses Wort, aber der Vater mußte ihm Rede stehen.
Der Konsul begriff nicht, warum er dafür büßen sollte, hatte man je so etwas gehört, sollte er obendrein noch Vorwürfe bekommen? Er hatte ja Berntsen ausdrücklich gebeten, die Versicherung nicht zu vergessen.
Aber woran hattest du denn selbst zu denken? versetzte Scheldrup.
Es verlohnte sich wahrlich nicht, sich mit einem so dummen Sohn auf Erörterungen einzulassen, mit einem so eigensinnigen, modernen Sohn, er kam aus einer andern Welt. Sterling, sagte er; Dollars, sagte er. Er durchstöberte die Bücher des Vaters, als ob es sich nur darum handelte, Fehler darin zu finden, er war nichts als Geschäft. Hatte der Konsul etwa nicht viel, woran er denken mußte, ragte er nicht in der Stadt empor wie ein Turm und war neben vielem andern noch Konsul von zwei Ländern, mußte er nicht seine Berichte zur rechten Zeit einreichen?
Aber jegliche Verteidigung war vergeblich, der Konsul wurde bei dem Zusammenstoß mit dem Sohne kleiner und immer kleiner, er ließ durchblicken, daß er das Geschäft verkaufen wolle. Er habe Fias Zukunft schon gesichert und das Landhaus verkauft, ihm selbst und seiner Frau könne es gehen, wie es wolle, er würde wohl einige Agenturen bekommen, eine Versicherungsagentur –
Da spielte ein breites Lächeln um Scheldrups Mund, und das sah der Vater. Er fühlte sich in seiner Würde gekränkt und wiederholte, er werde das Geschäft verkaufen, um alles zu bezahlen und ein ehrenhafter Mann zu sein.
Scheldrup erwiderte: Wir verkaufen nicht.
Doch, sagte der Vater und ging noch weiter in der Selbstaufgabe. Und ich gebe auch meine Konsulate auf, das steht fest.
Keine Spur! versetzte Scheldrup bestimmt. Wir haben nicht so sehr viele wertvolle Aktiva, sagte er. Im übrigen habe er jetzt die Bücher durchgegangen, sie seien da und dort etwas oberflächlich geführt, und das sei ein Fehler; Zahlen seien nichts Ungefähres, Zahlen seien etwas Ernstes, etwas Strenges. Treibe keinen Scherz mit Zahlen! Aber die Lage ist nicht einmal so schlecht, Vater; das wäre noch schöner, wenn wir den Kopf verlieren würden. Laß die herumreisenden Herren aus Christiania und Hamburg und Göteborg und Havre nur künftig zu mir kommen! sagte er.
Was sagst du da?
Aber unter einer Bedingung: daß du dich ausruhst, Vater.
Endlich brachen sich nun also seine kindlichen Gefühle Bahn; der Vater brauchte Ruhe, das verstand er. Und der Vater hatte durchaus nichts dagegen, sich auszuruhen, er hatte allzuvielem vorstehen müssen, sein Haar war gelichtet, seine Augen ohne Glanz, seine Tage ohne Frieden, die Nächte ohne Freude. Aber ich kann doch nicht die ganze Zeit über gar nichts tun, sagte er.
Doch Scheldrup verkündigte: Ich will die Führung haben, du sollst ausruhen.
Gleich zu Anfang ging Scheldrup mit den Menschen und den Dingen recht rücksichtslos um; er kündigte Oliver Andersen im Lagerhaus, er zog die jährliche Unterstützung und den jährlichen Anzug für den Philologen Frank, Olivers Sohn, ein, er verabschiedete den alten ererbten Holzhacker, der um Ehre und silberne Löffelprämien schon in Frau Johnsens Kinderheimat gedient hatte, und er hob auch eine gewisse Verbindung mit Henriksens auf der Werft auf.
Wieder standen die Leute in Haufen vor den Häusern und teilten sich gegenseitig ihre Ansichten über diesen Zustand mit: darüber konnte kein Zweifel herrschen, der Konsul war gestürzt und Scheldrup hatte die Leitung des ganzen Geschäfts übernommen, das sah man an den Wirkungen ringsum, jawohl, an guten und bösen Wirkungen, und alle wurden am Brunnen erörtert.
O, wie die Mühlen liefen! Frau Konsul Johnsen hatte sich jetzt einen ganz kleinen Hut angeschafft. Früher trug sie immer einen großen Hut mit einem weißen Rand, der auf und ab wogte, wenn sie ging, fast wie wenn er Scharniere hätte. Aber jetzt hatte sie einen Hut, der einigermaßen dem ähnlich war, den die kleine Frau Konsul Davidsen trug und der nicht viel kostete. Da hatte wohl Scheldrup eingegriffen, wo griff der nicht ein? Die geheimnisvolle Sache auf der Werft brachte er auch in Ordnung. Seht, es war da wohl eine kleine Übereinkunft, die die verstorbene Frau Henriksen und der Konsul seinerzeit, vor sehr langer Zeit miteinander getroffen hatten, damals, als Frau Henriksen noch frisch und lebendig auf Erden wandelte und nur ganz wenig über dreißig Jahre alt war. Ja, so war es wohl. Aber jetzt stand die Werft still. Dies war das schlimmste von allen Vorkommnissen, die Werft stand still, Kaspar und alle die anderen Arbeiter da draußen waren nun arbeitslos und hatten nichts anderes zu tun, als ihre Frauen voreinander zu hüten.
Scheldrup griff ein. Als die von den Gläubigern geschickten fremden Abgesandten kamen, wurden sie in sein Kontor gewiesen, wo er ganz allein saß; die Herren von Göteborg und Havre blieben nicht lange bei ihm, er brachte die Sache mit ihnen in Ordnung, komplimentierte sie zur Tür hinaus und setzte sich wieder. Was hatte er gesagt, um sie zufriedenzustellen? O, nicht, was er sagte, sondern was er tat, machte den Herren einen unvergeßlichen Eindruck: er schrieb ihnen Wechsel für ihre Forderungen. Bitte – ein Wunder nach dem andern! Das Dampfschiff Fia war im Geschäft wohl mit zweihunderttausend Kronen gebucht; wo nahm nun der Herr Scheldrup diese Million her, um den Verlust des Schiffes auszugleichen? Er mußte da draußen in der großen Welt ganz verteufelte Verbindungen haben!
Und Scheldrup griff weiter ein. Es kam an den Tag, daß der gute Scheldrup gar nicht nur allein Geschäft war – wieso denn? Sein Herz konnte wahrhaftig mit ihm durchgehen! Eines Tages wanderte er um die Mittagszeit zu Grütze-Olsens, um seinen Antrittsbesuch zu machen, und dann ging er von dort weg – als Bräutigam. Hatte er da nicht eingegriffen? Es geschah so selbstverständlich, weder Scheldrup noch Fräulein Olsen sahen nach rechts oder links, sondern machten die Sache auf der Stelle ab. Die Dame bat nicht einmal darum, nobel behandelt zu werden, das Ganze war der Schlußstein einer Kinderliebe, beide erreichten, was sie wollten, beiden war es Bedürfnis. Es war gerade in den Tagen, als Rechtsanwalt Fredriksen seine arbeitsvollen Wahlversammlungen hielt, da hatte er keine Gelegenheit, sich auf andern Schlachtfeldern einzufinden, um eine endgültige Auseinandersetzung zu verhindern, nun mochte es gehen, wie es wollte! Jawohl, gewählt wurde er ja – an der einen Stelle. Aber er wurde an einer andern verworfen. Wohl noch niemals hatte sich Rechtsanwalt Fredriksen so verrechnet: die wichtigste Wahl schlug fehl. Eine politische Niederlage hätte er ertragen können – bis zum nächsten Mal; aber Fräulein Olsens Entscheidung war ein Verlust für sein ganzes Leben. Nachher half alles nichts mehr, nicht nach ihrem Arme greifen, nicht mit einer Donnerstimme reden! Was hätte da noch helfen können?
Eine Zeitlang war er sehr schweigsam, wohl eine Woche lang. O, Rechtsanwalt Fredriksen war keineswegs verloren, seine Lebensfähigkeit war außerordentlich groß, er wollte vorwärts; aus dem Wege da! Er strebte nicht nach der großen Gewalt, er strebte nach der Hoheit und der Ehre eines Politikers im Landtag, er strebte nach Vermögen, nach Kleinstadtreichtum, dazu war er geschaffen. Und sollte er solche bescheidene Ziele nicht erreichen? Er ist ja schon viel, ist der Bürgermeister seiner Stadt, ist Landtagsabgeordneter, der Vorsitzende einer endlosen Kommission, in einiger Zeit ist er Justizminister! Was für ein Lebenslauf! Wer hätte so groß von ihm gedacht noch vor einigen Jahren, wo er abgeschabt und arbeitslos war, wo er sich keine Zigarren leisten konnte, ja, wo er sich schließlich sogar beim Barbier Holte auf Kredit rasieren lassen mußte. Ich habe vergessen, Kleingeld mitzunehmen, schreiben Sie's auf – bis zum nächsten Mal!
Fräulein Olsen hat ihm einen niederträchtigen Streich gespielt, aber er kann ihn überwinden. Rechtsanwalt Fredriksen wird so etwas immer überwinden, er wird sich noch an weiteren Kommissionen beteiligen, er wird eine reiche Frau bekommen, er wird von jetzt an den Barbier Holte jedesmal gleich bezahlen. Als Justizminister wird er in seinem Bureau das tun, was getan werden muß, mehr ist nicht nötig, mehr wird nicht erwartet. Einer seiner früheren Gefährten von den Bänken des Landtags wird ihn dies und jenes fragen, auf die eine oder andere administrative Aufgabe hinweisen, jawohl, der Justizminister verspricht, seine Aufmerksamkeit auf diese Sache zu richten, und der Abgeordnete dankt ihm dafür.
O, der Justizminister ist ein tüchtiger Mann, er wird seine Aufmerksamkeit immer auf etwas gerichtet haben, daran fehlt's nicht, er ist ein Mann, der vorwärts treibt, ist ein Führer, auf seinem Bureau werden große und kleine Geschäfte erledigt. Wer etwa fürchtet, Staatsrat Fredriksen werde etwas Ungewöhnliches tun, der kennt ihn nicht, er wird genau das tun, was notwendig ist, dazu ist er geschaffen. Er ist eines der Räder in der Maschine des Staates geworden, wenn die andern Räder sich im Kreise drehen, dreht er sich mit. Er ist auf schwache Auswechslung eingesetzt, er soll sich nicht schnell im Kreise drehen, er soll nur nicht stehen bleiben.
Er wird vermißt werden, wenn er stirbt.